zurück

 

DIE WIEDERKEHR DES VERDRÄNGTEN - DIE ALLTÄGLICHE INTOLERANZ

OTTO SCHILY UND DER "RECHTSSTAAT"

von DIETMAR KESTEN, Gelsenkirchen

47. Woche 1998

 

Einst war OTTO SCHILY RAF-Verteidiger (1). Nun ist er Innenminister. In dieser Funktion hat er sich ohne Zweifel bereits in den ersten Wochen seiner Amtszeit einen Namen gemacht. Es ist genug, verkündete er, Deutschland könne 'keinen weiteren  Zugang von Ausländern verkraften' , die 'Grenzen der Belastbarkeit seien bereits überschritten' .(2)

So verschafft er sich Aufmerksamkeit, egal ob es sich dabei um die gleiche Scharfmacherpolitik wie die seines Vorgängers, MANFRED KANTHER handelt, oder ob man verlauten läßt, daß jetzt der 'Königsweg' für das europäische Zusammenwachsen auch auf dem Gebiet der 'künftigen Zuwanderungsregelungen' (3) gefunden  ist.

Verbreitete KANTHER bereits durch sein öffentliches Auftreten tausendfache Intoleranz gegenüber andersartigen Menschen, so kommt OTTO SCHILY auf scheinbar 'leisen Sohlen' daher, in der  Hoffnung, daß sich die 'liberale Politik' von ROT - GRÜN auf dem Gebiet der 'Rechtsstaatlichkeit' durchsetzen möge Doch diese Ausrichtung auf den Terminus 'Das Boot ist voll', ist ein Schlag ins Wasser, und verschafft der SPD nicht im geringsten einen längerfristigen Populismus, von dem sie träumen mag.

SCHILYs politische Äußerungen sind bei näherer Betrachtung schon erstaunlich, nicht deswegen, weil man sie ihm nicht unbedingt zugetraut hätte, sondern vor allem, weil er die jüngste Vergangenheit der staatlichen Willkür unter ewig gleichen Phrasen faßt: es ist der diffuse Bodensatz von Paragraphen, Gesetzen und Ausführungsbe- stimmungen, die letztlich in der Neufassung des Asylgesetzes ihren Niederschlag fanden. Die Bestürzung, die angesichts des jetzt schon zu beobachtenden Niedergangs sozialdemokratischer Politik auftritt, ist nicht das 'aus der Rolle fallen' des neuen Innenministers, sondern leider die Parallelen in der deutschen Geschichte, die nicht verschwiegen werden dürfen.

Vordergründig war es die hegelsche Idealvorstellung vom Staat, der in der 'Zwangsgemeinschaft' gipfelte, in dem das Partikulare über das Allgemeine zu siegen schien, die 'organische Staatsharmonie', die die Hierarchie etablieren und die 'Unordnung' absorbieren konnte, mit einer solch hohen Blendungskraft, daß Rangordnungen und 'individuelle Sittlichkeit' fast wie von selbst entstanden. Zwar gründeten sich die Machtpositionen des Staates auch auf diesen 'Hegelschen Geist', aber nicht nur; denn die Quellen des heutigen modernen Staates und seines 'Radikalismus' in Bezug auf alles Fremd- artige, haben ihren Ursprung in der Verleumdung, Verfolgung ethni - scher Minderheiten, von Anfang an. (4)

Das Schablonendenken der Rassen-Intoleranz-Anthropologie eines CHARLES DARWIN (5) und seiner Abstammungslehre, gipfelte in dem Mythos des 'reinen Menschenbildes', dem alles zum Opfer fiel, was nicht den Hochkulturen der Weltgeschichte (6) entsprach, die an 'Blutsvermischung' und 'Bastardisierung' zugrunde gingen: die Hautfarbe, die Sprache, die Kleidung, der Haarschnitt, die Gesittung, die Staatenzucht, die Reinheit des Lebens, die Pluralisierung der Lebensstile. Was zählte, war die 'Substanz der nordischen Rasse' , und von dort aus betrachtet, war es nur noch ein winziger Schritt zum 'wissenschaftlichen Antisemitismus', der im 19. Jahrhundert aufkam, zum verbrämten Rassismus von 'Mein Kampf' (7) und seiner totalitären Anthropologie, die schließlich in den industriellen Völkermord einmündete.

Das 20. Jahrhundert hatte diese weltanschaulich-demagogische Verklammerung von Intoleranz, Rassenhaß, irrationalen Mythen, oder vielleicht sogar einer antisemitischen Weltidee von der 'Reinheit eines Staates' ,nie verwunden. Die Hakenkreuzphilosophie übernahm den 'Kampf' um den 'einzel- nen auserlesenen Menschen' , den 'schreitenden Helden dieser Zeit' (8) in plakativer Form von NIETZSCHE und SPRENGLER (9) und so konnte ALFRED ROSENBERG erklären: ''Der Kampf der verschiedenen Rassenseelen, das ist für uns heute der Kernpunkt- der Welt und Kulturgeschichte.' (10) Die massenwirksamsten Ideologien gegen alles 'Fremde' waren immer die, die die 'obersten Charakterwerte' , die Reinrassigkeit des 'unver- dorbenen Volkes' progagierten, sich auf scheinbare weltanschauliche Bestandteile der 'demokratischen' Fassade beriefen und die germani- sche 'Kulturexpansion' für unverzichtbar hielten.

Warum konnten sich derartige gedankliche Verwerfbarkeiten in der  Geschichte des morbiden Kapitalismus halten, und warum wurden sie nahezu erbsündenhaft von einer Generation zur anderen weitergegeben?

Zu kurzschlüssig wäre eine Erklärung, die sich auf tiefenpsychologische oder manipulationstheoretische Ansätze (11) beruft; denn die 'Retter eines Staates' haben immer die 'greifbare' Gefährdung eines Staates, jedwede Form von Andersartigkeit im Kopf gehabt, wenn es um die 'Fundamente der Wahrheit' und der 'Abwehr des fremden Zugangs' ging. Das allerdings läßt sich m. E. nur aus der deutschen und europäischen Geschichte der vielleicht letzten 200 Jahre erklären.

Wer wolle daran zweifeln, daß die Neufassung des deutschen Asylgesetzes dem Rechnung trägt, und wer will daran zweifeln, daß die 'künftigen Zuwanderungsregelungen' nicht genau auf diesen Elementen mit verheerenden Spätfolgen aufbauen? Die Aura des Anstößigen setzt sich bei OTTO SCHILY fort. Wer ein Leben lang staatlich reglementiert wurde, abgeschoben und verfolgt, in bestän- diger Angst leben muß, weil politisch verstoßen, wer sich wie im Falle des 16jährigen indischen Abschiebehäftlings in seiner Zelle in Halle erhängt (12), der kann sich mit einer solchen Erodierung des Denkver- mögens um 'zukünftige Zuwanderungen' und ''versachlichten Regelungen' (13) nicht einverstanden erklären.

Kein Wunder daher, daß diese Zusammenhänge warnend angelegt sein müssen: das warenproduzierende System gründet sich auch auf gefühlsmäßige, häufig oberflächliche, auf immer abgrundtiefer Menschenfeindlichkeit, der Verunsicherung gegenüber all dem, was ihm fremd ist, auf Schablonen und Etiketten. Man mag in Deutschland den Zuwanderer, den politisch Verfolgten des- halb nicht, weil er selbst 'Schuld an seinem Elend' ist. Dieser weitver- breiteten Volksmeinung und dem Irrglaube, der dahinter steckt, wird per Gesetz Rechnung getragen; es soll die Kulturform der 'guten Gesell - schaft' obsiegen, und es mag auch hier die warenförmige Verblendung sein, die sich immer wieder zum alltäglichen Rassismus und zur In- toleranz emporschwingt.

Der intolerante Staat der Moderne wird in seiner gesellschaftlichen Totalität dem Ende entgegengehen, zuvor wird er bis zu seiner äußersten Grenze ökonomische und demographische Gründe anführen, um Men- schen ein Recht auf Asyl zu verwehren, er wird die gröbsten Menschen- rechtsverstöße, Abschiebungen im großen Stil durchführen, um die jahr- hundertalte Tradition des 'volkstümlichen Ghettos' fortzuführen, den Haß auf 'niedrige' Völker weiter schüren. In all dem: der grobe Kurzschluß in der deutschen Geschichte. Es reicht die 'einfache' Ablehnung, die nichtbegründbare Abneigung, um einem künftigen Rassismus - ganz gleich in welcher Form er auftreten mag - Vorschub zu leisten Wer keinen Zugang zu den weltweiten Verlierern findet, zu denen wir schneller stoßen könnten, als gemeinhin angenommen wird, der findet auch keinen Zugang zur neuzeitlichen ökonomischen Verrohrung des globalen Kapitalismus.

Der Schuß geht nach hinten los: Rot - Grün kann gegen ihre Verlogenheit, gegen ihren schleichenden Wertverlust, gegen ihre mystischen 'Erlärungen' zur Ausländerpolitik nicht ankämpfen. Sie bleiben geschichtlich engstens verbunden mit Unterdrückung und politischem Terror. Die FREUDsche Wiederkehr des Verdrängten: das ist die Plötzlichkeit des Phänomens, die Kausalkette des negativen geschichtlichen Denkens, weil die Authentizität eines jeden anderen Lebens in Frage gestellt wird.

Scheinbar gibt es kein 'good-will' mehr! Das dekadente System der Warenproduktion durchlebt in seinem letzten Stadium alle Scheußlicheiten seiner eigenen Krise: die Disharmonien im menschlichen Miteinander, die Benachteiligungen, Böshaftigkeiten, die Kälte des Geistes; insgesamt: ein beschämendes Niveau. Der moderne Kapitalismus geht auch deshalb seinem Ende entgegen, weil seine ''Rechtsstaatlichkeit', inhuman und intolerant ist.

Anmerkungen

(1) OTTO SCHILY verteidigte als Rechtsanwalt zu Beginn der 70er Jahre Mitglieder der sog. ROTE ARMEE FRAKTION um A. BAADER und U. MEINHOF. Vgl. auch: PIETER BAKKER SCHUT:Stammheim, Kiel 1986.

(2) WAZ, 16. November 1998, Ruhrnachrichten, 16. November 1998, Frankfurter Rundschau, 16. November 1998

(3) Berliner Tagesspiel, zitiert nach: Süddeutsche Zeitung, 16. November 1998, AOL Datenbank: NewsBote, Gelsenkirchen. 16. November.

(4) Vgl. DANIEL J. GOLDHAGEN: Hitlers willige Vollstrecker, Berlin 1996, S. 45-71; CHRISTOPHER R. BROWNING: Ganz normale Männer, Hamburg 1993. JOHN WEISS: Der lange Weg zum Holocaust, Hamburg 1997. Die Autoren weisen nach, daß sich die Verfolgung ethnischer Minder- heiten keinesfalls nur auf Juden bezog,

(5) CHARLES DARWIN (1809 - 1882): Naturforscher, Begründer einer 'Theorie über die Arten', entwickelte mit seiner Abstammungslehre einen 'biologischen Aktualismus', der den überall stattfinden Kampf zwischen dem 'Höheren und dem Niederen', in ein System preßte, das äußerst problematisch erscheint, wenn man seinen Gedanken der Selektion, der 'gesteuerten Entfaltung von Lebensformen' auf das Bild vom Menschen anwedet. Der 'DARWINISMUS' gehörte sicherlich auf 'versteckte' Weise mit zur Ideologie der Nationalsozialisten, da er eine 'Idee' des Menschen- und Naturbildes' entwarf, mit der sich die Nazis sehr leicht anfreunden konnten (es überleben nur die Starken, die Schwachen werden ausgemerzt, 'Kampf ums Dasein)

(6) Die Hochkulturen der Weltgeschichte: Die Rassenmythologie der Nationalsozialisten ging von einer Reinheit und der 'Sittlichkeit' der Weltgeschichte aus. Die sog. fünf Hochkulturen hätten das 'arisch-nordische Blut' gezeugt.

(7) Adolf HITLER: Mein Kampf, nach: CHRISTIAN ZENTNER, München 1974.

(8) FRIEDRICH NIETZSCHE: Werke in vier Bänden, hier: Band 2, Abschnitt 2: Konzeption des Menschen der Zukunft, S. 362ff, Salzburg 1985.

(9) FRIEDRICH NIETZSCHE: Deutscher Philosop (1844 -1900); wurde  von dem Philosophen ARTHUR SCHOPENHAUER, der Evolutionstheorie und seiner Freundschaft mit dem Komponisten RICHARD WAGNER geprägt. Nach NIETZSCHE haben die traditionellen Werte, wie sie sich vor allem im Christentum finden, ihre Gültigkeit verloren. Dieser Prozeß ist für ihn Ausdruck des Nihilismus, den er auf die Formel bringt: "Gott ist tot". Deshalb müßten als Antwort auf das Christentum 'neue' Werte geschaffen werden, um die alten, die tradierten, zu ersetzen. Diese Auffassungen führten ihn zur Theorie des 'Übermenschen', in die Be- grifflichkeiten des 'Willen zur Macht', zur 'Herrenmoral' . Die Nationalsozialisten konnten sich damit anfreunden und politisieren sie. Wichtigste Veröffentlichungen: Also sprach Zarathuustra (1883-1891), Jenseits von Gut und Böse (1886), Zur Genealogie der Moral (1887). OSWALD SPRENGLER (1880-1936): Einer der militatentesten Vertreter  kulturpessimistischer geschichtsphilosophischen Auffassungen des deutschen Imperialismus; hatte mit seinem Hauptwerk 'Der Untergang des Abendlandes' (bereits 1912 konzipiert, in zwei Bänden 1918 und 1922 veröffentlicht) entscheidenden Einfluß auf den deutschen Faschismus, und kann sicher als Wegbereiter der Nazi-Diktatur gelten. Alle ethischen Gesinnungen wie: Humanismus, Pazifismus, Menschenrechte, interpretierte er als Zeichen des 'Untergangs des Abendlandes'.

(10) ALFRED ROSENBERG (1893-1946): Politiker und Publizist, kam 1918 nach München, begegnete ADOLF HITLER und ERNST RÖHM und trat der neugegründeten Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiter-Partei (NSDAP) bei. 1923 war er am Hitlerputsch beteiligt; im gleichen Jahr wurde er Hauptschrift- leiter und zwei Jahre später Chefredakteur des NS-Parteiorgans 'Völkischer Beobachter. ROSENBERG war vielleicht DER führende Parteiideologe; verfaßte zahlreiche antisemitische, antikommunistische und antidemokratische Kampfschriften. Hauptwerk: 'Der Mythus des 20. Jahrhunderts' (1930). In dieser Schrift Hier traf er sich mit SPRENGLER, und versuchte, die 'rassische Überlegenheit des deutschen Volkes' zu beweisen. Ab 1933 war er als Reichsleiter für das Außenpolitische Amt der NSDAP zuständig; 1934 wurde er außerdem "Beauftragter des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP". Ab 1939 leitete er ein "Institut zur Erforschung der Judenfrage" und ab 1940 den Raub von Kunstschätzen in den besetzten Gebieten. Im 2. Weltkrieg, im März 1941, wurde ROSENBERG zum Reichs- minister für die besetzten Ostgebiete ernannt; im Nürnberger-Prozeß (1945) zum Tode verurteilt und 1946 hingerichtet. Zitat nach HANS GÜNTHER: Der Herren eigener Geist, Ausgewählte Schriften, Berlin 1981, S. 226.

(11) Gedacht wird hier etwa an GUSTA LE BON (1841-1931); französicher 'Völkerpsychologe' und Soziologe; Mitbegründer der bürgerlichen Massenpsychologie; schrieb mit 'Pschologie der Massen' (1895) sein wichtigstes Werk. LE BON versuchte hier die historischen Aktivitäten der Volksmassen auf einen 'psychologischen Zustand der Massenseele' zurückzuführen. Unter 'pschologischen Massen' verstand er 'eine Vielzahl von Menschen, die aufgrund ihrer Zahl, gemeinsamer Interessen , Eigentümlichkeiten...von Erregung oder Affekt befallen (sind) und dadurch zu einer neuen Einheit zusammengeschlossen werden'. (ebd.) Interessant ist sein Gegensatzpaar 'Massenseele -Rassenseele', daß nicht ohne Einfluß auf die aufkeimende nationalsozialistische Ideologie war (Das Seelenleben der Massen als Ursache für alle bedeutenden geschichtlichen Ereignisse). LE BON begrüßte übrigens den Faschismus in der italienischen Abart und war glühender Verehrer von MUSSOLINI.

(12) Nachrichtensendung: Tagesthemen; 15. November 1998, Buersche Zeitung, Gelsenkirchen, 16. November 1998.

(13) Ruhrnachrichten, 16. November 1998.


nach oben