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WIE MAN LERNT ZU DENKEN
ZUM TOD VON NIKLAS LUHMANN
von DIETMAR KESTEN, Gelsenkirchen

 

NIKLAS LUHMANN verstarb jetzt mit 71 Jahren in Münster.  Als er 1969, dem Jahr seiner Aufnahme in die Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld, gefragt wurde, wie er denn sein künftiges Forschungsprojekt benennen würde, meinte er: "Die Theorie der Gesellschaft, Laufzeit 30 Jahre, Kosten: keine". (1) Seit dieser Zeit hat er Soziologie in Deutschland entscheidend mitbestimmt, wenn nicht sogar geprägt.

Besteht eine Gesellschaft aus Menschen, oder vielleicht nur aus Individuen, besteht sie aus Menschenidealen, aus Menschenmengen, den Ideen der Menschen, was ist eine Gesellschaft, ist der Mensch in dieser tatsächlich nur "das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse", wie MARX formulierte (2), wie wirkt sie in den Epochen nach, worauf zielt sie ab?

So könnte man vielleicht LUHMANNs Ansatz bezeichnen, den er in über 40 Büchern publizierte. Doch halt: ist das LUHMANNs Analyse, gipfelt sie nur in unserer bloßen Vorstellung, daß Gesellschaft immer mit der uns unmittelbar umgebenden Umwelt des jeweiligen Systems zu tun hat, in denen Ideen wirken/einwirken, oder sind die Menschen vom System der Gesellschaft selbst zu absorbieren und stehen außen vor? 

Mit derartigen Provokationen - so LUHMANN - lernt man komplex zu denken; denn wir sollten unseren Augen, dem Augenblick des Seins und Scheins nicht trauen!

MARX hatte in der "Deutschen Ideologie" noch ganz unverblümt erklärt, daß die Gesellschaft nur aus den objektiven Gesetzen ihrer Entwicklung zu verstehen sei, und er zielte damit auf die Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse ab (auf ökonomische Kategorien), und daß diese sich im politischen und ideologischen Überbau niederschlagen. Die Produktion des Lebens innerhalb dieser gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklung verstand er nur aus dem Zusammenhang des Zusammenwirkens der Individuen heraus, und spitzte seine Auffassung dahingehend zu, daß "die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und sie (mir) dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun". (3)

Nicht auszuschließen ist es, daß es genau diese Art von Platidüden MARXens über gesellschaftliche Zusammenhänge waren, die LUHMANN zu folgender Äußerung veranlaßte: "Seit den Klassikern, seit etwa 100 Jahren also, hat die Soziologie in der Gesellschaftstheorie keinen nennenswerten Fortschritt gemacht." (4)

Und in der Tat scheint es so zu sein, denn weder MAX WEBER, HELMUT SCHELSKY, der Amerikaner DAVID RIESMAN, GEORG SIMMEL u. a., haben entscheidend dazu beigetragen, eine ordnende Schneise der Differenzierung(en) in die Vielfalt der sozialen Systeme, der Wirtschaft, der Politik, des Rechtswesens, der Philosophien, (5) zu bringen, die zudem noch durch eine mehr und mehr chaotische Welt für den Laien immer schwerer zu durchschauen sind. 

LUHMANNS Ansatz, wenn von TALCOT PARSONS "Theorie der Handlungssysteme," die viel für sich hat, einmal abgesehen wird, ist anderen schon deshalb so überlegen, weil er die eigenen Strukturen des jeweiligen Systems zu beschreiben versucht. Und anders als MARX, ging LUHMANN den Schritt, zu behaupten, daß sich Systeme selbst definieren, durch Differenzen, durch Unterschiede.

Menschen nur als einfache "Träger der gesellschaftlichen Verhältnisse" zu bezeichnen (6) die "gleichförmig" und damit angepaßt den "Grad ihrer Entwicklung" durchlaufen, das war für LUHMANN zu einfach, zwar respektabel, aber auch außerordentlich fragwürdig; denn die Metapher des Zusammenhangs kann nicht die naive Wahrnehmung sein, die Sichtweise, starrend auf den "Grad der Vergesellschaftung" oder auf die konstituierenden Verhältnisse, die ein spezifisches Sein (bei MARX: gesellschaftliches Sein) hervorbringen. (7)

Der Dualismus gesellschaftliches Sein - Bewußtsein zeichnet zwar eine komplexe Verknotung von gesellschaftlichen Verhältnissen nach, doch MARX befand sich in jener historischen Situation schon in der Verspätung gegenüber der beginnenden lobalisierung von gesellschaftlichen Systemen in der Gegenwart, der Vergangengheit und der Zukunft. Der radikale Bruch bei LUHMANN: gesellschaftliche Systeme können nicht in Identitäten (vgl. Gegensatzpaar bei MARX) "gedacht" werden, sondern nur mittels Unterschieden. Systeme werden in Unterschieden von seinen Umwelten bestimmt, die erst in diesem Prozeß zu Umwelten werden können. Bildlich verdeutlicht: eine doppeltes Automatenbild mit einem weißen Streifen in der Mitte: mal sieht man das eine Gesicht,mal das andere, das Bild wird in der Hand gedreht, in der Mitte ist der weiße Streifen horizontal und vertikal zu sehen; die eine Seite definiert die andere. Beide Seiten existier nur DURCH einander, durch ihre Differenzen. 

Systeme gibt es niemals als seien sie für sich, seiende Angelegenheiten, sie sind zwar relativ geschlossen, wie in unserem Beispiel, aber sie müssen auch durchlässig sein für Material, das aus den Umwelten kommt. Das, was den Systemen aus den Umwelten heraus zukommt, werden durch sie in eigene Bestandteile "verwandelt", und es ist interessant zu sehen, daß LUHMANN auf gängige Schablonen wie Dialektik oder Materialismus verzichtet, um seine Soziologie zu erklären. War diese vielleicht belächelte und oftmals geschmähte Disziplin gesellschaftswissenschaftlich betrachtet, nie auf der Höhe der Zeit, bar jedweder umfassender Erklärungen für eine Umwelt-System-Gesellschafts-Theorie, die bei MARX im System der materialistischen Geschichtsauffassung noch der Garant war, um gesellschaftliche Verhältnisse, unter denen die Menschen leben und existieren, zu erklären: so besteht der Unterschied LUHMANNs zu MARX darin, daß ersterer das Grobdesign der Gesellschaft aus einer gegliederten, strukturierten Zeit heraus erklärt.

Das verweist darauf, daß bei ihm das "System der Gesellschaft" aus zeitlichen Vorläufen besteht, und diese These trägt wiederum weitreichende Konsequenzen in sich, nämlich den Zwang der Gesellschaft zur ständigen Selbstreproduktion und Evolution, (z.B. das globale Erdsystem verwandelt die Energie, die aus seinen Umwelten kommt- Weltraum, Sonne- in jene Substantive, die es möglich machen, daß sich das System erhält: Wärme, Pflanzen, Tiere, Erdöl, Gas usw.), und nicht nur einfacher "Reproduktion" wie bei MARX, wobei dieser primär den ökonomischen Charakter der Wiederherstellung von Arbeitskraft bei der Deutung der gesellschaftlicher Verhältnisse im Kopf hatte, die zwar mit der Natur "schwanger gehen", ohne die Bedingungen der Produktion nicht zu verstehen seien. Daher: "die Bedingungen der Produktion sind zugleich die Bedingungen der Reproduktion". (8) 

Das Element, aus dem dieses zeitliche, immer wieder neu aus sich   heraus entstehende (reproduzierende) System besteht, ist bei LUHMANN so simpel bestimmt, daß es einem die Sprache verschlägt: die Kommunikation. Gesellschaft besteht aus Kommunikation, punkt. "Kommunikation ist...eine Synthese aus drei Selektionen. Sie besteht aus Information, Mitteilung und Verstehen. Jede dieser Komponenten ist in sich selbst ein kontingentes Vorkommnis. Information ist eine Differenz, die den Zustand eines Systems ändert, also eine andere Differenz erzeugt." (9) Wer gedacht hätte, daß wäre schon seine Klimax, der irrt gewaltig.

Eigentlich setzen erst hier die wirklichen Probleme an; denn die Bestimmung "Kommunikation" ist nicht das Ende der Theorie, keine Lösung, keine Auflösung, aber ein gewaltiger Schub, der Horizonte eröffnen kann, und zwar von Anfang an. Waren schon die "Wirtschaft der Gesellschaft" (1988), "Die Wissenschaft der Gesellschaft" (1990), "Das Recht der Gesellschaft" (1993), "Die Kunst der Gesellschaft" (1995), darauf angelegt, dem Leser das Bewußtsein dafür zu schärfen, daß Kommunikationszusammenhänge einen Kreislauf erzeugen, sozusagen Intimbeziehungen sind, die er mit den Begriffen "Konditionierungen" und "Selbstkonditionierungen" bezeichnet hatte (10), so legt die "Gesellschaft der Gesellschaft" erst die Einheit dieser Konditionierungen und zwar als Einheit von Differenzen dar:

Kommunikation wird demnach bestimmt durch Unterschiede. Die Philosophie des alten Arbeiterbewegungsmarxismus könnte hier die "Einheit der Widersprüche", deren "Allgemeinheit" und vielleicht sogar deren "Besonderheit" kühn unterstellen, definieren oder "entdecken" .(11) Dem ist nicht so: bei LUHMANN ist "Einheit" eine Operation innerhalb eines zeitlichen Verlaufs. Kommunikation ist, sein zentraler Gedankengang, die Einheit von Differenzen von Mitteilungen, von Verstehen, von Informationen, nicht irgendeine Einheit, eine kom- plexe Einheit, eine Vielfalt der Einheit, die in allen sozialen Systemen der Gesellschaft Realität ist, worüber man sicherlich trefflich streiten kann, und wohl auch muß. Anders als JÜRGEN HABERMAS (12) , neben LUHMANN wohl der profilierteste Vertreter seines Faches, denkt er die Gesellschaft als selbstbezüglich, sie wird bewußt in einen sog. Zirkel hineingedreht, oder findet sich in diesem wieder (offen bleibt allerdings, wie das geschieht). Einmal hineingetreten, die Gesellschaft aus dem Blickfeld der Gesellschaft betrachtet, sie durchsichtig gemacht, damit sie plausibel wird, das ist ihre Rolle, dabei ist sie Objekt, aber: Ge- sellschaft, die sich aus der Gesellschaft selbst herstellt, da- bei ist sie Subjekt. 

Das changiert er laufend und durchgängig, ständig, immer wieder mit anderen Facetten bereichernd, was sein Leben auszeichnete, was ihn auch schwer verständlich machen dürfte: das doppelte Automatenbild, die Wechselweise, die diametrale Schau, das Systemganze, die Teile, die sich bewegen, sich wechselseitig hervorbringen und wieder auflösen. Die Gesellschaft produziert Gesellschaft aus sich heraus, es ist wie ein Materie-Kreislauf: nicht nur die Gesellschaft produziert Gesellschaft, sie produziert auch Gesellschaftstheorien, die ihrerseits wiederum die Gesellschaft erst verobjektivieren (in diesem Falle: sichtbar machen) kann, da sie die Theorie produziert hat.

Wichtig ist die immer mitlaufende Logik, die Einsicht in die Tat sache, daß die Theorie selbst zur Gesellschaft gehört, die sie zu "erklären" versucht .(13) Die Theorie von der Gesellschaft kommt in der Gesellschaft, die sie beschreiben will, als ein dazugehörendes Element selber vor. Triviale Selbstverständlichkeit? Das greift bei LUHMANN nicht. Eine Gesellschaftstheorie mit dieser differenzierten Betrachtungsweise würde nicht mehr behaupten können, sie könne ihren zu analysierenden Gegenstand wie ein Objekt außerhalb von einem Standpunkt und außerhalb dieser Gesellschaft betrachten. Schwieriger wird es noch, wenn gefragt wird, ob sie bewertet  beurteilt, verurteilt werden kann, was wiederum etwas anderes ist als zu "verstehen/erklären". 

Im System der Gesellschaft gilt ihre Duchlässigkeit, ihre Selbstdurchleuchtung, ihre sich wandelnde Selbstdurchsichtigkeit, ihre Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung, Selbstreferenz, die wiederum nur über die Kommunikationsmöglichkeiten einer Gesellschaft zu erschließen sind. Es liegt auf der Hand, daß eine solche funktionale Deutung der Realität nur über, wie er es nennt, der "differenzierungstheoretischen  Analyse" (14) zu erfassen ist. Bei LUHMANN liest sich das so: "Aber jede Lösung des Problems, jeder Identitäsvorschlag, muß durch die Operation des Systems durchgeführt werden und setzt sich deshalb im System der Beobachtung aus...Es gilt auch für das Sozialsystem Gesellschaft, und hier erst recht, weil es außerhalb der Gesellschaft überhaupt keine Kommunikationsmöglichkeiten, also auch keine zum Korrigieren befähigte Instanzen gibt. Die Gesellschaft ist also erst recht darauf angewiesen, kriterienlose Selbstreferenz zu praktizieren." (15) Danach wird sie in sich selbst transparent, durchschaubar, nicht einfach durchschaubar, sondern komplex durchschaubar als ein System, das sich durch den ständigen Austausch mit seinen Umwelten erhält, reproduziert und verändert. 

An LUHMANN ist sympathisch, daß er ohne die üblichen/vergleichenden Ideologieforschungen, ihrer Umschreibungen, nicht selten Vernebelungen, auskommt, die zwar auf Schritt und Tritt präsent, jedoch nicht "Second hand", obwohl die "Gesellschaft der Gesellschaft" mit seinen Definitionen   die inneren Streitigkeiten der "Wissenschaft von Ideen" seit guten 150 Jahren widerspiegelt. LUHMANN führt auch nicht die explizite Auseinandersetzung mit MARX , obwohl gerade MARX mit der "Deutschen Ideologie" oder ENGELS im "Anti-Dührung" zur "Wirklichkeit des Bewußtseins", der "Ideen, die die Welt lenken" , die "verkehrte Reflexe der wirklichen Verhältnisse" sind, deren Entwicklung sich in den "materiellen Verhältnissen" niederschlagen würden, entscheidenden Anteil auf dem Gebiet der Deutung der modernen Gesellschaft , ideologischer Prozesse, deren theoretischer Problematisierungen im 20. Jahrhundert hatten. Dieser Einfluß ist bis in die jüngste Zeit bemerkbar, wenn etwa an den Soziologen BECK gedacht wird, deren Anleihen wiederum bei LOUIS ALTHUSSER (16) unübersehbar sind. MARX konnte sich ein Gesellschaftssystem. daß den "geistigen Ver- kehr der Menschen" regelt (17) ) eben ohne Menschen nicht vorstellen. Für ihn war der "materielle Verkehr" und damit auch die "Produktion von Ideen" der Blick in die "camera obskura" (Ideologie als Reflex der wirklichen Verhältnisse), der Sprache, das wirkliche Leben. (18) Ein gesellschaftliches System kann sich LUHMANN daran gemessen, durchaus ohne Menschen und ohne die ihn immer wieder bestimmenden vielfältigen "Ideologien", die ihn bis zum Grab begleiten, vorstellen: Gesellschaft als solipsistische Idee, ein immer wiederkehrender Punkt mit einer neuen Theorie, und sonst nichts? 

Der Zugang zum Diagnostiker LUHMANN findet vermutlich erst hier statt, und die gesellschatliche Realität des 20. Jahrhunderts hat gezeigt, daß "Kommunikation innerhalb von gesellschaftlichen Systemen" tatsächlich nicht immer auf Menschen oder nur eingeschränkt auf Menschen angewiesen ist, wenn z. B. an die Medien gedacht wird, im Übergang zum 21. Jahrhundert an die elektronischen Medien, die nur das vermitteln was die Gesellschaft als "Realität" annimmt, und nicht der Mensch. Käme der Mensch - hypothetisch hinterfragt - in der Gesellschaft gar nicht vor, so würde LUHMANN uns auf die Systemtheorie verweisen, mit deren Hilfe sich solche Widersprüche lösen lassen würden. Eine Analyse aus dem Kaffeesatz, ist die Welt für ihn eine Welt ohne Hoffnung? LUHMANN denkt das Paradoxe auf hohem logisch- abstrakten Niveau. Seiner Logik folgend, basiert der Alltagsverstand auf beständigen Täuschungen, er ist nahezu ein "Kabarett der Täuschungen" (19), wobei wir nur plötzliche, auf uns hereinbrechende Zusammenhänge wahrnehmen, niemals aber zum differenzierten Gebrauch einer, oder dieser in dem Moment auftretenden "Erkenntnis" fähig sind. Der scheinbar objektive Betrachter hat in diesem Moment schon verloren (19), er verstrickt sich weiter und immer tiefer in das Geschehen der Systeme der Gesellschaft, aus dem es kein Entrinnen gibt, er ist mit ihr in einem unaufhörlichen Austausch, in einem "autopoitischen Kommunikationszusammenhang" (20) verbunden. 

Die Theorie hat die neue Theorie verändert; die Theorie hat den   objektiven Betrachter verändert, die Welt, sein Ego (von dem jeder glaubt, daß er eins hat), die Verhältnisse ,in denen es wirken mag (z. B. Natur, Universum). Das ist genau das, was ihn von anderen Geistesgrößen unterscheidet: Soziologie als ein gesellschaftlicher Beitrag "zur Selbstbeschreibung" (21), und weil wir immer alles mit "blinden Flecken" umschreiben, analysieren, damit umgehen, Wertungen treffen (oftmals mit weitreichenden Konsequenzen "gedacht") fordert er ein, daß "die Kommunikation in Gang kommt" . (22) Wir reden von Projekten, von Formtheorien, von statischen Gestalten, von Umpolungen und methodischen Kopplungen, von Dingen, mit denen wir einen Rahmen "postmoderner Beschreibungen" (23) bereitstellen, wissen aber nicht, was sie sind, zum Greifen nahe und doch so fern; sie entziehen sich uns, keiner hat diese Art oder Form von sog. "Objektivitäten" je gesehen. Eine Theorie ist nach ihm etwas, "das sichtbar macht", wenn Theorie mit Schau, Anschauung übersetzt würde. 

Die Theorie selbst ist ein Fallensteller; deswegen gibt es auch falsche Theorien, oder Theorien, die in sich Irritationen sind, oftmals irrational, wenn sogar nicht durchgängig (?). LUHMANN verweist zwar darauf nicht ausdrücklich, aber am Bei- spiel der Kosmologie ist das sehr nachvollziebar. Kein Mensch hat je ein "Schwarzes Loch" (24) gesehen, alle nahmhaften Kosmologen und Astrophysiker gehen aber davon aus, daß ein solches existiert, Theorien, die zwar wissenschaftlichen Messungen standhalten, aber doch nur Theorien sind. Theorien bleiben fragwürdig, da es nur solche gibt, an die wir glauben, unerschütterlich glauben wollen, weil sie dem "Alltagsverstand", der "alltäglichen Wahrnehmung" , dem "Stand" in der Gesellschaft scheinbar entsprechen. Das ist das eigentlich ufregende an LUHMANN: Theorien, mit deren Hilfe wir etwas wahrnehmen, etwas Wahres zu sehen meinen, macht unsere naive Wahrnehmung über das Welt- und Naturgeschehen im gleichen Atemzug wieder zunichte: Theorie ist Tautologie, paradox formuliert: wir sehen das, was wir nicht sehen, oder: man darf nicht alles glauben, was der theoretischen "Wahrheit" entspricht, denn was sie wirklich ist, weiß man meistens nicht. 

LUHMANN zitierte gerne den Satz FRANZ KAFKAS: "Es gibt viel   Hoffnung, aber nicht für uns!" Das mag uns näher zu ihm bringen, eine Schneise in die Welt zu  schlagen, aus der wir uns verabschiedet haben. Vielleicht würde LUHMANN hier in Anlehnung an MARTIN HEIDEGGER "daß das Dasein seinen Lauf erst mit dem Tod beendet" (25), sagen, daß des Menschen SEINS-Bestimmung ein unaufhörliches Theoriegeschehen ist. Diese Konsequenz wird viele ärgern; allemal beginnt man zu verstehen, daß alle Theorie entsubstantialisiert werden muß; die unüberschaubare Gesamtsicht fordert das ein. Es gibt keine Vorschriften, keine Rezepte mehr, die alles und jedes beweisen, alles besser machen können, der Gegenwartsmythos, die Legitimation DER Theorie, mit der die Gegenwart und die Zukunft geträumt wird, dieser Legitimationszwang ist dahin. 

Eine Bewertung oder Wertung des großen Denkers steht noch aus, sie wird auch nicht so schnell geleistet werden können. LUHMANN hat eine tragische Lücke hinterlassen. Die Gesamtgesellschaft als das eigentlich zu untersuchende Kriterium, das war ihm wichtig. Wenn er gleichzeitig vor "stürmischen Landungen" warnte, dann öffnete das weniger den Mißverständnissen und den Tor- heiten die Lücke, intensiver jedoch den Mehrdeutigkeiten, die den Lauf der Dinge ausmachen. Es ist an der Zeit sich im Kopf von dem zu verabschieden, was wir lieb gewonnen haben, als sei es nämlich möglich, die EINE Theorie der Kritik an der "Gesellschaft der Gesellschaft" aus dem Ärmel zu schütteln. 

Anmerkungen

(1) NIKLAS LUHMANN: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Erster Teilband, Frankfurt/M. 1997, S. 11.

(2) KARL MARX: Thesen über Feuerbach, in MEW Bd. 3, S. 534, Berlin 1969 (im folgenden: MEW). 

(3) Ebd., S. 33. MARX bezeichnete hier auch die "Gesellschaft, die die allgemeine Produktion regelt" als ein "Sichtfestsetzen der sozialen Tätigkeit". Vgl. auch: MEW Bd. 4, S. 130f. 

(4) LUHMANN: Erster Teilband, S. 20. 

(5) LUHMANN bezieht hier sogar die Religionen ein. 

(6) Vgl. MEW, Bd. 3, S. 37ff. und KARL MARX: Grundrisse der politischen Ökonomie, Berlin 1953, S. 21ff, (7) MEW, Bd. 3, S. 26f. 

(8) KARL MARX: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie,   Bd. I, Frankfurt/M. 1968, S. 591. 

(9) LUHMANN: Erster Teilband, S. 190. 

(10) NIKLAS LUHMANN: Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1988, S. 134ff.

(11) Vgl.z. B. MAO TSETUNG: Über den Widerspruch, Peking 1968,S. 365ff. 

(12) Vgl. JÜRGEN HABERMAS: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt/M. 1970. Die Auseinandersetzung mit der sog. "Frankfurter Schule" und deren "kritische Theorie", innerhalb derer J. HABERMAS eine wesentliche Rolle spielte, kann hier nicht nachgezeichnet werden, da sie sich mit der Konstituierung einer theoretisch-politischen Konzeption (kritisches Bewußtsein, Konfliktbewußtsein) beschäftigt hatte. Vor allem nach 1968 hatte sie sich in der Auseinandersetzung mit der "verblaßten" Studentenbewegung, mit Selbstreflexionen, mit "praktischen" Fragen und politischen Entscheidungen beschäftigt, die sie mit einer gemeinsamen Form der Kritik an gesellschaftlich bestehenden Zuständen verband. Wer mehr über die "Frankfurter Schule" erfahren will, dem sei ROLF WIGGERSHAUS: Die Frankfurter Schule. Geschichte, theoretische Entwicklung, politische Bedeutung, München 1986, empfohlen,.

(13) Im übrigen ist es nicht so ganz klar, ob LUHMANN erklären oder verstehen gemeint hat, was ein großer Unterschied wäre; denn schließlich geht es logisch-theoretisch darum eine Gesellschaft oder Gesellschaftsformationen zu erklären, dies per Definition, oder zu verstehen, was einer Zusammenhangsphilosophie nahe käme.

(14) LUHMANN: Zweiter Teilband, S. 950ff.

(15) Ebd. S. 889f.

(16) Vgl. LOUIS ALTHUSSER: Ideologie und ideologische Staatsapparate, Hamburg 1978. 

(17) MEW Bd. 3, S. 26.

(18) ebd.

(19) Vgl. das sehr lesenwerte Buch von MARTIN GARDNER: Kabarett der Täuschungen, Frankfurt/M. 1981. 

(20) Vgl. auch den "Doppler-Effekt", der aus der Physik bekannt  ist. Im Prinzip basiert er auf einer Täuschung des Alltagsbewußtseins. Wir hören das, was in sich längst vergangen ist (Frequenzveränderung). 

(21) LUHMANN, Bd. 2, S. 1133. 

(22) Ebd. S. 1138. 

(23) Ebd. S. 1149. 

(24) Ein SCHWARZES LOCH (Black Hole) ist aus einem durch Schwerkraftwirkung am Ende seiner Entwicklung kollabierender Stern angeblich hervorgehendes Objekt, das von einer unvorstellbaren Gewalt der Gravitation beherrscht wird, daß nicht nur alle materiellen Teilchen, sondern auch sämtliche elektromagnetische Strahlen, wie Licht, Radiowellen usw. absorbiert und nicht nach außen gelangen läßt. Schwarze Löcher können auf direktem Wege NICHT nachgewiesen werden; in der Kosmologie wird davon ausgegangen, daß sie am Rande des Universums  "existieren". Ein angeblich "sicherer" Kandidat dafür soll die Röntgenquelle Cygnus X-1 sein. 

(25) MARTIN HEIDEGGER: Sein und Zeit, Tübingen 1984, S. 244.


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