Widersprüche, Dilemmata und Aporien
Anmerkungen zur deutschen Unterstützungskultur für Verfolgte des Naziregimes und deren Nachkommen

von Antonín Dick

11-2014

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onlinezeitung

Es kann vorkommen, dass die Verfassung frei ist, der Bürger
aber nicht. Der Bürger kann frei sein, die Verfassung aber
nicht. In solchen Fällen ist die Verfassung de jure frei,
nicht aber de facto. Der Bürger ist de facto frei, nicht aber
de jure.

Montesquieu: Vom Geist der Gesetze (1)

Der deutsche Geist ist sozial und politisch wesentlich uninteressiert.
Im Tiefsten ist diese Sphäre ihm fremd. Das ist gewiss nicht nur
negativ zu werten, aber man kann hier von einem Vakuum, einem
Mangel und Ausfall sprechen, und es ist wohl wahr, dass in Zeiten,
wo das gesellschaftliche Problem dominiert, wo die Idee des sozialen
und ökonomischen Ausgleichs, einer gerechteren wirtschaftlichen
Ordnung von jedem wachen Bewusstsein als die lebendigste und
dringliche Aufgabe empfunden wird, dass unter solchen Umständen
dieser oft so fruchtbare Ausfall nicht zum Glücklichsten hervortritt …“

Thomas Mann: Vortrag vom 13. Oktober 1943 in der Library of  
Congress in Washington (2)

Die Wiedergutmachung ist nicht vordringlich ein Resultat des Willens
der Deutschen, etwas wiedergutzumachen, sondern eine Forderung
der Siegermächte an Deutschland, dies zu tun.“

Göran Rosenberg: Ein kurzer Aufenthalt auf dem Weg von
Auschwitz (3)

1. Kontradiktion zwischen Artikel 139 (Befreiungsgesetz) des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland und Einigungsvertrag (Anlage II)

Artikel 139 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland besagt: „Die zur ‚Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus‘ erlassenen Rechtsvorschriften werden von den Bestimmungen dieses Grundgesetzes nicht berührt.“ Die Anordnung zur Sicherung der rechtlichen Stellung der anerkannten Verfolgten des Naziregimes ist am 5. Oktober 1949 von der Deutschen Wirtschaftskommission für die sowjetische esatzungszone beschlossen worden. Diese Anordnung vom 5. Oktober 1949 ist keine Rechtsvorschrift der DDR, da dieser Staat erst am 7. Oktober 1949 gegründet wurde. Erlassen worden ist diese Anordnung von der Deutschen Wirtschaftskommission, und zwar zum Schutz der Verfolgten des Naziregimes auf Grundlage von Artikel 3 der Erklärung von Jalta, am 11. 02. 1943 unterzeichnet vom Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland, von den Vereinigten Staaten von Amerika und von der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, sowie auf Grundlage von Abschnitt IV des Potsdamer Abkommens, am 2. August 1945 unterzeichnet von der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, von den Vereinigten Staaten von Amerika und vom Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland. Diese Anordnung kann folglich nicht willkürlich durch deutsche Gesetze oder Rechtsvorschriften ausgehebelt werden. Eine solche rechtswidrige Aushebelung geschieht jedoch mit dem Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands – Einigungsvertrag – ,wenn nach Anlage II Sachgebiet B Abschnitt I dieses Vertrages festgelegt wird: „Folgendes Recht der Deutschen Demokratischen Republik bleibt in Kraft: 1. § 2 Abs. 4 der Anordnung zur Sicherung der rechtlichen Stellung der anerkannten Verfolgten des Naziregimes vom 5. Oktober 1949 (ZVOBl. Nr. 89 S. 765). “ Die anderen Rechtsvorschriften der Schutzverordnung werden völkerrechtswidrig annulliert. Dies steht eindeutig im Widerspruch zu Artikel 139 Grundgesetz, der als Befreiungsgesetz rechtsverbindlich Rechtsvorschriften der Alliierten der Anti-Hitler-Koalition für die Verfolgten des Naziregimes unter den Schutz des Grundgesetzes stellt.

2. Kollision zwischen der allgemeinen Anerkennung der engen familiären Bindung zwischen Eltern und Kindern gemäß Artikel 6 Grundgesetz und der Isolierung beider Generationen bei Entschädigungsfragen nach dem Personalitätsprinzip gemäß Artikel 19 Grundgesetz und § 1 BGB.

Bei der rechtlichen Bewertung der Frage der Entschädigung für die Kinder von Verfolgten des Naziregimes wird oft so getan, als existiere ein Bretterzaun zwischen beiden Generationen. Heute, fast 70 Jahre nach Ende des Hitlerregimes, weilt ein großer Teil der Verfolgten des Naziregimes nicht mehr unter uns. Ihre Kinder aber sollen jetzt medizinisch gesicherte Nachweise ihrer Beschädigungen beibringen, wird erwogen, um materielle Hilfen anzumelden. Das ist insofern absurd, als die schweren Einschränkungen, Behinderungen und Beschädigungen, die die Angehörigen der Zweiten Generation hinnehmen mussten, in der Regel ja gerade darauf beruhen, dass eine Umkehr des Eltern-Kind-Verhältnisses stattgefunden hat, damit beide, Eltern wie Kinder, nach dem Krieg in einer feindseligen Umwelt mit Nichtwillkommenskultur gemeinsam überleben und leben konnten. Wie will man einen solchen eingeschränkten Persönlichkeitsprozess ohne Hinzuziehung der Eltern wissenschaftlich nachweisen, ohne nicht wieder schwere irreversible seelische Schäden zum Nachteil der Antragsteller auszulösen? Die Anordnung zur Sicherung der rechtlichen Stellung der anerkannten Verfolgten des Naziregimes vom 5. Oktober 1949 (ZVOBl. Nr. 89 S. 765) folgt dagegen von vornherein der allgemeinen Anerkennung der engen familiären Bindung zwischen Eltern und Kindern und dem Prinzip der humanitären Hilfe, indem es Regelungen für Hilfen für Verfolgtenkinder einbaut: mit § 1 Buchst. a und f Rechtsvorschriften für Hinterbliebene von Verfolgten des Naziregimes, mit § 5 eine Rechtsvorschrift für Studienhilfen. Gemäß Durchführungsbestimmungen zu der Anordnung zur Sicherung der rechtlichen Stellung der anerkannten Verfolgten des Naziregimes vom 10. 02. 1950, also gemäß DDR-Recht, wurde dann auch volljährigen Kindern von Verfolgten des Naziregimes das Recht auf unverzügliche Versorgung mit angemessenem Wohnraum zugebilligt, einschließlich des Rechts der Nutzung des Wohnraums auf Lebenszeit. Die Studienhilfe beinhaltete eine ansehnliche Aufstockung des Stipendiums sowie ein üppig ausgestattetes Büchergeld. Hier wurde also die natürliche Einheit von Eltern und Kindern nicht in Frage gestellt zugunsten einer unnatürlichen Trennung zwischen Eltern und Kindern. Dieses Bretterzaunverfahren ist hingegen keine Erfindung, sondern Folge eines eklatanten Missstands, nämlich der Nichtanerkennung des Leids der NS-Verfolgten im deutschen Nachkrieg. Der Bundespräsident Joachim Gauck dazu klar und unmissverständlich: „Deutschland ist der Konfrontation mit den Opfern nationalistischer Vernichtungspolitik in der Nachkriegsära weitgehend ausgewichen. Westdeutschland wollte vergessen, Schuld verdrängen, die Vergangenheit unter den Aufbauleistungen des Wirtschaftswunders begraben. Viele, die im NS-Regime Verantwortung getragen hatten, gingen straffrei aus, die meisten Widerstandskämpfer hingegen galten als Vaterlandsverräter. Und für die Opfer der deutschen Grausamkeiten fehlte damals das Mitgefühl.“ 4) Der jetzige transgenerationelle Bretterzaun ist eine Folge dieser Verschleppung der Entschädigung. Aber aus dieser Sozialpathologie eine wissenschaftliche Grundlage für das Herangehen an die heutigen Ansprüche der Kinder der NS-Verfolgten zu zimmern – vor allem dieser entschädigungspolitische Ansatz isolierter Betrachtung, der die Generationen trennt statt zu vereinen – dieses Herangehen ist selbst Teil der jahrzehntelang gepflegten Sozialpathologie. Was wir jetzt als Ergebnis der jahrzehntelangen Verschleppung der Entschädigung für die Verfolgtenkinder haben, ist eine handfeste Aporie. Aber die Verfolgtenkinder sind nicht für deren Auflösung verantwortlich, sondern die Angehörigen der deutschen Mehrheitsgesellschaft, sofern diese überhaupt noch einen inneren Auftrag dazu verspüren.

3. Kinder von verstorbenen Verfolgten des Naziregimes sind Hinterbliebene und sie sind zugleich keine Hinterbliebenen

Auf Grund der Eltern-Kinder-Umkehr, einer grundlegenden sozialpsychologischen Gesetzmäßigkeit in Verfolgtenfamilien, sind volljährige Kinder von verstorbenen Verfolgten des Naziregimes de facto Hinterbliebene, aber sie sind es nicht de jure, demäß Gemäßenn es gilt § 5 Erstes Sozialgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland nur unter Voraussetzung der Nichtvolljährigkeit der Kinder: „Ein Recht auf angemessene wirtschaftliche Versorgung haben auch die Hinterbliebenen eines Beschädigten.“

4. Eingeschränkter Gebrauch des Grundrechts auf Entfaltung der Persönlichkeit für gefährdete Verfolgtenkinder

Artikel 2 Abs. 1 Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland besagt: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“ Die Paradoxie kommt vor, dass Kämpferinnen und Kämpfer für Demokratie, für Freiheit und für ein friedliebendes Deutschland, öffentlich mit zahlreichen Würdigungen und Ehrungen bedacht, nun aus ihrem anderen Leben erleben müssen, dass ihr Einsatz im Kampf gegen Hitler eigentlich sinnlos gewesen war, denn ihr Wertvollstes, das, was ihr Leben nach Hitler ausmacht, ihre Kinder, sie darben nicht selten, leben nicht selten unter der Armutsgrenze, verarmen und drohen trotz staatlicher Zuwendungen bloßer Geist zu werden, am Rande des Verlöschens dahinzudämmern, weil ja zu einem lebenswerten Leben in Würde nicht nur Wohnung, Heizung und Nahrung gehören, sondern auch soziale, politische und kulturelle Teilhabe. Emigrantenkindern geht es so, Angehörigen der Zweiten Generation von Naziverfolgten, die aus den GUS-Staaten nach Deutschland eingewandert sind, etlichen anderen Verfolgtenkindern. Und dies alles trotz unausgesprochener Staatsräson, dass Kindern von Verfolgten des Hitlerregimes geholfen werden soll. Auf dem Zwei-plus-Vier-Außenministertreffen in Moskau am 12, September 1990 in Moskau bekräftigte der Außenminister der Bundesrepublik Deutschland Hans-Dietrich-Genscher gemäß Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 ausdrücklich die Verantwortung für die Wiedergutmachung, indem er völkerrechtsverbindlich erklärte: „Wir gedenken in dieser Stunde aller Opfer des Krieges und der Gewaltherrschaft. Wir gedenken des unendlichen Leids der Völker, nicht nur derjenigen, deren Vertreter um diesen Tisch versammelt sind. Unsere Gedanken gelten dabei in besonderer Weise dem jüdischen Volk. Wir wollen, dass sich das niemals wiederholen wird … Wir werden uns unserer Verantwortung stellen, und wir werden ihr gerecht werden.“ In Artikel 2 der Vereinbarung zur Durchführung und Auslegung des Einigungsvertrages vom 18. August 1990 heißt es rechtsverbindlich: „Die vertragschließenden Seiten geben ihrer Absicht Ausdruck, gemäß Beschluss der Volkskammer der Deutschen Demokratischen vom 14. April 1990 für eine gerechte Entschädigung materieller Verluste der Opfer des NS-Regimes einzutreten. In der Kontinuität der Politik der Bundesrepublik ist die Bundesregierung bereit, mit der Claims Conference Vereinbarungen über eine zusätzliche Fondslösung zu treffen, um Härteleistungen an die Verfolgten vorzusehen, die nach den gesetzlichen Vorschriften der Bundesrepublik bisher keine oder nur geringfügige Entschädigungen erhalten haben.“ Das ist 1990 das Gesetz. Und wo ist, was die Zweite Generation anbetrifft, die Durchführung? Wo der Durchführungswille? Geraten die Kinder der Verfolgten des Naziregimes, die im Verfolgungszeitraum zwischen 1933 und 1945 geboren wurden, also mittelbare Opfer des Faschismus sind, auf einen ähnlichen Verschiebebahnhof wie die nichtanerkannten Opfer der Wehrmachtsjustiz, die erst ein halbes Jahrhundert später, wie im Bundestagsbeschluss vom 15. Mai 1997 nachzulesen, in die Gruppe der anerkannten Opfer aufsteigen durften?

5. Förderung der Erinnerungskultur bei gleichzeitiger Ausgrenzung der Verfolgtenkinder

Der jetzige Außenminister der Bundesrepublik Deutschland Frank-Walter Steinmeier erklärte anlässlich der Eröffnung einer Ausstellung in der Gedenkstätte des Konzentrationslagers Flossenbürg am 22. Juli 2007: „Wir wollen mit dieser Gedenkstätte allen Menschen Ehre erweisen, die unter dem Nationalsozialismus gelitten haben. Wir verneigen uns vor ihrem Leid. Und wir erinnern uns. Denn wir wissen: Versöhnung ist nur dort möglich, wo Erinnerung gegenwärtig wird. Wo wir als Deutsche unser schweres Erbe der Vergangenheit annehmen und uns unserer Verpflichtungen für die Zukunft bewusst werden. Wir wissen, dass wir heute als Vertreter eines freien, eines demokratischen und weltoffenen Deutschland sprechen dürfen, das danken wir auch vielen Menschen, die hier gelitten haben. Wir wissen: Das Leid der Menschen hier war unsagbar! Davor versagen der Verstand und das Herz, so hat es der Präsident Jutschenko eben ausgedrückt. Wir brauchen Hilfe, um über dieses Leid überhaupt sprechen zu können. Um uns dieses Leids zu erinnern. Um zu verstehen, was in deutschem Namen geschehen ist. Wir Deutschen müssen uns gegenseitig helfen, die Erinnerung wach zu halten. Wir Jüngeren brauchen die Hilfe der Älteren. So wie unsere Kinder unsere Hilfe brauchen. Und so soll diese Gedenkstätte ein Raum der tätigen Erinnerung für uns Deutsche sein. Wir wissen auch: Wir brauchen für diese Erinnerung die Hilfe derer, die den Terror der Nationalsozialisten überlebt haben.“ 5) Alles schön und gut. Aber Erinnerungsarbeit bei durchgängiger Ausgrenzung der Kinder der Verfolgten des Naziregimes, denn diese kommen in dieser Rede überhaupt nicht vor? Man fragt sich als Verfolgtenkind, was in den Köpfen der deutschen Eliten, seien sie nun regierungsamtlich oder unternehmerisch oder wissenschaftlich verortet, eigentlich vorgeht? Hören sie sich gar nicht selbst zu, wenn sie reden? Ist ihnen die sozialpathologische Grundierung ihres Redens über Opfer des Faschismus unter Voraussetzung von durchgängiger Ausgrenzung der mittelbaren Opfer des Faschismus gar nicht bewusst? Nicht bewusst, dass diese Ausgrenzung von Verfolgtenkindern in Wirklichkeit nichts anderes ist als der Versuch zur Enteignung von Trägern mit Verfolgungserfahrungen? Die mittelbaren Opfer des Faschismus sind doch die authentischen Erben der Erfahrungen, Gefühle und Forderungen der Überlebenden des Naziterrors und nicht die Kinder und Enkel der Mitläufer, Nutznießer und Täter des Nazisystems? Ist den Ausgrenzern denn gar nicht bewusst, dass sie mit diesem Enteignungsversuch gegen die elementaren Lebensinteressen der Überlebenden handeln, die im Alltag nicht nur überleben wollen, sondern leben, und dass dies einzig und allein nur in enger menschlicher Bindung an ihr Wertvollstes geschieht, nämlich an ihre Kinder? Was ist das für eine seltsame Kultur des sozialen Aufstiegs, bei der sich die Prädestinierten, die Kinder der Verfolgten, in die Reihe der Kinder der Mitläufer, Nutznießer und Täter stumm einreihen müssen, um zu Wort zu kommen, obwohl nur sie das authentische Wort zu formen fähig und von ihren Eltern dazu beauftragt und ermächtigt worden sind?

6. Partizipation versus Subordination

Im Staatsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zentralrat der Juden, geschlossen „im Bewusstsein der besonderen Verantwortung des deutschen Volkes für das jüdische Leben in Deutschland, angesichts des unermesslichen Leides, das die jüdische Bevölkerung in den Jahren 1933 bis 1945 erdulden musste“, verpflichtet sich die Bundesregierung gemäß Artikel 1 des Vertrages: „Die Bundesregierung und der Zentralrat der Juden in Deutschland, Körperschaft des öffentlichen Rechts, der nach seinem Selbstverständnis für alle Richtungen innerhalb des Judentums offen ist, vereinbaren eine kontinuierliche und partnerschaftliche Zusammenarbeit in den Bereichen, die die gemeinsamen Interessen berühren und in der Zuständigkeit der Bundesregierung liegen. Die Bundesregierung wird zur Erhaltung und Pflege des deutsch-jüdischen Kulturerbes, zum Aufbau einer jüdischen Gemeinschaft und den integrationspolitischen und sozialen Aufgaben des Zentralrats in Deutschland beitragen. Dazu wird sie den Zentralrat der Juden in Deutschland bei der Erfüllung seiner überregionalen Aufgaben sowie den Kosten seiner Verwaltung finanziell unterstützen.“ In diesem Sinne, im Sinne der Erhaltung und Pflege des deutsch-jüdischen Kulturerbes, das die Naziherrschaft in Deutschland zwischen 1933 und 1945 bis auf die Grundmauern zerstört hat, ist viel und Außerordentliches seit 1945 getan worden. Und es wird gegenwärtig viel und Außerordentliches auf diesem Gebiet der Wiederaufbauarbeit getan. Eine sinnvolle und notwendige Ergänzung und Erweiterung dieser nicht hoch genug einzuschätzenden Tätigkeit wäre gleichwohl eine relativ eigenständige Verortung der Interessenvertretung, Aufgabenstellung und wissenschaftlichen Erforschung von Geschichte und heutiger Lebensbedingungen der Kinder der Verfolgten des Naziregimes. Solche Organisationen bzw. Einrichtungen gibt es nicht in der Bundesrepublik Deutschland, weil die Verfolgtenkinder über weite Strecken vom Zugang zu den Kommandostellen von Staat und Gesellschaft ausgeschlossen worden sind. Jedoch im Ausland gibt es solche speziellen Organisationen bzw. Einrichtungen. Man denke nur an das amerikanische Institut zur Erforschung der Lebenssituationen in Geschichte und Gegenwart der Kinder des Holocaust in New York oder an die Aktion Kinder des Holocaust, eine Vereinigung gegen Antisemitismus, Rassismus und politischen Extremismus in Basel. Die Aktion Kinder des Holocaust versteht sich gemäß Statut als „ein internationaler Zusammenschluss von Nachkommen Überlebender, der nationalsozialistischen Judenverfolgung und des antifaschistischen Widerstands sowie deren Angehörigen und Freunden“. Für die Angehörigen der Zweiten Generation der Naziverfolgten, und zwar aller Opfergruppen, ist Erinnerungsarbeit, sei sie nun dokumentarischer, politischer, wissenschaftlicher, publizistischer, literarischer oder künstlerischer Natur, von geradezu existentieller Bedeutung für den eigenen Lebensprozess, für die tagtägliche Daseinsgestaltung. Sie wäre daher nicht nur schlechthin Partizipation, sondern schöpferische Partizipation im Sinne des Grundgesetzes und der Sozialgesetzgebung der Bundesrepublik Deutschland, ausgehend von der Forderung, endlich die Prämisse fallen zu lassen, die Kinder der Verfolgten lediglich als Objekte, nicht als Subjekte gesellschaftlichen Handeln aufzufassen. Und diese selbstbestimmte, aktive und schöpferische Partizipation der Kinder der Naziverfolgten wäre zugleich ein bedeutsamer Beitrag zur Immunisierung gegen den Ungeist eines wiederauferstandenen Nazismus in der Bundesrepublik Deutschland und seiner gleichgültigen Duldung, gerade unter der jungen Generation. Dass für die materielle Sicherstellung einer solchen eigenständigen Partizipation ein eigenständiger, staatlich geförderter Fonds eingerichtet werden müsste, versteht sich von selbst.

7. Pflegearbeit der Kinder der Verfolgten für die Eltern und das Versagen des Staates

Dass die Kinder der Überlebenden des Naziterrors helfend eingegriffen haben, wenn es darum ging, das Leben der alternden Eltern zu schützen und zu erhalten, war eine Selbstverständlichkeit. Sie haben ihre Eltern gepflegt, vor allem dafür gesorgt, dass sie nicht, was teilweise tatsächlich geplant war, von staatlichen oder pflegedienstlichen Stellen in ein deutsches Pflegeheim deportiert werden, was für sie in der Regel das Ende bedeutet hätte. Und sie tun es noch heute. Aber der von den Alliierten der Anti-Hitler-Koalition geschaffene Staat der entwaffneten Deutschen hat nicht, wie zum Beispiel in den Niederlanden, in Tschechien oder in Israel, dafür gesorgt, die für eine solche komplexe Aufgabe erforderlichen fachlichen Hilfen und Absicherungen auf medizinisch-pflegerischem Gebiet der Pflege von alternden Überlebenden der Naziverfolgung vorzuhalten, von entsprechende Spezialeinrichtungen ganz zu schweigen. Dazu wäre die Bundesrepublik Deutschland aber gemäß der Theresienstädter Deklaration vom 30. Juni 2008, die auch sie unterschrieben hat, verpflichtet gewesen. In Abschnitt 1 der Terezin Declaration heißt es: „Recognizing that Holocaust (Shoah) survivors and other victims of the Nazi regime and its collaborators suffered unprecedented physical and emotional trauma during their ordeal, the Participating States take note of the special social und medical needs of all survivors and strongly support both public and private efforts in their respective states to enable them to live in dignity with the necessary basic care that it implies.” Und die zuständigen staatlichen Behörden haben, ohne mit der Wimper zu zucken, es zugelassen, dass dieser oftmals übermenschliche und jahrelange Einsatz der Kinder für ihre traumatisierten naziverfolgten Eltern ohne jede Vergütung, also auch ohne eine Aufwandsentschädigung, geleistet wurde. Und es ist oft vorgekommen, dass dies geschah bei gleichzeitigem notwendigen Verzicht auf die berufliche Tätigkeit, was sich später zwangsläufig auf die Höhe der Rente auswirken musste, weil diese Pflegearbeit nicht anerkannt wurde – also bis hin zum unvermeidlichen Eintritt in die Altersarmut. Jetzt stehen nicht wenige Kinder von Naziverfolgten an der Schwelle zum Altern. All dies ist eine immer wirkende Folge der bereits genannten immer wirkenden Sozialpathologie, d. h. der Verschleppung der Anerkennung der Leidensströme der Opfer des Nationalsozialismus und ihrer Nachkommen, die fließen und fließen. Die Ursachen dieser sozialpathologischen Verschleppung? Ein komplexes Verhalten, dessen komplexe Ursachen sich aus politischen, historischen, mentalen und kulturgeschichtlichen Faktoren und Bedingungen zusammensetzen und nicht monokausal erklärbar sind. So viel scheint aber festzustehen: Auf jeden Fall ist ein gehöriger Schuss von robuster emotionaler Abwehr gegen andere im Spiel, wie immer man diese wissenschaftlich beschreiben mag, eine Abgründigkeit, die nach außen kaschiert wird mit einem gehörigen Schuss Sentimentalität, so dass man, um denLeitfaden für britische Soldaten in Deutschland 1944“ des Britischen Außenministeriums zu zitieren, von einer charakteristischen „Mischung aus Sentimentalität und Gefühlskälte“ 6) bei den Deutschen als einen der kulturellen Hintergründe für die Verschleppung der Entschädigungsleistungen für die unmittelbaren und mittelbaren Opfer des Faschismus zu sprechen hat.

8. Deutschland in der Entschädigungsfrage versus andere Länder in der Entschädigungsfrage

Es ist merkwürdig, dass in Israel die Kinder des Holocaust materielle Hilfen erhalten, in Deutschland, dem Täterland, jedoch nicht. Es ist merkwürdig, dass in den Niederlanden die Kinder von Überlebenden der Naziverfolgung Entschädigungsleistungen erhalten, in Deutschland, dem Täterland, jedoch nicht. Die Verhandlungen zwischen dem Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland und der Bundesrepublik Deutschland zur Entschädigung von NS-Opfern zogen sich von 1956 bis 1964 hin. Im Gegensatz zur britischen Haltung hatten nach dem Willen der Verhandlungsführer der Bundesrepublik Deutschland die Childsurvivors, die Kindüberlebenden, leerauszugehen. Der sarkastische Kommentar des Manchester Guardian vom 24. Dezember 1957 lautete: “German judges find nothing unjust in refusing every penny of compensation to a man whose life was blighted when he was a boy. Neatly they have countersigned the refusal of his petition (…) And they have toddled off the buy presents for their wives. For it is Christmas season.”

9. Verschleppung und verspätetes Handeln

Dass in Deutschland das große Thema Zweite Generation der Überlebenden des Naziterrors „sozial verträglich“ abgewickelt wurde, erkennt man jetzt daran, dass die literarischen Repräsentanten dieser Generation eben nicht aus Deutschland, dem Land der Täter, kommen, sondern aus Frankreich, dem Land des antifaschistischen Widerstandes, aus Schweden, einem Gastland für Emigranten, und aus dem Exil. Der in Paris 1945 geborene Schriftsteller Patrick Modiano, Kind eines jüdischen Vaters und einer holländischen Mutter, ist kürzlich für sein Gesamtwerk, das sich mit den Schrecken der deutschen Besetzung, mit dem Verrat von Vichy, mit der Deportation der Juden in die Vernichtungslager sowie mit den existentiellen Folgen der nazistischen Ära für die Kinder der Überlebenden beschäftigt, mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet worden. Es gibt kaum eine deutschsprachige Entsprechung auf dem Gebiet der Literatur, Peter Finkelgruens bewegendes Zeugnis „Erlkönigs Reich. Die Geschichte einer Täuschung“ ist ein echtes Zeugnis eines Exilgeborenen, aber erst ein halbes Jahrhundert nach dem Ende der Nazidiktatur erschienen, was Bände spricht.  7)

Modianos erste Bücher erschienen vierzig Jahre nach der Publikation in Frankreich in deutschen Landen. Die Konferenz „Zweite Generation“, die 2015 in Berlin stattfinden wird, findet ebenfalls, verglichen mit den Entschädigungsbemühungen in Frankreich, Großbritannien, Holland und Israel, vierzig Jahre zu spät statt, denn sie hätte spätestens im Zuge der europäischen Entspannungspolitik, seit dem Helsinki-Prozess und der Gründung der OSZE im Jahre 1975, stattfinden müssen.

10. Zweierlei Maß bei der Nutzung des Begriffs der Behinderung

Spätestens von dem Zeitpunkt an, als die Verhandlungen zwischen den beiden deutschen Staaten Bundesrepublik Deutschland und Deutsche Demokratische Republik zum Abschluss eines Grundlagenvertrages im Jahre 1970/71 vorbereitet wurden, wurde es offenbar: Die Deutschen beanspruchen für sich den Begriff der Behinderung und Benachteiligung, wenn es darum geht, die Bestrafung durch die Alliierten der Anti-Hitler-Koalition für die im Zeitraum zwischen 1933 und 1945 begangenen ungeheuren Verbrechen abzumildern bzw. vorzeitig zu beenden. „Man könne den Alliierten nicht in den Rücken fallen“, betonte Thomas Mann bereits im August 1943 im amerikanischen Exil, und er findet es nicht unbillig, „wenn die Alliierten Deutschland zehn oder zwanzig Jahre lang züchtigen.“ 8) Die Deutschen diesseits und jenseits der Elbe wollten diese von Thomas Mann gesetzte Dauer der Bestrafung wenigstens lindern, indem sie für sich den Begriff der Behinderung reklamierten, und es war ihnen ein gewisses Recht zu diesem Schritt durchaus nicht abzusprechen, unterstellt man die Voraussetzung einer zwanzigjährigen Züchtigung des deutschen Volkes, wie sie das Haupt der politischen Emigration im Jahre 1943 gefordert hatte. So konnte es mit Billigung der Alliierten geschehen, dass Willy Brandt in seinem im Jahre 1971 entwickelten Kasseler Papier forderte, „im Interesse des Friedens sowie der Zukunft und des Zusammenhalts der Nation einen völkerrechtswirksamen Vertrag zu schließen, der die Beziehungen zwischen beiden Staaten regelt, die Verbindung zwischen der Bevölkerung der beiden Staaten verbessert und dazu beiträgt, bestehende Benachteiligungen zu beseitigen.“ 9) Der nicht ohne Berechtigung eingeführte Begriff der Behinderung fand dann auch seinen Niederschlag in dem nachfolgenden Vertragswerk, beispielsweise in dem vom Viermächte-Abkommen vom 03. 09. 1971 getragenen Transitabkommen zwischen den beiden deutschen Staaten vom 17. 12. 1971. So heißt es in Artikel 2: „Der Transitverkehr wird erleichtert werden und ohne Behinderung sein. Er wird in der einfachsten, schnellsten und günstigsten Weise erfolgen, wie es in der internationalen Praxis vorzufinden ist.“ Gut so für die Deutschen, für ausnahmsweise alle, möchte man ihnen zurufen. Doch ist unbedingt hier die Beobachtung anzubringen, dass das Hantieren mit dem Begriff der Behinderung in dem Augenblick aufhört, da es um die Kinder der Verfolgten des Naziregimes geht. Hier wird der Begriff der Behinderung bezeichnenderweise nicht angewandt, geradezu unterdrückt. Aber diese Behinderung hat – und dies mit katastrophalen sozialen, politischen und psychischen Folgten – tatsächlich stattgefunden. Die soziale Gruppe der Nachkommen der NS-Verfolgten, also all die Angehörigen der Zweiten Generation, wurden stillschweigend dem deutschen Volk unterschiedslos zugeschlagen. Dass dies in höchstem Maße ungerecht war und ist, ja geradezu brutal, ist evident. Die Kinder der Lagerhäftlinge, die Kinder der Illegalen, die Kinder des Exils, die Kinder der Auslöschung sind eben nicht die Kinder der Mitläufer, die Kinder der Profiteure, die Kinder der Täter der NS-Volksgemeinschaft. Aber rechtlich wird stillschweigend die Eingemeindung vollzogen, obwohl hier Welten – biographische, rechtliche, mentale und familiengeschichtliche – dazwischenliegen. Wer hier alle Katzen grau macht, riskiert die Evokation der Volksgemeinschaft. Die Anwendung des Begriffs der Behinderung im Sinne der UN-Konvention für Menschen mit Behinderungen auf die Angehörigen der Zweiten Generation, insbesondere auf die im Verfolgungszeitraum zwischen 1933 und 1945 geborenen, ist ein Gebot der Stunde, will man ihnen glaubhaft materielle Hilfen zukommen lassen.

11. Begegnung oder Vergegnung

Es war der deutsch-jüdische Philosoph Martin Buber, der in seinem Hauptwerk „Ich und Du“ mit dem Begriff der „Vergegnung“ zu operieren begann, um das Gegenteil von Begegnung herauszustellen. Und um Buber bezüglich vorliegender Problematik fortzusetzen, wäre folgende Situation durchzuspielen: Wie begegnet in einer entschädigungsrelevanten Situation ein Nicht-Betroffener einem Betroffenen? Er kann sich verhalten wie: „Ich klopfe an.“ Er kann sich aber auch verhalten wie: „Ich stufe ein.“

12. Gesellschaftlicher Lebensprozess und Europäische Gemeinschaft im Lichte der Aufarbeitung der Nazizeit

Die „nationale Erhebung“ von 1933, die von großen Teilen der deutschen Bevölkerung getragen wurde, hatte, historisch betrachtet, einen langen geistig-politischen Vorlauf gehabt. Es war kein Geringerer als der deutsch-jüdische Dichter, Erzähler und Publizist Heinrich Heine, der ein Jahrhundert vor diesem denkwürdigen Jahr, aus seinem Pariser Exil heraus, am Schluss seiner „Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland“ die „nationale Erhebung“ so präzise voraussah, dass man sogar noch nachträglich darüber erschrecken muss. Und so lesen wir offenen Munds, eines sofortigen Kommentars völlig unfähig: „Die deutsche Philosophie ist eine wichtige, das ganze Menschengeschlecht betreffende Angelegenheit, und erst die spätesten Enkel werden darüber entscheiden können, ob wir dafür zu tadeln oder zu loben sind, dass wir erst unsere Philosophie und hernach unsere Revolution ausarbeiten. Mich dünkt, ein methodisches Volk wie wir musste mit der Reformation beginnen, konnte erst hierauf sich mit der Philosophie beschäftigen und durfte nur nach deren Vollendung zur politischen Revolution übergehen. Diese Ordnung finde ich ganz vernünftig. Die Köpfe, welche die Philosophie zum Nachdenken benutzt hat, kann die Revolution nachher zu beliebigen Zwecken abschlagen. Die Philosophie hätte aber nimmermehr die Köpfe gebrauchen können, die von der Revolution, wenn diese ihr vorherging, abgeschlagen worden wären. Lasst auch aber nicht bange sein, ihr deutschen Republikaner; die deutsche Revolution wird darum nicht milder und sanfter ausfallen, weil ihr die Kantsche Kritik, der Fichtesche Transzendental-Idealismus und gar die Naturphilosophie vorausging. Durch diese Doktrinen haben sich revolutionäre Kräfte entwickelt, die nur des Tages harren, wo sie hervorbrechen und die Welt mit Entsetzen und Bewunderung erfüllen können. Es werden Kantianer zum Vorschein kommen, die auch in der Erscheinungswelt von keiner Pietät etwas wissen wollen und erbarmungslos mit Schwert und Beil den Boden unseres europäischen Bodens durchwühlen, um auch die letzten Wurzeln der Vergangenheit auszurotten. Es werden bewaffnete Fichteaner auf den Schauplatz treten, die in ihrem Willens-Fanatismus weder durch Furcht noch durch Eigennutz zu bändigen sind, denn sie leben im Geist, sie trotzen der Materie gleich den ersten Christen, die man ebenfalls weder durch leibliche Qualen noch durch leibliche Genüsse bezwingen konnte; ja, solche Transzendental-Idealisten wären bei einer gesellschaftlichen Umwälzung sogar noch unbeugsamer als die ersten Christen, da diese die irdische Marter ertrugen, um dadurch zur himmlischen Seligkeit zu gelangen, der Transzendental-Idealist aber die Marter selbst für eitel Schein hält und unerreichbar ist in der Verschanzung des eigenen Gedankens. Doch noch schrecklicher als alles wären Naturphilosophen, die handelnd eingriffen in eine deutsche Revolution und sich mit dem Zerstörungswerk selbst identifizieren würden. Denn wenn die Hand des Kantianers stark und sicher zuschlägt, weil sein Herz von keiner traditionellem Ehrfurcht bewegt wird; wenn der Fichteaner mutvoll jeder Gefahr trotzt, weil sie für ihn in der Realität gar nicht existiert: so wird der Naturphilosoph dadurch furchtbar sein, dass er mit den ursprünglichen Gewalten der Natur in Verbindung tritt, dass er die dämonischen Kräfte des altgermanischen Pantheismus beschwören kann, und dass in ihm jene Kampflust erwacht, die wir bei den alten Deutschen finden, und die nicht kämpft, um zu zerstören, noch um zu siegen, sondern bloß um zu kämpfen. Das Christentum – und das ist sein schönstes Verdienst – hat jene brutale germanische Kampflust einigermaßen besänftigt, konnte sie jedoch nicht zerstören, und wenn einst der zähmende Talisman, das Kreuz, zerbricht, dann rasselt wieder empor die Wildheit der alten Kämpfer, die unsinnige Berserkerwut, wovon die nordischen Dichter so viel singen und sagen. Jener Talisman ist morsch, und kommen wird der Tag, wo er kläglich zusammenbricht. Die alten steinernen Götter erheben sich dann aus dem verschollenen Schutt und reiben sich den tausendjährigen Staub aus den Augen, und Thor mit dem Riesenhammer springt endlich empor und zerschlägt die gotischen Dome.“ 10)

Wie man rasch erkennt, hat der deutsche Faschismus, der Nazifaschismus, einen langen Vorlauf, und schon eine Epoche vor der Heines hatte ein Mann wie Hegel die Teilnehmer des sogenannten „antinapoleonischen Befreiungskrieges“ als das bezeichnet, was sie waren, als „Befreiungsbestien“, und Goethe verbot seinem Sohn, der sich freiwillig bei den Preußischen Heeren einschreiben wollte, sich schuldig zu machen und mit „Franzosenblut“ zu besudeln. Was einen langen Vorlauf hatte, kann nicht innerhalb weniger Generationen nach den Schrecken der „nationalen Erhebung“ bewältigt werden. Ein ganzes Zeitalter wird dazu nötig sein, nein, zwei, drei, vier oder fünf Zeitalter. Der deutsche Faschismus wurde zwar von den Alliierten der Anti-Hitler-Koalition militärisch niedergerungen, seine materiellen Strukturen in Basis und Überbau – dieses robuste Bündnis von Junkertum, Militär und Großindustrie – wurden konsequent zerschlagen. Ungeachtet dessen bleiben die geistigen Quellen des Faschismus weiterhin aktiv. Nicht noch, nein, das wäre wieder die selig machende Überbleibseltheorie, die längst widerlegt wurde, sondern in Permanenz. Der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler W. G. Sebald, der 1970 vornehmlich aus diesem Grund aus Deutschland West auswanderte, nach England ging, um dort in einem anderen Zeitalter zu leben, um dort den Spuren der Emigranten nachzugehen, schließlich ein epochemachendes Werk über ein Kindertransport-Kind schrieb 11), das in mehrere Sprachen übersetzt und nur von den Engländern, nicht von den Deutschen, respektvoll ausgezeichnet wurde, dieser W.G. Sebald stellt zwanzig, dreißig und fünfzig Jahre nach dem Krieg immer wieder die Frage nach dem „faschistischen Subjekt“, das ungeachtet der sozialökonomischen Epochen und der gerade herrschenden Staatsform existiert. 12) Diese Frage inhäriert eine Art Archetypus von Persönlichkeit. Natürlich wirkt diese Persönlichkeitsvorstellung bedrohlich. Man kann sich nicht mehr hinter den gesellschaftlichen Verhältnissen verstecken, die natürlich keine faschistischen mehr sind. Aber man sagt dies auch zu seiner Beruhigung. Es gibt keine „faschistischen Subjekte“, weil wir keine faschistischen Verhältnisse haben, und so wird in der offiziösen Sprache der deutschen Eliten ein Mitglied des Nationalsozialistischen Untergrund eben nicht als Nationalsozialist oder Faschist bezeichnet, sondern mit konstanter Blindheit Rechtsextremist, obwohl ein solches Mitglied just darauf besteht, als Nationalsozialist zu gelten. Doch Vergangenheit hat nichts in der Gegenwart zu suchen. Natürlich nicht. Sie ist überwunden. Punkt. Aus. Zu bedrohlich für die deutsche Gesellschaft, die sich als durchdemokratisierte und gereinigte versteht. Woher kommt etwas, das doch gar nicht mehr existieren darf, weil doch die objektiven Verhältnisse angeblich dafür gar nicht mehr verantwortlich gemacht werden können? Zum Beispiel die menschenverachtenden Quälereien von Angehörigen von Wachmannschaften in deutschen Flüchtlingsheimen gegenüber Flüchtlingen? Unglückliche Kurzschlusshandlungen von Problembürgern, um es im Sozialamtsdeutsch auszudrücken? Aber sie nennen sich teilweise SS-Trupps! In welch einem seltsamen, für Unbeteiligte seltsam antiquierten Kontrast dazu die beharrlichen Beschäftigungen derer, die das geistig-emotionale Erbe der Verfolgten des Naziregimes hochhalten, nämlich die Kinder der Verfolgten! Welchen Verhältnissen sollte man diese zuschlagen? Denen der Überbleibsel, also Höhlenforschern mit Restbezügen zur Oberwelt? Es gibt keine faschistischen Verhältnisse mehr. Punkt. Aus. Also gibt es auch kein Nachdenken über das „faschistische Subjekt“, wie es der Wahlbrite W.G. Sebald anstrebte und zum eigentlichen Mittelpunkt seiner theoretischen und schriftstellerischen Arbeit erklärte. Scheinbar so antiquiert wie die aufgeregten Wortmeldungen der Kinder der Verfolgten. Und so wurde er von den selbstbezogenen Stammdeutschen auch nachträglich behandelt, nach seinem unglücklichen Tod, der qualvoll in einem Auto begann, gönnerhaft, sentimental, als nützlicher Sonderling. Doch inzwischen hat es sich trotz Umerziehung, vorbildlicher Verfassungswirklichkeit und neudeutschem Lebensgefühl bei nicht wenigen Deutschen herumgesprochen, dass mit ihnen irgendetwas nicht stimmt, wenn auch dieses Unbehagen noch nicht zum Aufsuchen der Werkstatt eines Sebald geführt hat. Fast ein Vierteljahrhundert nach der klugen Einrede des niederländischen Intellektuellen Cees Nooteboom kurz nach dem Mauerfall, als er nach den aufflammenden Ängsten der Niederländer vor dem wiederauferstandenen deutschen Riesen im Radiointerview befragt wurde und antwortete: „Die Deutschen haben mit Faust immer danach gefragt, was die Welt im Innersten zusammenhält. Sie sollten endlich einmal anfangen, darüber nachzudenken, was sie selber zusammenhält.“ Aber immerhin: Das bereits zitierte Werk des Britischen Außenministeriums, der soeben auf Deutsch herausgegebene „Leitfaden für britische Soldaten in Deutschland 1944“, wird von den Deutschen massenweise gekauft und regelrecht verschlungen. Warum wohl? Das dort als „merkwürdig“ apostrophierte Volk will plötzlich wissen, warum es so merkwürdig sein soll. Oder ist. Und woran das andere festmachen. Vielleicht wird unter diesem Druck verstanden, endlich verstanden, dass die Kinder der Naziverfolgten so ganz andere Persönlichkeiten sind, sein müssen, die immer, ob sie wollen oder nicht, kraft ihrer merkwürdigen Existenz stören, also etwas mitzuteilen haben, was eben nicht mit exotischer Höhlenforscherei abgetan werden kann, das nur sie als Minderheit beträfe. Weil ihre Persönlichkeiten in ganz anderen Koordinatensystemen und vor ganz anderen Erfahrungshintergründen entstanden sind, so ganz aus der Norm fallend, störend, unbequem, inkommensurabel, keine Standarddeutsche abgeben, eher Herausgefallene, die nicht anders können, als die Finger auf die Wunde zu legen, die Wunde Deutschland.

Und woran man dieses Merkwürdige im Umgang mit den Rechtsnormen und Gesetzen für ehemalige Verfolgte und ihre Kinder, um auf unsere eigentliche Fragestellung zurückzukommen, erkennen kann? Ja, eben daran, dass in den Niederlanden die Verfolgten des Naziregimes und deren Kinder als natürliche menschliche Einheit von der Gesellschaft betrachtet werden, als schwer Traumatisierte, ohne gleich wieder entwürdigende Messungen vornehmen zu wollen. Die deutsche Zeitgeschichte nach 1945 lehrt, dass die Kinder des Holocaust, die Kinder des Widerstands, die Kinder des Exils, alle Kinder der Überlebenden des Naziterrors, entschieden benachteiligt, entschieden behindert und entschieden diskriminiert wurden. Und es ist heute noch so. Deswegen wäre es so wichtig, allen Verfolgtenkindern direkt oder indirekt den rechtlichen Status der Behinderung einzuräumen, oder anders ausgedrückt, ihre jahrzehntelangen Benachteiligungen endlich rechtlich anzuerkennen und zu versuchen, sie durch wirkungsvolle Maßnahmen der Bevorzugung auszugleichen. Statt sich also darüber Gedanken zu machen, wie man die Andersartigkeit der Verfolgtenkinder abschleifen kann nach den sozialen, psychischen und kulturgeschichtlichen Standards der deutschen Mehrheitsgesellschaft, oder pädagogisieren oder ihn gar Spieleckchen einzurichten, in denen sie ihre Andersartigkeit „leben können“, um es im Wellnessdeutsch der politisch korrekten Komfortzone, in der wir leben, auszudrücken, sollte man vielmehr darüber nachdenken, wie man den zum Stillstand gekommenen gesellschaftlichen Lebensprozess der deutschen Mehrheitsgesellschaft revolutionieren kann unter aktiver geistiger und politischer Beteiligung der Verfolgten des Naziregimes und ihrer Nachkommen. Also Integration? Inklusion? Heimkehr? Nein, nein und nochmals nein! Partizipation! Autonome, schöpferische und Mauern einreißende Partizipation der niemals Integrierbaren. Welches Kind von Naziverfolgten ist heute in der Bundesrepublik Deutschland in maßgeblicher politischer Verantwortung? Im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland bereitet sich der Vorsitzende der stärksten Oppositionspartei, der Labour Party, Ed Miliband, gerade darauf vor, die politische Führung des Landes zu übernehmen. Und streckenweise nimmt er jetzt schon in Absprache mit den Konservativen politische Verantwortung wahr. Und wer ist Ed Miliband? Kein Rechtsanwalt. Schon in dieser Hinsicht alles andere als ein deutscher Nachwuchspolitiker mit stromlinienförmiger Aufstiegsbiographie. Der Hoffnungsträger der britischen Linken ist der Ausbildung nach Bachelor of Art und Master of Science für Wirtschaftswissenschaft und der Herkunft nach Kind von naziverfolgten Eltern, die vor den Nazis nach England geflohen waren.

Man kann beim besten Willen mit einem solchen Lebensgepäck in Deutschland nichts werden. Ein stammdeutscher Mann wie W. G. Sebald ist aus der deutschen Identität ausgewandert. Die Deutschen haben ihn dafür abgestraft kraft Verweigerung eines Literaturpreises, ausgegrenzt aus der deutschen Mehrheitsgesellschaft, nicht nur der literarischen. Wegen Schaffung eines Meisterwerkes der Weltliteratur, das von einem deutschen Übel handelt, von einer wundersamen Rettung für zwei Menschen, einen Betroffenen und einen Nichtbetroffenen. W. G. Sebald vertraut sich einem Überlebenden an, der in größter seelischer Not ist. Er wird an die Hand genommen wie ein Kind. Und lauscht einer Leidensgeschichte, mit der er sich mehr und mehr identifiziert, die er auf sich nimmt als wäre es die eigene. Gegen den unerklärten Willen der Mehrheit der Deutschen. Und er schreibt sie auf. Und die Völkerfamilie der Nichtdeutschen dankt es ihm. Übersetzt das Aufgeschriebene in mehr als in zwanzig Sprachen.

Macht und Ohnmacht, nicht wahr, wie eng doch zusammen hierzulande!

Schaut man sich die Verfassungswirklichkeit näher an, könnte man als Nachkomme von Naziverfolgten auch erschrecken, denn im Bewusstsein zu leben, sich nach wie vor dem unhörbaren und unsichtbaren Fließen und Sprudeln der Quellen des Faschismus aussetzen zu müssen, hat ihn sensibilisiert, sich ständig dieses Umschlagens von Macht in Ohnmacht und umgekehrt zu vergewissern. Er ist ein Überwältigter mit zerbrechlichem Herzen. Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, das noch im Schatten des Dritten Reiches und mit Hilfe der Alliierten der Anti-Hitler-Koalition ausgearbeitet und am 8. Mai 1949 parlamentarisch beschlossen wurde, steht in Artikel 3:

„(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.
(2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.
(3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“

Schaut man sich das über ein halbes Jahrhundert später entwickelte und beschlossene Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz an, so kann man nicht umhin, eine Abschwächung und Aufweichung des Verbotes von Diskriminierung festzustellen, als wähne man sich von den Fernwirkungen des Dritten Reiches völlig frei. Es heißt unter § 1:

„Ziel des Gesetzes ist, Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen.“

Es fällt auf, dass die soziale und politische Bestimmtheit des Individuums in diesem zweiten deutschen Anlauf zu einer Rechtsnorm, die Diskriminierung verbietet, verschwunden ist. Auch das Kriterium der Behinderung fällt weg. Ein Hauch von Biologismus durchweht diese Bestimmung der Personalität des Menschen. Angehörige der Zweiten Generation der Verfolgten des Naziregimes dürften sich jedenfalls hier als soziale Gruppe kaum wiederfinden.

Dagegen ist die entsprechende Rechtsnorm in der Charta der Europäischen Gemeinschaft, die zeitlich weit vorher entwickelt wurde, der deutschen qualitativ um eine Epoche voraus. Auch Angehörige der Zweiten Generation der Verfolgten des Naziregimes können sich hier als soziale Gruppe oder Minderheit wiederfinden. Es heißt unter Artikel 21:

„(1) Diskriminierungen, insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hauptfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung, sind verboten.

(2) Im Anwendungsbereich des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft und des Vertrags über die Europäische Union ist unbeschadet der besonderen Bestimmungen dieser Verträge jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten.“

Gerade letztere Diskriminierung ist wichtig in Deutschland, betrachtet man einzelne Schicksale von Emigrantenkindern, wo spezielle Staatsangehörigkeitsfragen restriktiv und entwürdigend zur Geltung kommen. Emigrantenkinder, so kann es vorkommen, werden nicht als Deutsche anerkannt und stattdessen den Asylbewerbern zugeschlagen, obwohl sie hierzulande schon Jahrzehnte lang wohnen und arbeiten. Die chimärische deutsche Identität! Die man gar nicht haben will, aber staatsrechtlich braucht! Wie gern würde man als Emigrantenkind mit Sebald darüber reden wollen. Nicht über die schreiende Ungerechtigkeit, nein, das weiß man, sondern über den ungeklärten Zusammenhang zwischen dem fragwürdigen Demokratiegebaren der Deutschen und dem Treiben des Gespenstes des „faschistischen Subjekts“.

All diese Widersprüche und Dilemmata der inneren und äußeren Verfasstheit der heutigen Deutschen werden eher zu- als abnehmen. Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus wird, von europäischer Warte aus gesehen, eine Renaissance erleben, wie wir dies augenblicklich nicht für möglich halten. Das Beben, das das plötzliche Auftauchen des Nationalsozialistischen Untergrundes in der Bundesrepublik ausgelöst hat, war ein Weckruf. Die Zeiten der Reduktion der Auseinandersetzung mit dem Faschismus auf die sogenannte „Aufarbeitung“ der dunklen Epoche zwischen 1933 und 1945, worunter übrigens auch die Schicksale der so ganz andersgearteten Kinder der Verfolgten subsummiert werden, sind so ziemlich vorbei. Es geht um das „faschistische Subjekt“. Die Epoche, zum dunkel gehaltenen Kern der Sache vorzudringen, zum Kern der gesellschaftlichen Lebensprozesse, praktisch wie theoretisch, emotional wie verstandesmäßig, ökonomisch wie sozial, individuell wie gesellschaftlich, historisch wie gegenwartsbezogen, national wie international, beginnt, auch in Deutschland, dem Ursprungsland des „faschistischen Subjekts“, und zwar in dem Maße, als immer mehr entdeckt wird, dass Gesellschaft und Individuum nicht mehr auseinandergedacht werden können, obwohl die reale Spaltung immer weiter vorangetrieben wird. „Gleichschaltung“ wird sie nimmermehr aufheben, nicht ein zweites blutiges Mal, denn das werden die Europäer nicht zulassen. Es gibt literarische Vorboten für diesen atemberaubenden Prozess, allerdings, wen wundert es, nachdem, was geschah, nicht in Deutschland, sondern, wie schon erwähnt, in Frankreich, einem ehemals besetzten Land, das wachsam ist für immer. Nicht die Suche nach der verlorenen Zeit gemäß Marcel Proust beschreibt der französische Schriftsteller Patrick Modiano in seinem jüngsten Roman „Der Horizont“ 12), sondern die Flucht vor dem „faschistischen Subjekt“, wo zwei Menschen, Zeitgenossen von uns, den Prägungen durch den Faschismus, den Spätfolgen der europäischen Nazizeit in der Zeit der deutsche Besatzung, zu entkommen suchen, kurz gesagt, den modernen faschistischen Subjekten, die verbal gar nicht als solche auftreten, aber de facto so agieren, moderne Menschen der europäischen Zivilisation. Eine fast schlafwandlerische Flucht entfaltet sich vor unseren Augen. Kein Gesellschaftspanorama. Ein Tagtraum. Ein Hindurchlavieren durch den gebleichten und geglätteten sozialen und anthropologischen Dreck des modernen gesellschaftlichen Lebens einer technischen Hochzivilisation im Schatten einer Katastrophenlandschaft.

13. Unversöhnlichkeit ist die Bedingung der Einsamkeit und vice versa

Kein Überlebender von Hitlers Hölle kann, wenn er aufrichtig seinen Erfahrungen folgt, versöhnlich werden. Das betrifft auch die nächsten Angehörigen des Überlebenden. Das Kind von Überlebenden Göran Rosenberg, drei Jahre nach Hitlers Tod geboren, schreibt: „Améry misstraut den Versuchen der ‚objektiven Wissenschaft‘, die Unversöhnlichkeit zu pathologisieren.“ 14) Klar – die Pathologisierer stammen aus den Reihen der Kinder der Mitläufer, Nutznießer und Täter der NS-Volksgemeinschaft. Es gibt für die Unversöhnlichkeit aber auch einen Grund der Gegenwart, nicht einen nur der Vergangenheit: Die Heimat ist futsch. Göran Rosenberg am Beispiel Jean Amérys, eines österreichischen Überlebenden, treffend dazu: „Für Améry ist seine Heimatlosigkeit von großer Bedeutung. Er musste nicht nur miterleben, wie die Deutschen seine Heimat für immer schändeten und liquidierten, sondern auch, dass die Deutschen diese Heimat für immer in einen fremden und feindlichen Ort verwandelt haben und die Welt somit für immer in einen Ort der Einsamkeit und der Verwirrung.“ 15)

14. Differenzierung versus Vermassung

Nicht selten kommt es in der deutschen Forschung zur Zweiten Generation vor, dass alle Kinder der Überlebenden des Naziterrors in einen Topf geworfen werden – gegen den erklärten Willen der Kinder der Überlebenden mit ihrem aus Schmerz geflochtenen Selbstverständnis. Doch Eigenständigkeiten kristallisieren sich unwiderruflich heraus, wenn man allein schon die folgenden drei großen Gruppen von Angehörigen der Zweiten Generation betrachtet: die Kinder des Holocaust, die Kinder des Widerstands und die Kinder des Exils. Aktuell gibt es dazu vor allem drei Wortmeldungen von ziemlichem Gewicht: Dieter Graumann, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, der kürzlich die Kind-Eltern-Beziehung bei jüdischen NS-Verfolgten auf folgende Kernaussage gebracht hat: „Wir waren ihre Rettung.“ 16), Dann gibt es die Gruppe der Töchter von Widerstandskämpfern- und Kämpferinnen der VVN-BdA des Landesverbandes Nordrhein-Westphalen um Alice Czybora (Gingold), Traute Sander (Burmeister) und Klara Tuchscherer (Schabrod), die bereits seit 2013 als Gruppe mit entsprechenden Forderungen an die Öffentlichkeit getreten sind (17), Und schließlich existiert die Resolution der Zweiten Generation der Naziverfolgten, verfasst von den beiden Exilkindern Alice M. Schloesser und Antonín Dick, die die vitalen Lebensinteressen der Kinder des Exils zum Ausdruck bringt. 18) Selbstverständlich ist die Differenzierung damit nicht abgeschlossen. Zur Zweiten Generation gehören selbstverständlich die Kinder der Überlebenden des Völkermords an den Roma und Sinti. Die Kinder der religiös Verfolgten gehören dazu ebenso wie die Kinder der Opfer der nazistischen Gesundheitspolitik, und es gehören noch etliche Nachkommen anderer Verfolgtengruppen des Naziregimes dazu. Bei einer Querschnittsbetrachtung indessen kristallisiert sich der schwerwiegende Fakt heraus, dass es eine spezielle Gruppe von Angehörigen der Zweiten Generation gibt, die innerhalb des Verfolgungszeitraumes zwischen 1933 und 1945 zur Welt gekommen sind. Es kommt vor, dass in der Wiedergutmachungsdebatte diese spezielle Gruppe von mittelbaren Opfern des Faschismus mit ihren speziellen Nöten, Existenzfragen und Lebensansprüchen seitens der Nachkommen der Mitläufer, Profiteure und Täter der NS-Volksgemeinschaft, die jetzt über entsprechende Machtpositionen verfügen, auf den Rangierbahnhöfen der Entschädigungsdebatte hin- und hergeschoben wird wie ein abgestellter und vergessener Nachtzug, dem Abnutzungsschicksal Tausender von Tagen und Nächten einer mobilen Zwischenlagerung anheimgegeben. Wer sich von dieser Gruppe bisher dagegen erfolgreich zur Wehr setzen konnte, war der Schriftsteller Peter Finkelgruen, der im Gefolge einer lebensgefährlichen Herzerkrankung im Jahre 1974 beim Gericht gegen das Berliner Entschädigungsamt klagte und seine Ansprüche als mittelbares Opfer des Faschismus sicherte.19)

15. Jenseits aller Aporien

Als im vorigen Jahr Göran Rosenbergs Werk „Ein kurzer Aufenthalt auf dem Weg von Auschwitz“ herausgekommen war, feierte die Presse ihn als zweiten Primo Levi. Aber das Primo-Levi-Überlebensgefühl ist doch ein ganz anderes als das Göran-Rosenberg-Lebensgefühl? Primo Levi wurde durch die Nazihöllen getrieben, nicht das im schwedischen Södertälje 1948 geborene Kind von Überlebenden Göran Rosenberg. Warum diese Vermischung? Gleichsetzung? Weil es so bequem ist, nicht fühlen zu müssen. Auch eine Art Zwischenlagerung der Existenzproblematik von Angehörigem der Zweiten Generation. Wer aber nicht fühlen kann, sollte die Beschäftigung mit dem blutigen Jahrhundertthema einstellen. Er riskiert es, sich lächerlich zu machen. Er fühlt nicht, was Gefühle sind. Er denkt, was er ist, wie er funktioniert. Was er dann die Identität nennt. Zuckergrünes Gerede der Zweiten/Dritten Generation der Akteure der NS-Volksgemeinschaft. Zwischendeutsche. Und als der 1945 in Paris geborene Patrick Modiano, ebenfalls Zweite Generation, kürzlich den Nobelpreis erhielt, erschien in der deutschen Presse die Würdigung, dass, obwohl sein jüdischer Vater im besetzten Paris mit der Gestapo Geschäfte machte, er doch dafür ganz manierliche Bücher schreiben könne. Wer von den Second-Generation-Forschern ist bereit, diese kaputte Gefühlsakrobatik der Nachkommen der Mitläufer, Nutznießer und Täter der NS-Generation wissenschaftlich zu erforschen? Es wird Zeit! Diese Todesspringer des neuen deutschen Lebensgefühls, die, wenn sie springen, die Mundwinkel bis zu den Ohren hochziehen, während sie gleichzeitig die von braunem Unrat gesäuberten Gesäßbacken zusammenkneifen – na, wer möchte da nicht mitspringen? Und das muss man doch, wenn man forscht? Aber es geht nur im abgeleiteten Sinne um Forschung, eigentlich geht es um Macht. Die heutigen Eliten in Deutschlands sind größtenteils Kinder bzw. Enkel von Mitläufern, Nutznießern und Tätern der NS-Volksgemeinschaft, die nach dem Satz zu verfahren scheinen: Wer hier Fragen zu stellen hat, sind wir, denn wir haben die Antworten. Erinnert das nicht auf reichlich verdrehte Weise an einen alten jüdischen Witz aus Prag? Der geht so: Ein aufgeregter Rabbi rennt in der Nacht durch die Gassen der Altstadt und schreit: „Ich habe eine Antwort, ich habe eine Antwort! Wer hat eine Frage?“

Berlin, anlässlich des 9. November 2014, des Gedenkens an die Opfer der antijüdischen „Reichspogromnacht“ vom 9. November 1938


Quellenverzeichnis:

1. Montesquieu: Vom Geist der Gesetze, Stuttgart 1965, Seite 24
2. Thomas Mann: Schicksal und Aufgabe, in: Thomas Mann, Essays, Band 5, Frankfurt am Main 1996, Seite 225-226
3. Göran Rosenberg: Ein kurzer Aufenthalt auf dem Weg von Auschwitz, Reinbek bei Hamburg 2013, Seite 341

4
. www.bundespräsident.de
5. Frank-Walter Steinmeier: Grußwort des Bundesaußenministers Frank-Walter Steinmeier anlässlich der Eröffnung einer Ausstellung in der Gedenkstätte KZ Flossenbürg am 22. 07. 2007, in: Antifa, Monatszeitschrift der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, 09 - 10 / 2007
6. Foreign Office: Leitfaden für britische Soldaten in Deutschland 1944, Köln 2014, Seite 32
7. Peter Finkelgruen: Erlkönigs Reich. Die Geschichte einer Täuschung, Berlin 1997
8. Thomas Mann: Essays Band 5, Deutschland und die Deutschen 1938 – 1945, Frankfurt am Main 1996, Seite 405
9. Siehe Willy-Brandt-Archiv im Friedrich-Ebert-Archiv
10. Heinrich Heine: Werke in fünf Bänden, Weimar 1957, Band 5, Seite 144 – 145
11. W .G. Sebald: Austerlitz, Frankfurt am Main 2003
12.W. G. Sebald: „Auf ungeheuer dünnem Eis“, Gespräche 1971 bis 2001, Frankfurt am Main 2012, Seite 207. Das vollständige Zitat lautet: „Zum Beispiel glaube ich, dass wir bis heute nicht wissen, wie eigentlich die ‚éducation sentimentale‘ unserer Eltern unter dem Nazi-Regime ausgeschaut hat. Ich würde gern wissen: Wie sah der ‚Bildungsprozess‘ wenn man das so sagen darf – eines deutschen Kleinbürgers aus, der im Faschismus Karriere gemacht hat? Welche Emotionen haben sich da entwickelt? Vor allem zwischen 1933 und 1942? Diese Phase wurde doch als ein einziger glorreicher Aufschwung erlebt, gerade von Leuten, die aus dem hintersten Wald kamen, wie etwa mein Vater, und die dann in den Rang eines Offiziers aufsteigen konnten und große Aussichten zu haben schienen: Wenn es so weitergegangen wäre wie geplant, wären die in den 50er Jahren ja alle  irgendwo in Russland oder Polen Gouverneur gewesen. Ich bin im Augenblick dabei, Lebensgeschichten von zwei, drei Frauen zu recherchieren, die altersgleich mit mir sind. Anhand ihrer Herkunft möchte ich versuchen – wenn ich soweit komme – das, was ich als die ,éducation sentimentale‘ des faschistischen Subjekts bezeichne, zu erkunden.“
13. Patrick Modiano: Der Horizont, München 2013
14. Göran Rosenberg: Ein kurzer Aufenthalt auf dem Weg von Auschwitz, Ebenda, Seite 339
15. Ebenda, Seite 370
16. Dieter Graumann: „Ab heute heißt du Dieter“, in Magazin der „Zeit“ Nr. 24 / 2014, Juni  2014
17. Siehe Homepage der VVN-BdA des Landes NRW.
http://www.nrw.vvn- bda/texte/0944_kinder_des_widerstandes.htm
18. Alice M. Schloesser / Antonín Dick: Resolution der Zweiten Generation der Naziverfolgten, in TREND, http: // www.trend.infopartisan.net/trd0414/t560414.html
19. Peter Finkelgruen: Protest gegen das Berliner Entschädigungsamt vom 08.02. 1974, in: www.der-halbe-stern.de/finkelgruen-fakten.htm

Editorische Hinweise

Wir erhielten diesen Aufsatz vom Autor für diese Ausgabe.

Vom Autor erschien bei TREND:


TREND-Spezialedition
Rose des Exilgeborenen

Ein Essay von Antonín Dick