Marokko
Zum Ausgang der Wahl vom 07. Oktober 16 – für König oder Koran? Oder beides?


von Bernard Schmid

10/2016

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Sie waren an der Regierung, jedoch nicht an der Macht. So lautet traditionell eine linke Kritik etwa an sich Reformregierungen, die sich zur Linken zählen, jedoch gegen die Machtfülle des Kapitals und/oder bürokratischer Eliten im Staatsapparat wenig bis nichts an positiver Veränderung bewirken können. In Marokko – wo gewählte Regierungen es nicht nur mit dem Kapital, sondern auch mit der Monarchie als eigentlicher Machtzentrale zu tun haben - hingegen scheint diese Erkenntnis nun als eine Art Entschuldigung für die seit dem Winter 2011/12 regierenden Islamisten vom PJD, der „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“, zu dienen. Der Vollname der Partei ist identisch mit dem der türkischen AKP.

Marokko war nach den Wahlen vom 25. November 2011 das dritte Land neben Tunesien und Ägypten, in dem infolge der Umbrüche seit Anfang des Jahres eine islamistische Partei an die Regierung gewählt wurde. Dagegen scheiterten islamistische Kräfte in Libyen zwei mal, 2012 und 2014, bei diesem Vorhaben, sicherten sich allerdings seit Sommer 2014 über die eigenmächtig agierenden Milizen die Macht über die Westhälfte des politisch gespaltenen Landes.

Marokko ist nun anlässlich der Parlamentswahlen vom 07. Oktober d.J. das erste unter den genannten Ländern in Nordafrika, das eine islamistische Partei in führender Position an der Regierung bestätigt. Allerdings regierte der PJD nicht allein, sondern stand in mehreren Koalitionen. Zuletzt regierte er seit 2003 mit der wirtschaftsliberalen Partei Mouvement populaire (MP), der früher thronnahen Partei „Nationale Sammlung der Unabhängigen“ (RNI) und der früher einmal kommunistischen, heute bürgerlich-elitären Kleinpartei PPS oder „Partei für Fortschritt und Sozialismus“.

Die wahre politische Macht in Marokko liegt allerdings bei der Monarchie, die keinesfalls mit dem britischen, belgischen oder niederländischen Königshaus zu vergleichen ist. Bis in die neunziger Jahren und unter dem 1999 verstorbenen Vater des jetzigen KÖnigs Mohammed VI. – Hassan II. – konnte man noch von einer absoluten Monarchie mit stark repressiven Zügen sprechen, heute handelt es sich eher um eine konstitutionelle Monarchie, jedoch mit echter Regierungsgewalt des Königs.

„Zivile“, nicht direkt aus dem Staatsapparat hervorgewachsene Parteien werden deswegen mitunter von ihm mit der Regierungsbildung betraut, sitzen dabei aber auf die Dauer am kürzeren Hebel, weil das Könighaus – als größter wirtschaftlicher Akteur in Marokko mit seinen Stiftungen und Investimentfonds – faktisch über Investitionen im Land, über den Zugang zu Reichtümern und über die wichtigsten Weichenstellungen entscheidet. Internationale Investitionen fließen ins Land und reißen sich mittlerweile auch etwa das teilweise privatisierte Bildungswesen unter den Nagel, müssen dabei aber mit Partnern aus den Reihen des Königshauses teilen, die als passive Anteilseigener ein Aktienpaket übernehmen. 1997/98 wurde die marokkanische sozialistische Partie USFP mit der Regierungsbildung beauftragt, 2011 dann der PJD. Beide enttäuschten einen beträchtlichen Teil ihrer Wählerschaft, da sie nicht wirklich entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung im Land nehmen konnten. Beide verzichteten im Vorfeld ihrer Machtbeteiligung auf jegliche ernstzunehmende Kritik an der Monarchie, eine fundamentale strategische Entscheidung.

Doch was den PJD betrifft, so scheinen viele der 15 Millionen Wahlberechtigten, die auf Wählerverzeichnisse eingetragen sind (bei 23 Millionen erwachsenen Marokaner/inne/n) – von denen 43 Prozent auch abstimmen gingen, bei der letzten Parlamentswahl 2011 waren es 45 Prozent – ihm unter Berücksichtigung seiner begrenzten Machtmöglichkeiten verziehen zu haben.

Das marokkanische Parlament weist 395 Sitze auf, davon werden 305 über die Regionen vergeben und neunzig über landesweite Listen, die vor allem Frauen und jungen Kandidaten ins Parlament verhelfen sollen. Von ihnen eroberte der PJD nun insgesamt 125, im letzten Parlament waren es noch 107.

Die Partei von Premierminister ’Abdelilah Benkirane bleibt damit stärkste Kraft. Zu ihrem stärksten Rivalen aufgebaut wurde unterdessen eine neue Formation unter Führung von Ilyas El Omari, die staatstragende Partei PAM oder Parti Authencité et modernité, sinngemäß ungefähr „Partei für Kulturverbundenheit und Moderne“. Diese Organisation, die sich vielerorts auf Unternehmer und Honoratioren stützt, wurde im Jahr 2008 von Fouad ’Ali El-Himma, einen Duzfreund und späteren Berater des Königs Mohammed VI., gegründet respektive aus fünf zuvor existierenden Kleinparteien zusammengezimmert. Sie vertritt faktisch die Interessen der Monarchie, auch wenn sie sich eine vage sozialdemokratisch klingende Programmatik gegeben hat und etwa in französischen Medien sogar fälschlich als „Mitte-Links-Partei“ eingestuft wird. An der bisherigen Regierungskoalition nimmt diese Partei nicht teil; sie regiert jedoch fünf von zwölf marokkanischen Regionen.

Nachdem der PAM nun insgesamt 102 Sitze – bislang waren es 47 – und von der vorher viert- zur zweitstärksten Kraft aufstieg, scheint sich Marokko neuerdings auf ein politisches Zwei-Parteien-System zuzubewegen. Vormals führende politische Kräfte wie die von 1998 bis 2011 mitregierende Sozialdemokratie (USFP) mit nur noch 20 Sitzen – bei den Wahlen von 1997 wurde sie mit 57 von damals 325 Mandaten noch stärkste Partei – oder die konservative Partei Istiqlal mit nur 46 Sitzen befinden sich erkennbar im Abwind. Allem Anschein nach ersetzt der PAM, für den auch Teile der urbanen Mittelklassen und gebildeten Schichten stimmten, vor allem die Sozialdemokratie in ihrer früheren politischen Rolle. Die „Föderation der demokratischen Linken (PDG), die aus mehreren linkssozialistischen Kleinparteien besteht, erhielt zwei Mandate, über die ihre Generalsekretärin Nabila Mounib sich „glücklich“ äußerte. Offenkundig fehlt es dieser zu Wahlen antretenden Linken an einer Verankerung vor allem in den sozialen Unterklassen. Auf der radikalen Linken rief die einstmals maoistische Vereinigung „Demokratischer Weg“ zum Wahlboykott und wurde dadurch, obwohl dies nicht verboten ist, wie bei den Regionalwahlen 2015 zur Zielscheibe von Repression.

Auch die salafistische Strömung des politischen Islam, die einen wesentlich autoritäreren Ansatz vertritt als das Gros des PJD, war bei diesen Wahlen präsent. Salafistische Kandidaten wurden dabei auch durch andere Parteien, und nicht nur den PJD, aufgeboten. Im nordmarokkanischen Tanger trat ein salafistischer Imam namens Hicham Temsmani Jad als Spitzenkandidat für die bürgerlich-nationalistische Partei Istiqlal (Unabhängigkeit) an. Temsmani saß in den Jahren 2004/05 vorübergehend in Untersuchungshaft, nachdem ein Konvertit – Robert Richard Antoine Pierre alias Abu ’Abderrahman – seinen Namen in Zusammenhang mit dem Attentat von Casablanca von 2003 zitiert hatte. Möglicherweise handelte es sich um eine falsche Anschuldigung. Temsmani wurde jedenfalls 2005 in Rabat gerichtlich freigesprochen. Der französische Konvertit selbst wurde zu lebenslanger Haft verurteilt.

Allem Anschein nach war es ein früherer enger Gesinnungsfreund von Temsmami, der selbst als Kandidat für die Istiqlal-Partei ich Fès in Erscheinung trat, Mohamed Abdelwahab Rafiki alias Abu Hafs, der den Vermittler zwischen der Partei und Temsmani spielte. Rafiki gilt allerdings als jemand, der seine vormalige Ideologie in Frage stellte und sich von Teilen von ihr verabschiedet hatte. Bei Temsmani gibt es bislang keine Hinweise dafür. Allerdings predigte er im Rahmen seiner Istiqlal-Kandidatur, und im Einklang mit der Partei, einen „nationalen Salafismus“, der die innenpolitischen Rahmenbedingungen in Marokko respektiere, also nicht einen djihadistischen „Internationalismus“ verfolgt.

Hingegen verhinderte das marokkanische Innenministerium die Kandidatur eines anderen Salafisten, die des 39jährigen Hammad Kabbadj, für den islamistischen PJD. Er sollte ursprünglich in der als Touristenhochburg geltenden Stadt Marrakech antreten. Die Präfektur und das ihr übergeordnete Innenministerium lehnten seine Bewerbungsunterlagen jedoch wegen „extremistischer“ und „Hass sowie Gewalt verherrlichender Ideen“ ab. Kabbadj stand zunächst der lokalen „Assoziation des Aufrufs für den Koran und die Sunna“ nahe, die als salafistisch unter wahhabitischem – also saudi-arabischem – Einfluss gilt. Doch später distanzierte er sich von der Vereinigung, deren Chef Mohammed Maghraoui von marokkanischen Menschenrechtsorganisationen scharf dafür kritisiert wurde, dass er für die Verheiratung von neunjährigen Mädchen eintrat.

Nach seinem Bruch mit der Vereinigung näherte Kabbadj sich einem Think-Tank namens „Bewegung für Einheit“ – gemeint ist die göttliche Einheit, statt der vom Christentum angenommenen Dreifaltigkeit – „und Reform“ (MUR) an. Der MUR bildet den ideologisch gestählten, harten Kern der Partei von Premierminister Benkirane und gibt die parteinahe Tageszeitung At-Tajdid (Erneuerung) heraus. Er wird durch die, ursprünglich in Ägypten entstandene, internationale Strömung der Muslimbrüder als ihre Vertretung in Marokko anerkannt. Laut einem Bericht der Zeitung As-Sabah (Der Morgen) vom 06. Oktober 16 hielten die internationalen Muslimbrüder am 20. September dieses Jahres eine geheim gehaltene Tagung in Istanbul ab. Dabei ging es um die Einflussnahme auf Marokko. Die Türkei zählt neben Qatar zu den Sponsoren des PJD. Auf dem Treffen in Istanbul ging es um strategische Fragen, und es wurde die Notwendigkeit betont, den Staatsapparat sukzessive mit eigenen Gefolgsleuten zu durchsetzen. Der marokkanische PJD der durch das MUR-Mitglied Zouhair Attouf vertreten war - forderte dabei seine Korrespondenten dazu auf, Druck auf das marokkanische Regime auszuüben, um die Einflussmöglichkeiten der Partei über den bisherigen eng gesteckten Rahmen hinaus zu erweitern.

Derzeit befindet der MUR sich allerdings nicht gerade in Hochform. Zwei seiner Führungsfiguren, der 63jährige Moulay Benhammad und die 62jährige Witwe Fatima Nejjar – beide bekleideten je einen Vizevorsitz – wurden am 20. August festgenommen. Die Polizei hatte sie an einem Strand der Stadt Mohammedia „auf frischer Tat“ beim Ehebruch ertappt,, das in Marokko ein Delikt mit einer Strafandrohung zwischen einem Monat und einem Jahr Haft. Beide wurden von allen politischen Funktionen suspendiert. Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach – oder verhält es sich genau umgekehrt?

Editorischer Hinweis

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.