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Zum Gedenken an Herschel Grynspan einen Artikel von Leo Trotzki. Die deutsche Uebersetzung ist aus "Unser Wort", der Exilzeitung der deutschen Bolschewiki-Leninisten, vom Mai 1939, abgeschrieben, wobei einige grobe Uebersetzungsfehler anhand der englischen Uebersetzung in WRITINGS 1938-39 korrigiert wurden.

Für Grynspan

von Leo Trotzki

 

Fuer jeden mit der politischen Geschichte auch nur wenig vertrauten Menschen ist es klar, dass die Politik der faschistischen Gangster direkt und zuweilen mit Vorbedacht terroristische Akte provoziert. Das erstaunlichste ist, dass es nur einen einzigen Grynspan gegeben hat. Zweifellos wird die Zahl dieser Akte zunehmen.

Wir Marxisten betrachten die Taktik des individuellen Terrors als ungeeignet zur Loesung der Aufgaben des Befreiungskampfes des Proletariats oder der unterdrueckten Nationalitaeten. Ein einzelner isolierter Held kann nicht die Massen ersetzen. Jedoch verstehen wir ebenso klar die Unvermeidlichkeit dieser krampfhaften Verzweiflungs- und Racheakte. All unser Mitempfinden, unsere ganze Sympathie gehoeren den sich aufopfernden Raechern, auch wenn sie nicht den richtigen Weg gefunden haben. Da Grynspan kein politischer Militant ist, sondern ein junger unerfahrener Mensch, fast ein Kind, dem das Gefuehl der Empoerung der alleinige Ratgeber war, ist unsere Sympathie fuer ihn um so groesser.

Grynspan den Haenden der kapitalistischen Justiz zu entreissen, die ihm den Kopf abzuschlagen faehig ist, um der kapitalistischen Diplomatie besser zu dienen, ist die elementare Pflicht der internationalen Arbeiterklasse.

Die stalinistische Kampagne

Am empoerendsten in ihrem polizeihaften Stumpfsinn und ihrer unaussprechlichen Heftigkeit ist die jetzt auf Befehl des Kreml in der internationalen stalinistischen Presse gegen Grynspan gefuehrte Kampagne. Man versucht, ihn als Nazi- oder als einen mit den Nazis verbundenen trotzkistischen Agenten hinzustellen. Indem die Stalinisten so den Provokateur und sein Opfer in den selben Sack stecken, unterschieben sie Grynspan die Absicht, er habe einen guenstigen Vorwand fuer Hitlers Pogromtreiben schaffen wollen.

Was soll man von diesen bestechlichen «Journalisten» halten, die nicht mehr die geringste Spur von Scham besitzen? Seit dem Beginn der sozialistischen Bewegung hat die Bourgeoisie jederzeit alle gewaltmaessigen Empoerungsaeusserungen, insbesondere die terroristischen Akte, dem verderblichen Einfluss des Marxismus zugeschrieben. In diesen wie in anderen Punkten haben die Stalinisten die schaendlichsten Traditionen der Reaktion geerbt. Die 4.Internationale darf mit vollem Recht stolz darauf sein, dass der reaktionaere Auswurf einschliesslich der Stalinisten jede Aktion oder jeden mutigen Protest, jeden Empoerungsausbruch, jeden den Henkern versetzten Schlag automatisch mit dem Namen der 4. Internationalen verbindet. Genauso erging es der Internationale zu Marxens Zeit.

Durch eine offene moralische Solidaritaet sind wir natuerlich mit Grynspan verbunden und nicht mit seinen «demokratischen» Kerkermeistern oder mit den stalinistischen Verleumdern, die den Leichnam Grynspans noetig haben, um die Urteilssprueche der Moskauer Justiz wenigstens teilweise und indirekt zu stuetzen. Die vollstaendig verkommene Diplomatie des Kreml versucht zur gleichen Zeit diesen «gluecklichen» Zwischenfall zu benutzen, um ihre Intrigen hinsichtlich eines internationalen Abkommens fuer eine gegenseitige Auslieferung der Terroristen zwischen den verschiedenen Regierungen zu erneuern, einbegriffen die Regierungen Hitlers und Mussolinis. Vorsicht, Meister der Faelschung! Die Anwendung eines solchen Gesetzes wuerde die sofortige Auslieferung Stalins an wenigstens ein Dutzend auslaendischer Regierungen noetig machen.

Die Stalinisten fluestern der Polizei ins Ohr, dass Grynspan «Versammlungen der Trotzkisten» besuchte. Leider ist das nicht wahr. Denn haette er sich in das Milieu der 4. Internationale bewegt, so wuerde er einen anderen und viel wirkungsvolleren Ausweg fuer seine revolutionaere Energie gefunden haben.

Leicht finden sich Leute, die nur gegen Ungerechtigkeit und Grausamkeit wettern. Aber diejenigen, die wie Grynspan faehig sind, zu handeln wie sie denken, zur Aufopferung ihres Lebens bereit, sind die kostbarste Hefe der Menschheit.

Findet einen anderen Weg!

Vom moralischen Standpunkt -- und nicht hinsichtlich seiner Aktionsmethoden  -- kann Grynspan jedem jungen Revolutionaer als Vorbild dienen. Unsere moralische Solidaritaet mit Grynspan gibt uns ein besonderes Recht, allen noch kommenden Grynspans und all denen, die sich im Kampf gegen den Despotismus und die Bestialitaet zu opfern faehig sind, zuzurufen: findet einen anderen Weg! Nicht der isolierte Raecher, sondern nur eine grosse revolutionaere Massenbewegung, die von dem System der Klassenausbeutung, von nationaler Unterdrueckung und Rassenverfolgung nichts bestehen lassen wird, kann die Unterdrueckten befreien.

Die beispiellosen Verbrechen des Faschismus erzeugen einen voellig gerechtfertigten Rachedurst. Doch die Menge dieser Verbrechen ist so ungeheuerlich, dass dieser Durst nicht durch den Mord isolierter faschistischer Buerokraten gestillt werden kann. Dazu muessen Millionen, zehn und hunderte Millionen Unterdrueckter in der ganzen Welt mobilisiert und zum Ansturm gegen die Grundlagen der alten Gesellschaft gefuehrt werden. Nur der Sturz aller Formen der Versklavung, die voellige Vernichtung des Faschismus, nur die Ausuebung der schonungslosen Justiz des Volkes gegen die zeitgenoessischen Banditen und Gangster koennen der Empoerung des Volkes eine wirkliche Genugtuung verschaffen. Genau das ist die Aufgabe, die sich die 4. Internationale gestellt hat. Sie wird die Arbeiterbewegung von der Plage des Stalinismus saeubern. Sie wird in ihren Reihen die heroische Generation der Jugend vereinigen. Sie wird einen Weg bahnen zu einer edleren und menschlichen Zukunft.

Februar 1939


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