Rose des Exilgeborenen

Ein Essay von
Antonín Dick

03-2013

trend
onlinezeitung

Es ist Viertel elf abends und noch immer hat die Sirene nicht geheult. Das ist fast unbegreiflich. Seit einer Woche, nein, seit 9 Tagen, regelmäßig wie eine Uhr, heult um halb zehn die Sirene, manchmal ist es um 10 Minuten früher, manchmal um eine Viertelstunde später. Aber es kommt jede Nacht. An die Sirene hat man sich zwar schon gewöhnt, man hört sie ja auch am Tage einige Male, aber trotz allem ist es immer wieder ein tiefes Erschrecken, in der Nacht. Warum ist das eigentlich, daß uns alle Dinge in der Nacht soviel furchtbarer erscheinen? Am Tage geht man kaum in den Shelter, wenn Alarm gegeben wird. Allerdings dauern die Tage-Raids nur kurz, meist eine Stunde, außerdem scheinen die Flieger nicht so nahe heranzukommen, wahrscheinlich kann man sie leichter verjagen. Aber schon allein die Sirene scheint in der Nacht anders zu klingen. Ich weiß es gar nicht, wie man eigentlich als kleiner Mensch diese ungeheure Spanne, die zwischen Tag und Nacht liegt, jeden Tag erneut erfolgreich überkommt.

Anna Maria Jokl, London, 2. September 1941

Nach der Besetzung der Sudetengebiete und der Abspaltung der Slowakei im Herbst 1938 lag der Schatten unmittelbarer Bedrohung über der verwundeten Tschechoslowakei. Hitler forderte von den Regierenden in Prag zudem die Liquidierung der Emigration. Tausende von Emigranten eilten von Botschaft zu Botschaft, um ein Einreisevisum in ein nicht bedrohtes Land der Freiheit zu erhalten. So auch meine Mutter. So auch mein Vater. Vergeblich. Sie saßen in der Falle.

Anfang Januar des Jahres 1939 geschah für meine Mutter so etwas wie ein Wunder. Der nach England emigrierte Wissenschaftler und Kommunist Jürgen Kuczynski (JK) schrieb einen Brief an die Parteileitung der dortigen Exil-KP, die Wilhelm Koenen leitete. Karl Becker, Alfred Zeidler, Erich Krüger, Willi Barth und Heinz Schmidt waren die anderen Mitglieder. JK bat um dringende Hilfe. Als externer Mitarbeiter des Sowjetischen Militärischen Abschirmdienstes hatte er zuverlässige Informationen darüber erhalten, dass Hitler in wenigen Wochen in die Tschechoslowakei einmarschieren würde. Die in Prag und anderen tschechischen Großstädten in der Falle sitzenden Genossen werden dann, in diesem Sinne schrieb er, auf Rettung warten. Kategorisch forderte er die Parteileitung auf, umgehend Kontakt mit dem Britischen Außenministerium wegen der zu organisierenden Flucht der lebensbedrohlich gefährdeten Genossen aufzunehmen. Man wurde umgehend tätig, bildete eine Arbeitsgruppe unter Leitung von Heinz Schmidt und trat in Verbindung mit den Britischen Behörden. Der Arbeitsgruppe gehörten außerdem Hans Kahle, Johanna Klopstech, Emmy Koenen und andere Emigranten an.

Das Britische Unterhaus hatte eine Kommission mit der Rettung der Flüchtlinge beauftragt, und diese bat die Repräsentanten des Exils in Großbritannien um exakte Listen mit den Namen der in der Tschechoslowakei lebenden bedrohten Flüchtlinge, um deren Verbringung nach Großbritannien vorzubereiten. Bei den Kommunisten waren 280 Genossen und Sympathisanten auf den Listen, die man den Briten übergab, die sogenannte Group of Schmidt. Meine Mutter, damals noch eine Sympathisantin und Mitstreiterin der Kommunisten, gehörte zu dieser Gruppe. Mein Vater gehörte einer anderen Gruppe an, einer Gruppe von sudetendeutschen Kommunisten..........

   Das Essay als komplette PdF-Datei lesen.

 

Editorische Hinweise

Virtuelle Erstveröffentlichung
Grafik & Text: Alle Rechte beim Autor

Antonín Dick wurde in Royal Leamington Spa / Großbritannien als Sohn kommunistischer jüdischer Emigranten geboren. In der DDR  studierte er Theaterwissenschaft und Philosophie in Leipzig und Berlin. Wegen Inszenierung eines pazifistischen Theaterstückes in Ostberlin erhielt er 1982 Berufsverbot, reiste 1987 aus der DDR nach Westberlin aus. 1991 gründete er das Jakob van Hoddis Theater, das sich u.a. der schöpferischen Aneignung des Erbes des literarischen Frühexpressionismus widmet.

Weitere Daten zu seinem Leben und künstlerischen Schaffen finden sich z.B. bei: