zurück

 

aus: analyse & kritik - Nr. 419 vom 22.10.1998

Von den Grünen lernen!

Ein Plädoyer für Realismus auch in rot-grünen Zeiten

 

Kohl tritt ab - nach 16 Jahren; das "Ende einer Ära" ist erreicht. Was ist passiert? Nichts weiter als das in der bürgerlichen Demokratie übliche Wechselspiel von der "Partei A" zur "Partei B", schrieb Kt. einen Monat vor der Wahl über deren wahrscheinlichen Ausgang. (ak 417, S. 8) Das Ganze sei so "spannend wie ein Laufrad im Hamsterkäfig". Tatsächlich?

Hier muß zunächst daran erinnert werden, daß der so sehr um "Normalität" bemühte deutsche Staat von diesem Ziel weit entfernt ist - und nicht nur, weil er als Rechtsnachfolger des Nazireiches auch mit dessen einzigartigen Verbrechen leben muß. Keineswegs "normal" ist auch die Stabilität des bundesrepublikanischen Parteiensystems, in dem die CDU/CSU den ersten Platz gepachtet zu haben schien. Im Unterschied zu Ländern wie Großbritannien, Frankreich oder den USA hat das parlamentarische System der Bundesrepublik einen Wechsel wie diesen bisher nicht gekannt. Nur einmal wurde die SPD - mit hauchdünnem Vorsprung - stärkste Partei. Das war 1972, als die Anhänger der Sozialdemokratie für ihren Willy massenhaft auf die Straße gingen. Doch auch damals hätte eine Koalition von CDU/CSU und FDP eine Mehrheit gehabt. Die sozialliberale Ära war nur möglich, weil die FDP 1969 nach links geschwenkt war; sie endete, als die Liberalen 1982 zu ihrem angestammten Partner zurückkehrten.

Nun hat sich mit 16 Jahren Verspätung die Behauptung Willy Brandts erfüllt, es gebe eine "Mehrheit links von der Union". Sie kam zustande, weil sich in kaum erwartetem Umfang Menschen von der CDU abgewendet haben. Auch wenn dafür bei vielen das Verlangen nach einem "neuen Gesicht" ausschlaggebend war, muß diese Ablösung von einer Partei, für die das "weiter so!" erklärtes Ziel ist, positiv bewertet werden - einerseits. Andererseits ist, heute mehr denn je, nicht nur da "CDU drin, wo CDU draufsteht". Lafontaines Versprecher "Helmut Schröder" kurz vor der Wahl läßt tief blicken. Die historische Einzigartigkeit des Wahlausgangs könnte auch darin bestehen, daß die CDU sich verdoppelt hat: die neue regiert, die alte opponiert.

Das schließt lautstarkes Gezänk zwischen Regierung und Opposition nicht aus. Zweiter Oppositionsführer neben Schäuble wird der Hetzer Stoiber. Damit sind allerdings nicht nur turbulente Debatten garantiert; auch die Argumentation mit dem kleineren Übel wird so neue Nahrung erhalten.

Illusionen, Erwartungen und Spielräume

Daß man "nicht viel von Rot-Grün erwarten" dürfe, schreibt auch mb. in seinen "Überlegungen zur Bundestagswahl" (ak 417, S. 8). Gleichzeitig unterscheidet er zwischen "Illusionen" und "Erwartungen": "Auch wenn keinerlei Illusionen in bezug auf Rot-Grün mehr bestehen, Erwartungen werden dadurch schon geweckt." Verbesserungen hält mb. immerhin - außer in "nebenrangigen Teilfragen" - auf "drei zentralen Politikfeldern" für möglich: "Reform des Staatsbürgerschaftsrechts, Ausstieg aus der Atomenergie und Einführung einer Ökosteuer". Hier wird abzuwarten sein, was im Koalitionsvertrag steht - und was dann davon umgesetzt wird. Mangels Masse werden die vielbeschworenen "sozialen Bewegungen" die neue Regierung zu einer wirklichen "Reformpolitik" nicht zwingen können.

Bleibt als wesentliches Argument für Rot-Grün eine Art politischer Klimawechsel. "Die Begründungszusammenhänge der Regierungspolitik" würden sich "in Teilen" ändern, hofft mb., "Spielräume für die Linke" sich auftun, "neue Töne" zu hören sein. Diskussionen über den Umbau der Gesellschaft "dürften ... nicht mehr nur alleine von Argumenten der Unternehmerseite überlagert sein", statt dessen könnten "Elemente ... (linker) Argumente in der Regierungspolitik und der öffentlichen Diskussion auftauchen", würden "nicht mehr nur alleine die betriebswirtschaftliche Logik und der Standortdiskurs dominieren" - das klingt hoffnungsvoll, aber leider auch sehr vage.

Wunschzettel statt Wahlanalyse

Auf der Suche nach dem Positiven der rot-grünen Regierungsübernahme stieß ich auf Angela Kleins Leitkommentar auf der Titelseite der SoZ vom 1.10. "Aufatmen. Neue Chancen für eine neue Linke nach der Wahl" steht darüber; hier ist sogar von "Spielräumen für neue politische und gesellschaftliche Entwicklungen" die Rede. Die Fortsetzung der "Standort-Deutschland-Politik" werde in beiden Regierungsparteien zu Konflikten führen und die "politisch-gesellschaftliche Krise verschärfen". "Die Kräfte für einen Ausweg" aus dieser Krise "müssen von einer linken Opposition kommen", schreibt Angela und fährt fort: "Die wichtigste Rolle kommt dabei den Gewerkschaften zu." Man muß nicht der allzu bequemen Vorstellung von der kampfbereiten Basis und der abwiegelnden Führung anhängen, um hier ins Zweifeln zu geraten: Dieselben Gewerkschaften, die unter Kohl schon nicht in die Gänge kamen, sollen nun durch mächtig Druck von unten ihre "eigene" Regierung in Schwierigkeiten bringen?

So richtig scheint auch die Kommentatorin nicht daran zu glauben. Wichtig sei, "daß der Wahlsieg übersetzt wird in die Reorganisation und den Wiederaufbau einer gesellschaftlichen Bewegung gegen die neoliberale Offensive und für eine neue Umverteilung von oben nach unten". Wie "übersetzt" man den Wahlsieg von Rot-Grün in eine "neue soziale Protestbewegung" gegen Rot-Grün? Indem die Forderungen der sozialen Bewegungen eingeklagt werden, meint Angela. Von wem? Von einer "neuen Linken", die "sich herausbilden muß". Wer könnte das sein? "Die PDS kann für diesen Prozeß ein Kristallisationspol sein" - wenn sie es schafft, gleichzeitig Opposition im Bundestag und Regierungspartei im Schweriner Landtag zu sein; und wenn sie gleichzeitig "ihre Oppositionsrolle nicht nur im Parlament verwirklicht".

So richtig es ist, die verschiedenen oppositionellen Kräfte zusammenzubringen und die PDS nach links zu öffnen - die Vorstellung, alles sammelt ("kristallisiert") sich um die PDS, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt, nicht nur wegen der partei-unabhängigen Linken, die das aus mehr oder weniger gutem Grund ablehnen. Für die PDS, die erstmals auch im Westen nennenswerten Erfolg hatte, ist dort vor allem das unzufriedene Potential am linken Rand von SPD und Grünen interessant. Auch deshalb wird die PDS möglichst bald, am besten gleich jetzt in Mecklenburg-Vorpommern, ihre "Regierungsfähigkeit" beweisen wollen - so schmerzlich das für diejenigen westdeutschen Linken sein mag, die (wie ich) die PDS gewählt haben, damit sie im Bundestag den Part der linken Opposition übernimmt.

Am Ende, vielleicht schon in vier Jahren, wird die PDS auch auf Bundesebene koalitionsfähig sein. Zumindest würde dann eine voraussichtlich geschwächte rot-grüne Koalition die Stimmen der PDS nicht mehr ablehnen. Eine von der PDS tolerierte rot-grüne Minderheitsregierung wäre nicht nur ein weiterer Schritt zur "Normalität", sondern auch, auf parlamentarischer Ebene, der günstigste Fall, der überhaupt eintreten kann.

Alles andere ist Spekulation: die linken "Spielräume" ebenso wie die neuen "Töne" und "Begründungszusammenhänge", mehr noch die "neue Linke", die von kampfbereiten Gewerkschaften vermittelte "neue Hoffnung", die PDS als "Kristallisationspol" einer machtvollen außerparlamentarischen Opposition. Auf letztere müssen linke Zeitungsredaktionen nicht nur hoffen, sie können auch etwas dafür tun. Aber das stimmt immer und hat mit dem Ergebnis der Bundestagswahl herzlich wenig zu tun.

Js.

Auf Kommentare, Anregungen und Kritik freuen sich AutorInnen und ak-Redaktion

nach oben