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SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.22 vom 29.10.1998, Seite 7

Ohne Geld arbeiten

Ehrenamt soll den Sozialstaat retten

von Gisela Notz

 

Die Konjunktur boomt, Deutschland ist Exportweltmeister, aber die Arbeitslosenquote ist trotz "Trendwende" hoch. Die hohe Erwerbslosigkeit wird (von Teilen der deutschen Bevölkerung) als das gravierendste Problem angesehen. Besonders bedrückt die große Zahl der Langzeiterwerbslosen. Viele sind bereits seit Jahren ohne Arbeit und haben inzwischen jegliche Hoffnung aufgegeben, einen regulären Arbeitsplatz zu finden. Was das für Frauen heißt, die einen überproportionalen Anteil an den Erwerbslosen und Langzeiterwerbslosen stellen, ist bekannt.

Geht der Gesellschaft die Arbeit aus?

"Was uns bevorsteht, ist die Aussicht auf eine Gesellschaft, der die Arbeit ausgegangen ist, also die einzige Tätigkeit, auf die sie sich noch versteht. Was könnte verhängnisvoller sein?"

Das hat Hannah Arendt bereits 1958 geschrieben. Hannah Arendt meinte sicher die existenzsichernd bezahlte Arbeit, orientiert an spezifisch männlichen Lebensmustern und Wertvorstellungen.

Schließlich sind Arbeit und Arbeitsgesellschaft nicht deshalb in der "Krise", weil es nicht genügend zu tun gäbe, sondern weil unter Arbeit vorwiegend industrielle Arbeit, die der Herstellung und Umgestaltung von Waren dient, verstanden wird. Und weil die Verteilung dieser Arbeit und der Einfluß an der Gestaltung der Arbeitsbeziehungen wesentlich auf ein Geschlecht begrenzt bleibt. Die entscheidende Frage lautet also nicht, ob es genügend Erwerbsarbeit gibt, sondern ob es genügend existenzsichernde Arbeit gibt und wie sie verteilt und bewertet wird.

Die viel zitierte Arbeitsgesellschaft mit dem Normalarbeitsverhältnis gewährleistete - bei genauerem Hinsehen - auch in der Vergangenheit nur ein geschlechtsspezifisch gebrochenes Recht auf soziale Teilhabe und politische Mitwirkung. Denn der größte Teil der Arbeit ist eben nicht mit sozialer Teilhabe, die sich aus einem Einkommensanspruch ableitet, verbunden.

Normalarbeitsverhältnis, so zeigt es der Blick in die Geschichte, hieß immer: Männer arbeiten in der Erwerbsarbeit und Frauen in der Familie, allenfalls ergänzt durch einen weiblichen "Zuverdienst". Die Wiederherstellung der traditionellen "Vollbeschäftigung" ist, wenn sie überhaupt möglich wäre, aus feministischer Sicht gar nicht wünschenswert.

Die neoklassich-liberale Auffassung der alten Bundesregierung vertraute auf die "Selbstheilkräfte" der Marktwirtschaft mit möglichst wenig staatlichen Interventionen. Der Staat sollte sich danach auf die Schaffung günstiger Rahmenbedingungen für die Privatwirtschaft beschränken. Die Unternehmen sollten stärker von Steuern und Abgaben, insbesondere Lohnzusatzkosten, entlastet und die Volkswirtschaft von Bürokratie, Reglementierung und Perfektionismus entschlackt werden. Durch ausreichendes Wirtschaftswachstum, und das gilt sicher auch für die neue Bundesregierung, soll nach der "Krise" die Vollbeschäftigung wieder hergestellt werden (können).

Die Grundannahme "mehr Arbeitsplätze durch Wachstum" verliert mehr und mehr an Glaubwürdigkeit. Schließlich machen die Firmen am meisten Gewinne, die ihr Personal am stärksten reduzieren. Dafür verantwortlich wird vor allem die Globalisierung und Standortfrage gemacht. Hinzu kommt, daß Wachstum mit nicht mehr zu reparierenden Schädigungen der Mit- und Umwelt und nicht erneuerbaren Ressourcen erkauft wird.

"Wachstum" schafft also nicht per se Arbeitsplätze. Für Frauen schon gar nicht. Für viele finanzkräftige Unternehmer ist es ohnehin lukrativer, ihre Gewinne auf internationalen Finanz- und Kapitalmärkten anzulegen, anstatt in Arbeitsplätze zu investieren.

Andere Formen der Arbeit

WissenschaftlerInnen verweisen heute immer wieder darauf, daß für die Zukunft nicht mehr alle Menschen Erwerbsarbeit im "Ersten Sektor" werden finden können. Es gelte daher, den "Bann der erwerbswirtschaftlichen Dominanz" zu brechen. Vorschläge beziehen sich auf die Etablierung eines Dritten Sektors oder das Nebeneinander verschiedener Wirtschaftsweisen, wie von Ullrich vorgeschlagen.

Er sieht für die Zukunft einen viel kleiner gewordenen Sektor der Erwerbswirtschaft, einen großen Sektor der Subsistenztätigkeit und der "Hauswirtschaft" und einen größeren Zwischensektor genossenschaftlicher, kommunaler Tätigkeit als Sektor für "Gemeinwirtschaft". Dort wird wichtige Arbeit nicht über Geld entlohnt, sondern über Zeit verrechnet oder auch steuerfrei Nachbarn geholfen. Tauschringe, die diesen Kriterien entsprechen, schießen wie Pilze aus dem Boden.

Jeremy Rifkin, renommierter Wirtschaftsjournalist und Sozialphilosoph aus den USA, warnt in seinem Buch Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft (1995) vor Verelendung und Gesetzlosigkeit, wenn den Erwerbslosen keine sinnvolle Beschäftigung gegeben würde. Er fordert dazu auf, die Fixierung auf den Markt und auf den Staat aufzugeben und setzt die Hoffnung auf einen Dritten Sektor für die Opfer der dritten industriellen Revolution.

In diesem Dritten Sektor, der zwischen Markt und Staat angesiedelt ist, sollen Arbeitskräfte tätig sein, die im marktwirtschaftlichen Sinne "nichts wert" sind. Sie sollen dort in Non-Profit-Organisationen, gemeinnützigen Projekten, freiwilliger Arbeit und Hilfsorganisationen zu Schattenlöhnen arbeiten.

"Bürgerarbeit" empfiehlt Ulrich Beck, Mitglied der Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen, als Gegenferment zur schrumpfenden Erwerbsarbeit für "Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger, Jugendliche vor, neben und nach der Berufsausbildung, Mütter nach der Erziehungsphase, ältere Menschen im Übergang in den Rentenstand, Teilzeiterwerbstätige, vorübergehend aus der Erwerbsarbeit ausgestiegene" (Kommission für Zukunftsfragen 1997, Teil III). Ihnen unterstellt er eine Motivation für "Bürgerarbeit", denn sie suchen nach "gezielten Einsatzfeldern für freiwilliges soziales Engagement".

Bürgerarbeit wird nicht entlohnt, sondern belohnt und zwar immateriell durch "Favour Credits". Eine Form von Bürgergeld, dessen Höhe etwa der Sozialhilfe entsprechen soll, sollen lediglich diejenigen erhalten, die existentiell darauf angewiesen sind und die ohnehin Sozialhilfe bekommen müßten. Sie können aber dann selbst wählen, ob sie sich als Sozialhilfeempfänger oder als Bürgerarbeiter definieren. Im letzteren Fall verschwinden sie aus den Statistiken.

Durch die Erschließung "nichtmarktgängiger, gemeinwohlorientierter Tätigkeitsfelder" (Kommission) soll in doppeltem Sinne geholfen werden: Die Zahl der Erwerbslosen kann verringert werden, denn gemeinnützig Tätige sind keine Arbeitslosen, sie stehen dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung, und die zunehmende Zahl der Hilfsbedürftigen kann zum Nulltarif versorgt werden.

Obwohl Beck als "Erfinder" der Individualisierungsthese gilt, ist er zuversichtlich: Globalisierung und Individualisierung verdecken und verdrängen lediglich das Ausmaß und Potential für freiwilliges soziales Engagement. Seit 1985 ist der Anteil der ehrenamtlich Aktiven um 5 Prozent gestiegen und fast ein Drittel der westdeutschen Bevölkerung engagiert sich in einer ehrenamtlichen Tätigkeit. Zudem beobachtet Beck ein neues Potential für Tätigkeiten außerhalb der Erwerbsarbeit, dem allerdings die "Sozialverbände" noch nicht gerecht würden.

Alter Wein in neuen Schläuchen

Die Realität beweist es: Bürgerarbeit und Dritten Sektor gibt es lange. Ein Markt mit vielfältigen ehrenamtlichen Möglichkeiten. Bürgerarbeit und andere mit ehrenamtlichem Engagement und Gemeinsinn in Zusammenhang gebrachten Tätigkeiten werden (scheinbar) geschlechtsneutral angeboten. Bei den Arbeitstätigkeiten handelt es sich jedoch vorwiegend um solche, die bereits seit langem von Frauen unbezahlt erbracht werden.

Über eine Million Menschen sind in Deutschland bereits im "Dritten Sektor" beschäftigt. Jeder Fünfte neu geschaffene Arbeitsplatz entstand im Non-Profit-Sektor.

Nahezu jedes zweite Krankenhausbett, die Hälfte aller Plätze in Pflegeheimen und jeder dritte Kindergartenplatz werden vom Dritten Sektor getragen. Bei den sozialen Diensten kommt eine ehrenamtliche Mitarbeiterin auf neun bezahlte Angestellte, auf dem Gebiet von Freizeit und Kultur hingegen stehen sechs "Freiwillige" einer bezahlten Stelle gegenüber.

Wenn im Dritten Sektor tatsächlich neue Arbeitsplätze in nennenswerter Zahl geschaffen werden sollen, müßten die Leistungen, z.B. in den sozialen Diensten, regulär bezahlt werden. Die Arbeitsbedingungen müßten demokratisiert werden, so daß Arbeitgeber nicht wie bisher aus "karitativen" Gesichtspunkten unbezahlte Überstunden verlangen können. Mittelkürzungen im sozialen Bereich weisen darauf hin, daß das nicht der Fall sein wird.

"Dritter Sektor", Bürgerschaftliches Engagement, Volunteering, Arbeit "not for profit", Gemeinsinn, Bürgerarbeit sind "soziale Erfindungen" der letzten Jahre. Sie erscheinen als soziale Innovationen, scheinbar befreit vom Muff und Staub, das dem alten caritativen Ehrenamt, ausgeführt durch die ehrenwerten Damen, anhaftet. Oft sind sie nur neuer Wein in alten Schläuchen.

Die neuen Konzeptemacher wollen mit ihren Konzepten dem "Gemeinwohl" dienen, der Auflösung traditioneller Orte von "Gemeinschaft" entgegenwirken. Was stabilisiert werden soll, sind jedoch Orte, die längst in ihrer Zwiespältigkeit entlarvt sind: Familie soll als Keimzelle bewahrt werden, und das heißt auch, alte Unterdrückungsformen zu bewahren. Selbstorganisation, Basisdemokratie und Aufhebung der patriarchalischen Arbeitsteilung sehen die Konzepte nicht vor. Es geht darum, Kosten zu sparen, Wunden zu heilen und nicht darum, gleichzeitig die Mißstände anzuprangern. Das Verteilen von Armensuppe mindert den Reichtum der Wohlhabenden nicht. Es ist aber geeignet, das soziale Prestige der Wohltätigen zu mehren und die Hungernden zu demütigen, sie bleiben arm.

Konzepte für die Zukunft

Die Menschen der Zukunft werden immer weniger Zeit am (bezahlten) Erwerbsarbeitsplatz verbringen und über immer mehr freie Zeit verfügen. Ob Freizeit durch unfreiwillige Teilzeitarbeit, ungeschützte Arbeit, Hausarbeit oder Erwerbslosigkeit und unbezahlte Arbeit erzwungen sein wird oder ob sie aus der Verteilung der Produktionszuwächse resultiert und mit kürzeren Wochenarbeitszeiten einhergehen wird, ist eine ungelöste politische Frage. Die Antwort wird auch davon abhängen, wie sich die Menschen zur Wehr setzen. Schließlich sind sie nicht nur Opfer der Verhältnisse, sondern auch handelnde Subjekte.

Mit Sicherheit wird es für die Zukunft immer dringlicher, über Konzepte jenseits der fremdbestimmten Lohnarbeit nachzudenken. Es geht um Visionen einer zukünftigen Arbeitsgesellschaft, in der der Gesamtzusammenhang von Arbeit und Leben, Existenzsicherung und Eigentätigkeit von Individuen und Gesellschaft neu gestaltet wird.

Sicher muß der (scheinbar) verlorengegangene Gemeinschaftssinn wieder aufleben, aber nicht auf Kosten der Armen und Ausgegrenzten. Sicher brauchen wir nicht nur ökonomische Gegenkonzepte, auch ökolologisch orientierte werden nicht ausreichen: Wir brauchen auch soziale Gegenkonzepte, und zwar für die Strukturen, die beide Bereiche menschlicher Arbeit festlegen - für Beruf und Familie.

Die alten Forderungen der Arbeiterbewegung nach Auflösung der sozialen Ungleichheit, der gesellschaftlichen Exklusion und der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern sind wieder aufzunehmen. Schließlich geht es darum, die Machtfrage neu zu stellen. Vorausgesetzt das Ziel, die Ausbeutung von Menschen durch Menschen aufzuheben, findet noch AnhängerInnen.

Es ist höchste Zeit, den düsteren Prognosen, die eine Zweidrittel- oder Vierfünftelgesellschaft, eine Schattenwirtschaft oder eine Dreiklassenwirtschaft skizzieren, Alternativen entgegenzusetzen. Fakt ist, daß die existenzsichernd bezahlte Erwerbsarbeit in allen hochindustrialisierten Ländern schrumpft, die unbezahlte Arbeit hingegen in dem Maße zunimmt, wie sie in anderen Sektoren abgebaut wird. Deshalb wird es dringend notwendig, über Konzepte jenseits des traditionellen "Normalarbeitstags" nachzudenken, bzw. das "Normalarbeitsverhältnis" neu zu definieren.

Sinnvoll erscheint mir eine Umverteilung von gesellschaftlich notwendiger und sinnvoller Arbeit und der Verantwortung für die Mit- und Umwelt auf beide Geschlechter durch Arbeitszeitverkürzung im Bereich der Vollzeiterwerbsarbeit (6-Stunden-Tag) und Abbau von Überstunden. Unter sinnvoller Arbeit ist eine Arbeit zu verstehen, die der Erstellung eines gesellschaftlich nützlichen Produkts oder einer solchen Dienstleistung dient, die der Persönlichkeitsentwicklung der Arbeitenden förderlich ist und durch deren Herstellung weder die menschliche Umwelt noch die Mitwelt negativ beeinflußt wird.

Die Forderung nach radikaler Arbeitszeitverkürzung im Bereich der Vollzeiterwerbsarbeit für alle, mit dem Ziel existenzsichernder sinnvoller Arbeit und der Möglichkeit, die erwerbsarbeitsfreie Zeit (auch) für eigene häusliche Aufgaben und für kulturelle, politische oder gemeinwesenorientierte Arbeiten zu nutzen, also nach einer Gleichverteilung der (jetzt) bezahlt und (jetzt) unbezahlt geleisteten Arbeiten auf Männer und Frauen, darf nicht aufgegeben werden. Es geht um eine Sicht auf die Arbeit als Ganzes und um die Möglichkeit der Teilhabe von Männern und Frauen am ganzen Leben.

Allen, die sich näher für dieses Thema interessieren, sei das neue Buch von Gisela Notz empfohlen: Gisela Notz, "Die neuen Freiwilligen. Das Ehrenamt - Eine Antwort auf die Krise?", Neu-Ulm 1998.
 


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