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Sender: CHRISTOPH-LAUBSCHER@IPN-B.comlink.apc.org

hallo loids,
heute erhielt ich einen brief von der 'initiativgruppe für die  rehabilitierung der opfer des kalten krieges' aus 45 127 Essen. darin befand sich der wortlaut des Antrags 162, den der gewerkschaftstag  der HBV gegen 2 stimmen bei drei enthaltungen beschlossen hat. ich könnte mir gut vorstellen, daß dieser antrag auch die zustimmung der  ig medien, der ich seit mehr als vierzig jahren angehöre, findet. darüberhinaus empfehle ich jedem, der sich für den 'Fall Viktor Agartz'  speziell interessiert, das entsprechende Kapitel (S.195 ff) in dem Werk  von Diether Posser 'Anwalt im Kalten Krieg', C.Bertelsmann Verlag GmbH,  München 1991. doch hier nun der wortlaut des Antrags 162:

Betreff:
Gewerkschaftliche Aufbereitung des kalten Krieges
in West- und Ostdeutschland konkret an den Positionen von Victor Agartz

Antragsteller: Landesbezirkskonferenz Thüringen

 

Der Gewerkschaftstag möge beschließen:

Die Delegierten fordern den Hauptvorstand auf. geeignete Maßnahmen zu ergreifen, damit eine Aufarbeitung der 4ojährigen Teilung - verbunden mit einer Bewertung von Maßnahmen und Folgen, die einhergehen bzw. Begleiterscheinungen von 40 Jahren kaltem Krieg in West- und Ostdeutschland waren - geschieht.

Die derzeit in der Bundesrepublik Deutschland übliche Fokussierung einzig auf die Vergangenheitsbetrachtung der DDR verstellt den Blick, um historisch gleichberechtigt auch die Nachkriegsentwicklung der alten BRD zu betrachten.

Die Delegierten erwarten in diesem Zusammenhang beispielhaft an der Person von Viktor Agartz aufzuzeigen, wie infolge des kalten Kriegs und der bewußten Teilungstendenzen Persönlichkeiten auch aus den Gewerkschaften verdrängt wurden, die sich diesem Trend verweigern wollten.

Als geeignete Maßnahmen sehen die Delegierten an, daß Quellenmaterial gemeinsam mit der Hans Böckler-Stiftung zusammengetragen wird, gezielte Stipendien vergeben werden, um diese Fragestellungen wissenschaftlich untersuchen zu lassen, in den Gewerkschaftspublikationen das Thema aufgegriffen wird, Zeitzeugen gesucht werden und in der Perspektive eine Veranstaltungsreihe installiert wird, auf der west- und ostdeutsche Erfahrungen diskutiert werden.

Es muß ermöglicht werden, daß auch das Wirken von Viktor Agartz in der heutigen Zeit wieder ausreichend gewürdigt wird und seine Person in den Gewerkschaften nicht länger als Persona non grata bzw. als nichtexistent verdrängt wird.

Begründung:

Am 17. Dezember 1997 stellt das Bundesfinanzministenum in einem Erlaß fest, daß bei der Neuordnung der Rehabilitation und Entschädigung von Opfern der NS-Militärjustiz im Rahmen einer abschließenden Regelung der Paragraph 6 und 7 des Bundesentschädigungsgesetzes von dieser anscheinend nun schlußendlichen Regelung unberührt bleiben soll.

Dieser Paragraph 6 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) stammt aus dem Oktober 1953 und reflektiert in seiner damaligen Fassung genau den Zustand des kalten Krieges in Westdeutschland, denn der § 6 sagt. daß "von der Entschädigung ausgeschlossen ist", wer nach 1949 "die freiheitlich demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes bekämpft hat".

Mit dieser Formulierung wurden Tausende Opfer des Faschismus vor allem KPD-Mitglieder, die sich nach 1945 oppositionell in der Adenauer-Zeit betätigten, zusätzlich zur Haft bei den Nazis mit dem Entzug ihrer Entschädigungsleistung bestraft. Seit 1990 versuchen deshalb die noch lebenden Opfer dieser dem kalten Krieg geschuldeten Politik entgegenzutreten und fordern nicht nur die Entschädigung, die allen zugestanden hat, sondern sie fordern konsequent mit dem Verweis auf die Folgen des kalten Krieges und der deutschen Teilung auch eine Aufarbeitung und Bewertung dieser Zeit.

Öffentlich bzw. in der veröffentlichten Meinung findet dieser Prozeß der Nachkriegsbewertung West überhaupt nicht statt.

Aber neben den Betroffenen dieser Problematik und neben den rechtlichen Verwerfungen, die auf das KPD-Verbot zurückzuführen sind, und neben den schon fast wieder in die Vergessenheit geratenen Praktiken der Regelüberprüfung von Beamten (Berufsverlbote) gibt es ein völlig unbeackertes Feld, nämlich die Wirkung all dieser Maßnahmen auch auf die Großorganisationen, und in diesem Fall auf die Gewerkschaften.

Es geht ausdrücklich nicht um die Gleichsetzung der Entwicklung Ost mit der Entwicklung West oder die Entschuldigung des einen mit dem anderen. Sondern es geht darum, deutlich zu machen, daß nicht nur die Menschen aus den neuen Bundesländern eine Vergangenheit haben, mit der sie ständig konfrontiert werden und man teilweise den Eindruck hat, daß sich die Einzelnen dafür entschuldigen sollen; sondern daß es auch eine Entwicklung in Westdeutschland gab, die dringend notwendig zur Bearbeitung in die Gegenwart geholt werden muß.

Stellvertretend für diese Entwicklung sei deshalb auf den am 1. 11.1897 in Remscheid geborenen Viktor Agartz hingewiesen, der am 09. Dezember 1964 in Köln verstarb und zu diesem Zeitpunkt durch eine Rufmordkampagne sowohl aus dem DGB als auch aus SPD ausgeschlossen und nicht mehr rehabilitiert wurde.

Viktor Agartz war studierter Wirtschaftswissenschaftler und war nicht nur aktiver Genossenschaftstheoretiker und Praktiker (vor dem Krieg beschäftigt in entsprechenden Leitungsfunktionen der konsumgenossenschaftlichen Organisationen), sondern war nach dem Krieg Leiter des Wirtschaftamtes der britischen Besatzungszone sowie später der Direktor des wirtschaftswissenschaftlichen Institutes des DGB. Er war ein enger Berater von Kurt Schuhmacher, dem 1.Nachkriegsvorsitzenden der SPD. und auch von Hans Böckler, dem 1. Nachkriegsvorsitzenden des DGB. Er hat sich selbst als sozialistischen und marxistischen Theoretiker gesehen und vehement im Nachkriegsdeutschland für einen kompletten wirtschaftlichen Neuanfang gewirkt.

Die ersten DGB-Kongresse waren mit geprägt von seinen theoretischen Ausführungen, und im Aufbau der Nachkriegsgewerkschaft war er ein wirtschaftswissenschaftlicher Exponent, der für eine sozialistische Alternative eintrat, allerdings nicht im Sinne der SED. Gleichwohl hat er stets Kontakte als Vertreter der britischen Zone mit der sowjetischen Zone gehalten. Im Bundesgerichtshofprozeß wegen angeblichen Landesverrats und geheimer Ostkontakte, bei dem er von Gustav Heinemann (späterer Bundespräsident) verteidigt wurde, und im Klima des kalten Krieges konnte nur erreicht werden, ihn mangels Beweisen freizusprechen. Eine Rehabilitation seiner Person, seines Wirkens sowie seiner Arbeit ist nie erfolgt.

Stellvertretend für die gesamte Nachkriegsära wäre es gut. wenn die Gewerkschaften auch ihre Verantwortung übernehmen und diese Zeit genauer beleuchten.

DIESEN ANTRAG HAT DER HBV-GEWERKSCHAFTSTAG GEGEN 2 STIMMEN BEI 3 ENTHALTUNGEN BESCHLOSSEN:


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