Marokko
Soziale Proteste nach dem Tod eines Fischhändlers, Erwachen der Opposition, Saharabesatzung und soeben zu Ende gegangene Klimakonferenz

von Bernard Schmid

11/2016

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Das nennt sich schlechtes Timing. Aus Sicht des marokkanischen Regimes kamen die Proteste, die am Wochenende des 29./30. Oktober ausbrachen und vor allem die berbersprachige Nordprovinz des Landes erfassten, nun wirklich „echt ungelegen“. Drohten sie ihm doch die große internationale Show kaputt zu machen, die das monarchische, feudal-kapitalistische Regime sich so schön ausgemalt hatte.

Seit einem Jahr hatte es die internationale Klimakonferenz COP22, zu der Vertreterinnen und Vertreter von 196 Staaten erwartet wurden, vorbereitet. Diese fand vom 07. bis zum Freitag, den 18. November dieses Jahres in Marrakesch statt. In ihrem Vorfeld hatte Marokko sich als internationalen Musterschüler in Sachen Klimaschutz zu profilieren versucht und angekündigt, seine CO2-Emissionen bis im Jahr 2030 um 32 Prozent zu reduzieren. (Vgl. http://www.liberation.fr/ ) Riesige Solarenergie-Anlagen, die durch das Klima vor allem im wüstenhaften Süden Marokkos oder im Atlasgebirge begünstigt werden, sollen es möglich machen.

Dass Opposition, etwa gegen die Klimapolitik der Großmächte, im Vor- und Umfeld der Konferenz weitgehend unterdrückt wurde und etwa die sehr aktive Vereinigung ATTAC-Marokko mit Versammlungsverboten überzogen wurde – vgl. http://www.cadtm.org/Les-autorites-marocaines -, sollte dabei in den Hintergrund rücken. (Eine oppositionelle Kundgebung fand jedoch am 11. November statt, an der auch Christine Poupin aus der französischen radikalen Linken teilnahm. Auch zuvor war es zu eigenständigen Aktivitäten aus der marokkanischen Zivilgesellschaft gekommen; vgl. etwa https://blogs.mediapart.fr/)

Austragungsort der Klimakonferenz: Internationaler Reputationsgewinn

Ebenso sollte der neue Prestigegewinn Marokkos vergessen machen, dass die bisweilen beobachtete Unterdrückung elementarer Menschenrechte Marokko noch vor kurzem internationale Negativschlagzeilen bescherte. Aufgrund einer Folterklage, die durch einen französisch-marokkanischen Doppelstaatsbürger erhoben worden war, wurde etwa der Chef des marokkanischen Nachrichtendiensts DGST - ’Abdellatif Hammouchi – im Februar 2014 vorübergehend in Frankreich festgesetzt. Die Justiz hatte ein Ausreiseverbot über ihr verhängt.

Die französische Staatsmacht bemühte sich aufgrund massiven Drucks des marokkanischen Regimes daraufhin allerdings nicht nur alsbald darum, den Affront vom Tisch zu wischen und ihm die Ausreise doch noch zu ermöglichen. Ein Jahr später, im Februar 2015, ordnete die Pariser Regierung ferner auch a, Hammouchi das französische Verdienstkreuz Légion d’honneur zu verleihen. In jüngster Zeit machte Nachrichtendienst-Boss Hammouchi übrigens davon reden, indem er nun die marokkanischen Polizisten darauf drillen will, „sensibel für das Thema Menschenrechte“ zu werden...; echt wahr... Vgl. dazu http://fr.le360.ma

Westsahara & marokkanische Afrikastrategie

Einen weiteren Erfolg konnte das marokkanische Regime in den letzten Wochen dadurch erringen, dass es – wie im Juli 2016 angekündigt wurde - in die Afrikanische Union wieder aufgenommen wird. Während die Polisario-Front, die gegen die anhaltende marokkanische Besetzung der Westsahara kämpft (aufgrund ihrer Präsenz als AU-Mitglied war Marokko 1984 ausgetreten), soeben aus ihr ausgeschlossen wurde. Den Hauptgrund dafür bildet die Tatsache, dass Marokko in jüngster Zeit als Großinvestor in mehreren afrikanischen Staaten wie Côte d’Ivoire, Mali und Senegal auftritt. Als Finanzier von Infrastrukturmaßnahmen hat das marokkanische Regime dabei zum Teil die frühere Rolle, die Libyen unter dem vormaligen Qadhafi-(eingedeutscht Gaddafi-)Regime auf dem afrikanischen Kontinent spielte, übernommen. Mit dem Unterschied, dass Marokkos Regionalmachtambitionen bei den internationalen Großmächten wohlgelitten sind. Die Ambitionen Marokkos werden finanziell dadurch ermöglicht, dass das Land nach dem Ausbruch der Finanzkrise in den USA 2007/08 zum Standort vieler Banken, Versicherungskonzerne und Finanzinstitute geworden ist – als „sicherer Hafen“ sowie Drehscheibe bei der Durchdringung Afrikas. Das wirft nebenbei Steuern für den marokkanischen Staat ab.

Am 06. November 16 hielt der marokkanische Monarch, wie alljährlich, seine Rede zum Jahrestag des Beginns des „grünen Marsches“. Mit ihm hatte das Regime in Rabat im November 1975 die Besiedlung der Westsahara durch marokkanische Kolonisten begonnen. Die Besonderheit in diesem Jahr war, dass Mohammed VI. seine Ansprache in der senegalesischen Hauptstadt Dakar hielt (vgl. http://fr.le360.ma sowie http://afrique.le360.ma/senegal/). Die dortige Regierung sprach ihm in jeglicher Hinsicht ihre Rückendeckung aus. Diesen Prestigegewinn Marokkos als subimperialistisches Zentrum und Regionalmacht bereitete auch die jüngste Reise von Mohammed VI. zuerst durch Ostafrika (mit Station u.a. in Rwanda und Tansania) sowie mehrere westafrikanische Länder vor. Vgl. zur neuen, aktiven Einflusspolitik Marokkos im übrigen Afrika auch: http://www.lemonde.fr/

Tod eines Fischhändlers

Es hätte also Alles so schön sein können.. Hätte. Doch dann drohten ihm die innenpolitische Proteste glatt einen Strich durch die Rechnung zu machen. Am Freitag, den 28. Oktober hatte der dreißigjährige, sozial prekäre Straßenhändler Mouhcine Fikri einen schrecklichen Tod gefunden. Die Polizei hatte seine Ware beschlagnahmt; offiziell, weil deren Verkauf gegen ein saisonales Fangverbot (es handelte sich um Schwertfisch) verstieß.

Eine solche Schutzbestimmung gilt allerdings deswegen, weil es gilt, die lokalen Fischbestände gegen das Leerfischen durch meist internationale Fangflotten zu schützen. Die bescheidene Ware des Straßenhändlers kam jedoch in Wirklichkeit, wie die Untersuchung einer marokkanischen Zeitung ergab, gar nicht von solchen Fabrikschiffen, wie sie oft aus Ländern der EU in marokkanische Gewässer einlaufen. Sie stammte von kleinen Fischerbooten örtlicher Anwohner, die dann, wenn sie nur einzelne Exemplare herausziehen, nicht gegen die geltenden Schutzregeln verstoßen. // Vgl. Vgl. http://fr.le360.ma // In Wirklichkeit ging es allerdings wohl auch gar nicht um diesen Vorwurf der Beteiligung an einer illegalen Praxis. Sondern wohl schlicht darum, dass die Polizei alltäglichen Schikanen gegen die prekären Straßenhändler ausübt, vor allem dann, wenn diese kein Schmiergeld abdrücken.

Um sich der, durch die Polizisten angeordneten Zerstörung seiner Ware zu widersetzen, kletterte der junge Mann ihr auf das Müllfahrzeug hinterher. Dabei wurde er durch den Luftzug hinabgesaugt, während zwei seiner Gefährten sich durch einen Sprung vom Fahrzeug retten konnten. Und wurde am Ende im Inneren des Müllwagens zermalmt. Umstritten bleibt, wie es genau dazu kommen konnte, und warum Mitarbeiter der Müllabfuhr auf den Auslöser drückten. Schnell ging die Nachricht um, einer der beteiligten Polizisten habe in marokkanischem Dialektarabisch „Zermalme seine Mutter!“ ausgerufen, dies wurde jedoch später durch anwesende Augenzeugen dementiert. Unfall oder vorsätzliche Tötung?, diese Frage ist nicht gänzlich geklärt – die Todesumstände des 30jährigen Fikri sind auf jeden Fall tragisch genug.

Bilder von dem Vorfall (also von der entstellten Leiche des jungen Mannes) tauchten alsbald in den „sozialen Medien“ auf und machten quer durch Marokko die Runde. Daraufhin setzten Demonstrationen ein, die vierzig marokkanische Städte erfassten. Aber auch in französischen Städten wie Montpellier, Paris und Lille sowie in Belgien und den Niederlanden wurde, meist vor konsularischen Einrichtungen Marokkos, protestiert. Am Freitag, den 04. November kamen zu einer erneuten Großdemonstration in der Hafenstadt Al-Hoceima (gut 200.000 Einwohnerinnen und Einwohner) stattliche 60.000 Menschen zusammen; vgl. http://fr.le360.ma/

Schiefe Parallele zum „Frühling“ 2011

Manche Beobachter/innen zogen schnell Parallelen zum Fall des prekären Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi, der sich selbst (infolge einer Auseinandersetzung mit der Polizei) im Dezember 2010 in der tunesischen Stadt Sidi Bouzid mit einer brennbaren Flüssigkeit übergoss und an seinen Verletzungen später starb. Der Tod Bouazizis hatte Proteste zur Folge, die sich schnell über ganze Tunesien ausweiteten und den Sturz des seit 1987 autoritär regierenden Präsidenten Ben Ali auslösten. Und denen ab Januar und Februar 2011 eine Protestwelle in weiteren arabischsprachigen Ländern (Ägypten, Jemen, Bahrain, Libyen...) folgte.

Die Parallele wurde mutmaßlich zu schnell gezogen. Ben Ali an der tunesischen Regimes war zum Jahreswechsel 2010/11 bereits weitgehend gesellschaftlich isoliert. Hingegen besitzt das marokkanische Regime noch eine gewisse soziale Basis, die unter anderem auf klientelistischen Netzwerken und Korruption (und daraus erwachsenden Loyalitäten), aber auch auf der spirituellen Rolle des Königs in der marokkanischen Staatsreligion basiert. Allerdings schrumpfte diese Basis erheblich zusammen.

Dies belegt etwa die schwache Teilnahme an den Parlamentswahlen vom 07. Oktober 2016, deren beide Hauptgewinner die islamistische Partei PJD (ungefähr mit der türkischen AKP vor der extrem autoritären Wende des Erdogan-Regimes vergleichbar, seit 2011 an der Regierung) sowie die monarchistische Honoratiorenpartei PAM darstellen. // Vgl. auch Zum Ausgang der Wahl vom 07. Oktober 16 – für König oder Koran? Oder beides? // Beide Parteien kooperieren mit den politisch-ökonomischen Netzwerken der marokkanischen Monarchie, die wiederum wirtschaftlich mit den Interessen multinationaler Konzerne in Marokko und im übrigen Afrika verflochten sein, respektive ordnen sich ihnen unter. Die Wahlbeteiligung betrug offiziell 43 Prozent, doch lässt sich leicht überprüfen, dass diese Anteil sich lediglich auf die Zahl der (auf freiwilliger Basis) in Wählerverzeichnisse eingetragenen Erwachsenen bezieht. Gemessen an der Gesamtzahl der Volljährigen in Marokko gingen nur 23 Prozent wählen, noch weniger als 2011.

Dennoch, auch wenn der Unmut in der Gesellschaft über das Regime wächst, ist es nicht so isoliert wie zuletzt Ben Ali. König Mohamed VI. war intelligent genug, um von seinem damaligen Aufenthaltsort in Ostafrika (Kigali) Stellung zu beziehen und u.a. eine „schonungslose Untersuchung“ bezüglich der Verantwortung der Polizei beim Tod von Mouhcine Fikri anzuordnen. Die Staatsanwaltschaft ließ elf Beteiligte, darunter Beamte, in Untersuchungshaft wandern. Es ging vordergründig darum, den Brandherd schleunigst auszutreten. Genauer verhielt es sich allerdings so: Es traf acht Staatsbeamte, die in den Tod Fikris verwickelt sein könnten – und drei Angehörige der Fischereiaufsicht, denen ihrerseits vorgeworfen wurde, beim illegalen Fischhandel ihre Hühneraugen zugedrückt zu haben. Darauf drohten die Aufsichtsbehörden im Hafen von Al-Hoceima mit einem Streik; den dreien dürfte letztendlich wohl keine größere Ungemach blühen (vgl. http://fr.le360.ma/ ). Einige dort tätige Fischer wiederum wurden durch die Regierungsbehörden mit funkelnagelneuen Booten beschenkt – bzw. diese wurden ihnen versprochen -, wohl um ihren Unmut abwenden. Vgl. http://www.yabiladi.com

Ungünstig gestimmt über die Proteste äußerten sich unterdessen die Salafisten, denen ihr Bonus als vermeintlich „radikalste Opposition“ flöten zu gehen droht. Die Bartträger wetterten über undisziplinierte Elemente in den Demonstrationen im nordmarokkanischen Berbergebiet (wobei sie allerdings umgekehrt lobend den Ordnerdienst hervorhoben, welcher für Disziplin gesorgt habe) und über die „Urheber einer Fitna“. Als Fitna bezeichnet man in der muslimischen Überlieferung eine Periode der Zwietracht „unter Muslimen“, eines schädlichen und grundsätzlich negativen Bruderkriegs unter Gläubigen. Vgl. http://fr.le360.ma/politique/

Ein vorläufiges Fazit

Auch wenn absolut damit zu rechnen ist, dass dem Regime in absehbarer Zeit eine vorläufige Eindämmung der Revolte gelingt: Letztere wird nur ein Glied in einer Kette bilden, die sich fortsetzen dürfte. Im Frühjahr 2011 hatte ein Ausläufer des Massenprotests in den arabischsprachigen Ländern, in Gestalt der „Bewegung des 20. Februar“, auch Marokko erfasst. Fünf Jahre danach glimmen noch Funken der damaligen Protestbewegung. Hinzu kommt, dass die nordmarokkanische Berberregion über starke historische Kampftraditionen verfügt, die auf den Aufstand gegen die Kolonialmächte Frankreich und Spanien in den 1920er Jahren zurückgehen. Marokkos Regime wäre schlecht beraten, würde es sich nach einem Erfolg der COP22-Show nun beruhigt zurücklehnen.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Bericht vom Autor für diese Ausgabe.