Grobschnitt von geringer Güte
Ralf Landmessers untauglicher Versuch den
Realsozialismus zu kritisieren

Ein Kommentar von Karl Mueller

11/10

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"Was tun, wenn ich die Ostalgie nicht ertrage?“ hieß ein Wochenendseminar, das am  24./25.9.2010 im Berliner Mehringhof stattfand. Ralf Landmesser - bekennender Anarchist - hatte an diesem Wochenende übernommen, Antworten auf die Frage: "Wie kann Gesellschaft jenseits von Kapitalismus und Realsozialismus gestaltet werden?" zu geben. Gleich zu Beginn seines Referats lässt er seine ZuhörerInnen wissen, dass er dafür "ein wenig philosophisch-politisch-historisch" ausholen müsse, was jedoch dazu führt, dass 4/5 seines Referats nur einen mehr als oberflächlichen Abriss der Geschichte des Anarchismus von den Anfängen der ArbeiterInnenbewegung bis 1989 bieten.

Trotzdem werde ich seinen Anspruch ernst nehmen und Ralf Landmesser auf seinen "philosophisch-politisch-historischen" Spuren  folgen. D.h. ich werde der Frage nachgehen, welche Weltanschauung und Erkenntnismethode bilden die ideologische Grundlage des Autors, wie erklärt er historische Prozesse?

Subjektlose Addition atomisierter Individuen

Aus der sprichwörtlichen Finsternis des Mittelalters kommend hieß die Grundfrage der Aufklärung: Ist der Welt, in der wir leben ein schöpferischer Akt - sprich Gott - voran gegangen und hat dieses höhere Wesen fortan bestimmenden Einfluss auf Mensch und Natur? Diese Frage musste aufgeworfen werden, um einer angeblich von Gottes Gnaden eingesetzten Feudalgewalt eine andere Weltsicht, ein anderes Gesellschaftsverständnis entgegenzusetzen. Damit sollte für den ökonomisch herangereiften Sturz dieser Gesellschaftsordnung eine politische Perspektive entwickelt werden - Menschenrechte und Gewaltenteilung hießen die Leitbegriffe.

Mit der französischen Revolution begann das Zeitalter der bürgerlichen Revolutionen. Der Sieg der Bourgeoisie über die Feudalklasse verlief keineswegs als gradliniger Prozess. Für die Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise musste sie vorübergehend Bündnisse mit der Bauernklasse und dem entstehenden Proletariat eingehen, um häufig beim Klassenkompromiss - wie in Deutschland - mit dem Feudaladel zu landen, da dieser die kapitalistische Produktionsweise nicht nur zum eigenen Vorteil nutzte, sondern sie auch zu fördern begann. In dieser historischen Gemengelage begann das Proletariat sich als Klasse zu begreifen. Dazu brauchte es nicht nur  selbständige Organisationen, sondern vor allem eine eigenständige Sicht auf die gesellschaftlichen Verhältnisse als Grundlage einer politischen und ökonomischen Programmatik für eine freie Gesellschaft.

Als Intellektuelle hatten Marx und Engels logischer Weise einen anderen Zugang zu den brennenden Klassenfragen ihrer Zeit als das Proletariat. Im Vorwort zur Kritik der Politischen Ökonomie gibt Marx einen entsprechenden Hinweis darauf:

"Mein Fachstudium war das der Jurisprudenz, die ich jedoch nur als untergeordnete Disziplin neben Philosophie und Geschichte betrieb. Im Jahr 1842-43, als Redakteur der "Rheinischen Zeitung", kam ich zuerst in die Verlegenheit, über so genannte materielle Interessen mitsprechen zu müssen. Die Verhandlungen des Rheinischen Landtags über Holzdiebstahl und Parzellierung des Grundeigentums, die amtliche Polemik, die Herr von Schaper, damals Oberpräsident der Rheinprovinz, mit der "Rheinischen Zeitung" über die Zustände der Moselbauern eröffnete, Debatten endlich über Freihandel und Schutzzoll, gaben die ersten Anlässe zu meiner Beschäftigung mit ökonomischen Fragen." (MEW 13 / S. 7f)

Und weiter:

"Friedrich Engels, mit dem ich seit dem Erscheinen seiner genialen Skizze zur Kritik der ökonomischen Kategorien (in den "Deutsch-Französischen Jahrbüchern") einen steten schriftlichen Ideenaustausch unterhielt, war auf anderm Wege (vergleiche seine "Lage der arbeitenden Klasse in England") mit mir zu demselben Resultat gelangt, und als er sich im Frühling 1845 ebenfalls in Brüssel niederließ, beschlossen wir, den Gegensatz unsrer Ansicht gegen die ideologische der deutschen Philosophie gemeinschaftlich auszuarbeiten, in der Tat mit unserm ehemaligen philosophischen Gewissen abzurechnen. " (ebenda, S. 10)

Bekanntlich entstand aus dieser Zusammenarbeit die so genannte "Deutsche Ideologie", in welcher  in dialektischer Weise  die Grundlagen der materialistischen Geschichtsauffassung und das Ziel - der Kommunismus -  sowie  die historische Rolle des Proletariats erstmals formuliert wurden:

"Während also die entlaufenden Leibeignen nur ihre bereits vorhandenen Existenzbedingungen frei entwickeln und zur Geltung bringen wollten und daher in letzter Instanz nur bis zur freien Arbeit kamen, müssen die Proletarier, um persönlich zur Geltung zu kommen, ihre eigne bisherige Existenzbedingung, die zugleich die der ganzen bisherigen Gesellschaft ist, die Arbeit, aufheben. Sie befinden sich daher auch im direkten Gegensatz zu der Form, in der die Individuen der Gesellschaft sich bisher einen Gesamtausdruck gaben, zum Staat, und müssen den Staat stürzen, um ihre Persönlichkeit durchzusetzen." (MEW 3 / S. 77)

Für Ralf Landmesser spielen dagegen historische Klassen keine Rolle. Für ihn ist jede Gesellschaft eine qualitätslose Summe von Einzelpersonen: "das Große setzt sich aus dem vielgestaltigen Kleinen und Kleinsten zusammen".

In einer Gesellschaft, die nur als subjektlose Addition atomisierter Individuen gedacht wird, können folglich nur einzelne Personen die historischen Prozesse bestimmen und prägen. Ihr Handeln resultiert für Landmesser aus irgendwie innewohnenden rein persönlichen Interessen: "Aber es gibt offenbar allzu viele Menschen, die gerne um ihrer Vorteile oder auch nur um der Macht, also des Psychokitzels willen, herrschen wollen. Die Schablonen dieser Herrschaften sind so unterschiedlich wie die Namen."

Dass mit Beginn der Aufklärung ein philosophisches Ringen zwischen idealistischer und materialistischer Weltanschauung einsetzte, worin sich Marx und Engels auf die Seite des Materialismus und der Dialektik stellten, hält Ralf Landmesser für nicht erwähnenswert. Dass Materialismus und  Dialektik die erkenntnistheoretischen Grundlagen des wissenschaftlichen Sozialismus bilden, wodurch das Proletariat als historisches Subjekt antizipiert wird, interessiert Ralf Landmesser nicht. Er denunziert lieber Marx und Engels als "Oberdurchblicker", die angeblich im wissenschaftlichen Konkurrenzkampf ihre Kritiker "mit Ausschluß, Häme, Polemik, Rufmord und bösartigen Unterstellungen" verfolgten.

Während Marx in seinen "Thesen über Feuerbach" keinen Zweifel daran lässt, "daß die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muß" (These 2), phantasiert Ralf Landmesser über Marx und Engels: "Einer Horde von Träumern sollte nunmehr das objektiv richtige Modell einer sozialistischen Entwicklung aufgezeigt und entgegengestellt werden. Es sollte sich über diese erheben und zum generellen Leitmodell werden. Dieses Leitmodell sollte von einer revolutionären Avantgarde vertreten werden, die die ungebildeten Massen erzog und führte."

Gleichzeitig verrät diese Polemik aber auch, wo Ralf Landmesser philosophisch steht.

In seiner subjektlosen Monadengesellschaft, wo einzelne um des Psychokitzels willen herrschen, werden von diesen Ideen ("Leitmodelle") entwickelt, verbreitet, popularisiert, die sodann Herrschaft, Unterwerfung oder Zustimmung erzeugen bzw. legitimieren. Kurzum: Es sind bei Landmesser also nicht die materiellen Verhältnisse, die in letzter Instanz gesellschaftliche Verhältnisse bestimmen, sondern die Ideen. Und wenn bestimmte historische Ereignisse nicht mehr aus dem Handeln von einzelnen Individuen erklärt werden können, dann ist vom "Schicksal" oder von "fremden Mächten" die Rede, was soviel heißt, wie höheres Wesen oder lieber Gott: "Was könnten wir alles erreichen, wenn wir uns wirklich als freie Menschen, als libertäre Sozialist_inn_en zusammen schlössen! Und wie schnell könnten wir viel erreichen !! Die Zeit dazu ist mehr als reif. Wer sie verpaßt bleibt zurück und ein Spielball des Schicksals und ein Spielball fremder Mächte."

Projektemacherei im Hier und Jetzt

Ralf Landmesser ignoriert nicht nur Klassenverhältnisse, sondern vor allem die daraus resultierenden Widersprüche. Von daher bildet die Aufhebung gesellschaftlicher Widersprüche auf ihrer eigenen Grundlage bzw. die Unmöglichkeit der Aufhebung bestimmter Widersprüche auf eigener Grundlage wie zu Beispiel das Lohnsystem für ihn kein Thema. Stattdessen redet er vom "libertären Prinzip der Mittel-Ziel-Relation". Ein Prinzip, von dem der Autor nicht einmal erklärt, ob er sich hier bei Machiavelli oder Leibniz oder gar nur bei der modernen Betriebswirtschaftslehre eine Vokabel borgt, die dadurch auch nicht verständlicher wird, indem er sie mit dem Adjektiv "libertär" versieht. Auch der Bezug auf die Konfuzius-Losung "Der Weg ist das Ziel" in Abgrenzung zu gewaltsamer revolutionärer Umwälzung, kann ja nur heißen, dass Ralf Landmesser das Ideal ein moralisch einwandfreien Mensch vorschwebt, der sich in Harmonie mit seiner Lebenswelt befindet: "Wir brauchen Strukturen die es uns ermöglichen uns in gegenseitiger Rücksichtnahme und Hilfe zu entfalten und weiterzuentwickeln, uns und die Welt-Gesellschaft von archaischen Verhaltensweisen und Mythen zu emanzipieren."

Statt Realanalyse nimmt Landmesser lieber Kurs auf das Wolkenkuckucksheim. Gegen den machtgeilen Psychokitzel einiger Weniger wird das eherne Prinzipien einer freien Gesellschaft gestellt: "Dagegen hilft nur eine möglichst irreversibel neue gesellschaftliche Grundstruktur, die Herrschaft strukturell verunmöglicht, weil sie die Gesellschaft unregierbar macht und Machtkulminationen verhindert. Wir brauchen weder gute noch schlechte Herrscher - wir brauchen gar keine."

Dieser Ausflug  dauert jedoch nicht lange. Schnell ist er im Hier und Jetzt zurück und hat sogleich auch die Gewaltfrage prinzipiell gelöst. Ob mit dem Einzelnen gewaltsam umgegangen wird oder nicht hängt nun vom Willen der bewußten Einzelnen ab:  "Überall wo es auch nur die geringste Möglichkeit gibt, muß daher versucht werden tendenziell herrschaftslose Freiräume zu schaffen, zu erweitern, zu erhalten. In diesen Freiräumen kann sich die zarte Pflanze Freiheit entwickeln, soweit diese "Freiräume" nicht selbst wieder dogmatisch versteinern und zu subkulturellen Verkapselungen werden, die nicht mehr in die Gesellschaft wirken können."

Es folgt eine Liste von Projekten, von denen der Autor glaubt, den "Überfluss der überaus reichen Industriegesellschaft" in "Richtung eines freiheitlichen Sozialismus zu kanalisieren" als da wären "Beziehungsnetzwerke, libertäre Siedlungen, kollektive Betriebe und Betriebsnetzwerke, internationale Solidaritätsfonds, freie kapitalneutralisierte Wohnprojekte und freie Schulen ..., libertäre Medien" usw.

Das solche Projektemacherei ihre Grenzen in der kapitalistischen Ökonomie findet und ihre politischen Grenzen von der herrschenden Klasse mittels der Staatsapparate gesetzt bekommt, weiß natürlich auch Ralf Landmesser. Doch weil der Autor die ökonomischen Grundlagen des Kapitalismus und seine politischen Strukturen nicht versteht bzw. verstehen will, setzt er, um seine Projektmacherei dennoch politisch sinnvoll erscheinen zu lassen, auf die Politik der ersten Person: " Jede Aktion, jeder geistige Fortschritt, der Herrschaftsverhältnisse abbaut ist ein Schritt in die letztendliche Richtung der "klassenlosen Gesellschaft", einer Gesellschaft von höchst unterschiedlichen Gleichen und Gleichberechtigten." Daher müssen wir "unsere persönlichen privaten Beziehungen zu Partnern, Kindern, Freund_inn_en, Nachbarn revolutionieren und diese zu sozialen und hierarchiefreien Verhältnissen umgestalten."

Klitterungen, Halbwahrheiten und Fälschungen

Ralf Landmesser Gesellschaftsbild ist denkbar schlicht. Für ihn strukturieren sich seit der  französischen Revolution Gesellschaft und Geschichte nicht nach sozialen Gesichtspunkten, sondern nach seiner idealistischen Weltanschauung. Im Mittelpunkt steht daher das Individuum als solches, d.h. so wie es Landmesser sich vorstellt: In seinem existenzialistischen Leid wird das Individuum entweder von Machtzombies oder vom Schicksal bzw. von fremden Mächten bebeutelt und sehnt sich deshalb nach Freiheit. Hieraus erwächst der Wunsch im Hier und jetzt solche Projekte zu machen, mit denen "dem autoritären Überbau nachhaltig die Basis entzogen werden" kann.

Diese Annahmen besitzen für den Autor unabhängig von Raum und Zeit Gültigkeit, Sie normieren seinen Versuch, einen Abriss der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung aus dem Blickwinkel eines Anarchisten zu schreiben. Klitterungen (Regierungsbeteiligung der CNT zentral und regional im spanischen Bürgerkrieg), Halbwahrheiten (das Verhältnis Bakunin Marx) und Fälschungen (Kronstadt) bleiben nicht aus. Ihnen im einzelnen nachzugehen, zöge eine ganze Artikelserie nach sich, worin ich keine politische Priorität erkennen kann. Deshalb möchte ich es bei einem Beispiel bewenden lassen:

Laut Landmesser habe es sich 1917 in Rußland bei der "Kerenski-Regierung" um "eine demokratisch eingesetzte" Regierung gehandelt, die von den Bolschewiki "auseinandergejagt" wurde, um die "Diktatur des Proletariats" auszurufen.(1)

Der wohl kaum als Anhänger des wissenschaftlichen Sozialismus geltende Oskar Anweiler bezeichnet stattdessen in seiner Untersuchung "Die Rätebewegung in Russland 1905-1921" (1958) die Kerenskis-Regierung als "privates Duma-Komitee". Dieses Komitee firmierte unter dem Namen "provisorische Regierung". Es handelte sich hier um Abgeordnete, die sich im Februar 1917 geweigert hatten, dem Befehl des Zaren nach Auflösung der zaristischen Duma nachzukommen. Parallel dazu war in Russland die Rätebewegung immens angewachsen. Das  "Private Duma-Komitee" versprach nun aus Legitimationsgründen, Wahlen zu einer konstituierenden Versammlung abhalten zu lassen. Im März 1917 dankte der Zar ab. Jetzt bestand sozusagen eine Doppelherrschaft von provisorischer Regierung bzw. der Duma und den Räten, die im ab Oktober 1917 russlandweit laut Anweiler überwiegend bolschewistisch dominiert waren. Die Wahlen zur Konstituante fanden bekanntlich erst im Januar 1918 statt. Zuvor hatten die in den Sowjets organisierten Arbeiter, Bauern und Soldaten am 7. November 1917 die provisorische Regierung Kerenski gestürzt, um selber provisorisch die Regierungsgewalt auszuüben. Sie ließen sich jedoch nicht von der neugewählten Duma, obwohl sie an deren Wahlen sie teilgenommen hatten, legitimieren, sondern durch den mit imperativen Mandat ausgestatteten 3. Allrussischen Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte am 23. Januar 1918.

Flickenteppich Anarchismus

In der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung ist es zweifellos das Verdienst des Anarchismus, stets seinen propagandistischen  Fokus auf das Verhältnis von Individuum und Staat gerichtet zu haben. Die Leistung besteht meines Erachtens allerdings nicht darin, irgendetwas theoretisch Erhellendes oder Tiefgründiges zu diesem Komplex beigetragen zu haben, sondern darin durch ständiges Betonen dieser Thematik den wissenschaftlichen Sozialismus gezwungen zu haben, der Tendenz der Marginalisierung der mit diesem Sachverhalt zusammenhängenden Fragen in der eigenen Theorie entgegenzuwirken.  

Landmessers Referat stellt gleichsam ein "who is who" in der Geschichte des Anarchismus dar. Die darin erwähnten Personen werden jedoch leider den LeserInnen inhaltlich nicht vorgestellt, wobei freilich die Fragestellung "Individuum und Staat" durchaus ein thematisches  Bindglied für diese anarchistische Ahnenreihe hätte sein können. Stattdessen müssen sich die LeserInnen mit Worthülsen (libertäre Autonomisten, anarchistischer Kommunismus, freiheitlicher Sozialismus usw.)  zufrieden geben. Heraus kommt eine Art anarchistischer Flickenteppich.

Schlussendlich bleibt noch anzumerken, dass es unter dem Label Anarchismus ebenso Fehler und Versäumnisse sowie zweifelhafte Gestalten wie in der Geschichte des marxistischen ArbeiterInnenbewegung gibt. Während die dort allerdings schonungslos und offen diskutiert werden, werden im Hinblick auf die Ideengeschichte des Anarchismus solche Sachverhalte von Ralf Landmesser geflissentlich ausgeblendet.

Zum Beispiel: Wenn Landmesser Gustav Landauer im Zusammenhang mit der Münchner Räterepublik nennt, dann verlangt eine seriöse Behandlung auch die Nennung von Silvio Gesell. Erich Mühsam schreibt dazu in der Fanal 7/1930: "Gustav Landauer wußte, was er tat, als er vor elf Jahren empfahl, die Revolutionierung des Geldwesens der Räterepublik Bayern dem an Proudhon geschulten, dabei ganz selbstständigen Denker Gesell anzuvertrauen." Dieser "selbständige Denker" war ein ausgemachter Rassist. Näheres zum völkischen Biologismus der Silvio Gesell kann in TREND 11/2006 nachgelesen werden. Landauer war dagegen ein religiöser Mystiker.

Oder: Wenn sich Landmesser über Bakunins Verhältnis zu Marx äußert, gehört es sich schon zu erwähnen, dass Bakunin ein Antisemit war. Hier ein wenig Bakunin im Original:

"Nun, diese ganze jüdische Welt, die eine ausbeuterische Sekte, ein Blutegelvolk, einen einzigen fressenden Parasiten bildet, eng und intim nicht nur über die Staatsgrenzen hinweg, diese jüdische Welt steht heute zum großen Teil einerseits Marx, andererseits Rothschild zur Verfügung. Ich bin sicher, daß Rothschild auf der einen Seite die Verdienste von Marx schätzen, und daß Marx auf der anderen Seite instinktive Anziehung und großen Respekt für die Rothschild empfindet. Dies mag sonderbar erscheinen. Was kann es zwischen dem Kommunismus und der Großbank gemeinsames geben? O! der Kommunismus von Marx will die mächtige staatliche Zentralisation, und wo es eine solche gibt, muß heutzutage unvermeidlich eine zentrale Staatsbank bestehen." (2)

Der Anarchismus, der ohne die Kritik der Politischen Ökonomie und ohne den Klassenkampf mit dem Ziel des Kommunismus auszukommen glaubt, ist politisch eine Schimäre.

Auf der einen Seite organisieren sich Lohnabhängige in den Syndikaten der FAU und bescheiden sich gleichzeitig mit Lohnkämpfen und Arbeitsgerichtsprozessen. "Die Assoziation von freien und gleichen Produzenten" (MEW 16 / S. 195) verkürzt sich bei ihnen auf ein Versprechen an die Zukunft.

Auf der anderen Seite figurieren so genannte Anarcho-Kapitalisten, die den Widerspruch zwischen Staat und Staatsbürger von den ökonomischen Verhältnissen, die sie ausdrücklich anerkennen, abkoppeln, um die Figur des autonom handelnden libertären Wirtschaftsbürgers zu preisen. ("Alles was eine lebenswerte Gesellschaft braucht, wie Regeln, Instanzen zur Überwachung dieser Regeln und Wohlstand können durch freiwillige Absprachen und Tauschaktionen, sprich durch den Markt bereitgestellt werden.")

Und last not least als würdige Perversion: Die Anarcho-Nationalisten. Sie bekennen: "Der Anarchismus ist die Philosophie einer neuen sozialen Ordnung, die auf einer Freiheit basiert, die nicht durch von Menschen geschaffene Gesetze eingeschränkt wird." Und: "Unsere Vorstellung von „Nation“ zielt nicht auf eine politische (staatliche) Einheit, sondern auf eine kulturelle oder ethno-kulturelle Einheit."

Grobschnitt von geringer Güte

Schon infolge der Studenten- und Jugendbewegung der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts kam es in den 70er Jahren zu einer breiten Diskussion über den Charakter des realexistierenden Sozialismus. Die Debatte kreiste um solche Begriffe wie bürokratischer Kollektivismus, Staatskapitalismus, Restauration des Kapitalismus, Rückkehr zum Profit, asiatische Produktionsweise usw. In dieser Debatte spielten Positionen von Trotzki, Luxemburg, Mao Tsetung Hilferding, Wittfogel, Marcuse, Djilas, Burnham, Bordiga, Brendel, Dutschke u.v.a. eine erkenntnisleitende Rolle.

Nach dem Zusammenbruch der DDR und der meisten anderen Ostblockstaaten flammte die Diskussion erneut auf. Einige neue Analyse-Aspekte brachten die so genannten Wertkritiker von der Krisisgruppe sowie Robert Schlosser in diese Debatte ein. Auch in den Archiven von Infopartisan finden sich relevante Einschätzungen, wie zum Beispiel Anmerkungen zu einer Politischen Ökonomie des 'real existierenden Sozialismus' von Joachim Hürtgen, der diesen Text 1988  für die DDR-BürgerInnenrechtsbewegung verfasste. Oder die zentralen Schriften zur Sozialismusmuskritik von Robert Kurz aus den 90er Jahren. Als so genanntes Standardthema wird die Frage nach dem Charakter des Sozialismus in der DDR in der Rosa Luxemburg Stiftung in zahlreichen Texten behandelt. Und nicht zu vergessen der  "telegraph".

Keine dieser Quellen ist es wert, für Ralf Landmesser bei der Frage nach der Bewertung des realexistierenden Sozialismus Erwähnung zu finden. Da braut er sich lieber sein eigenes Gemisch . Wo andere umfassende Untersuchungen anstrengen, genügt Landmesser ein grob geschnittenes Klischees, wie wir es aus den staatsbürgerkundlichen Traktaten der Bundeszentrale für politische Bildung kennen. Im O-Ton Landmesser: "Der jahrzehntelange "Realexistierende Sozialismus" entwickelte sich zu einem bürokratischen Monster dessen staatskapitalistische zentrale Fehlsteuerungen häufig grotesk-katastrophale Auswirkungen hatten, sowohl was den Lebensstandard der Bevölkerung, als auch was die Ökologie betraf."

Warum es sich bei Produktionsweise der SU, der VR China oder der DDR um einen Staatskapitalismus gehandelt haben soll, bleibt das Geheimnis von Ralf Landmesser. Stattdessen hält er, ganz der hedonistische Wessie, den Lebensstandard der Bevölkerung in diesen Staaten für "grotesk-katastrophal". Mit solch flotten, jedoch im Sinne von Erkenntnisgewinn Sprüchen geringer Güte delegitimiert er die sozialen Kämpfe der KollegInnen im "Beitrittsgebiet", wenn sie in denen an die Arbeitsplatzgarantie und an den bezahlbaren Wohnraum zu DDR-Zeiten erinnern. Solche sozialen Sicherungen sind für Ralf Landmesser bedeutungslos. Er erzählt uns lieber die Horror-Geschichte der Machtmenschen Lenin, Stalin, Mao und Fidel Castro und merkt gar nicht, dass er nur Personenkult mit umgekehrten Vorzeichen betreibt. Dabei fällt ihm nicht einmal auf, dass der Niedergang der sozialistischen Staaten nicht nur endogene sondern genauso bedeutsame exogene Ursachen hatte. Den imperialistischen Staaten waren nämlich ab 1917 schlicht Märkte genommen worden, die sie sich auf vielfältige Weise zurückzuerobern versuchten.

Eine menschenwürdige Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung hat konkrete materielle Bedingungen zur Voraussetzung. So muss es ökonomisch möglich sein, umfassende basisdemokratische  Diskussions- und Entscheidungsprozesse durchzuführen, in denen festgelegt wird, was sinnvoll und notwendig ist, zu produzieren. D.h. der gesellschaftlich geschaffene Reichtum muss nicht nur zur reinen Reproduktion ausreichen, sondern er muss einen Überschuss enthalten, der die materielle Ressource dieser Verteilungsdiskussion bildet.(3)

Bei diesem Aspekt, den ich hier nur beispielhaft nenne, handelt es sich um eine objektive Voraussetzung, die, wenn sie nicht gegeben ist, die Gesellschaft in das Dilemma einer Armutsverwaltung stürzt. Eine Situation übrigens, in der sich alle Gesellschaften befanden, die sich im vorigen Jahrhundert in eine sozialistische Gesellschaft  transformieren wollten. An die Stelle des Diskurses  musste der Zwang treten. Das darf sich nicht wiederholen.

Ralf Landmessers Grobschnitt ist keine seriöse erkenntnistiftende Kritik am Realsozialismus, sondern nur billige Polemik und lärmendes Topfschlagen für eine Politik der Projektemacherei. Beides ist untauglich, sowohl die Debatte über Weg und Ziel der sozialen Emanzipation voranzubringen (4), noch einen folgenlosen, aber dafür wehmütigen Rückblick auf verflossene DDR-Jahre zu verhindern.

Anmerkungen

1) siehe dazu in dieser Ausgabe: Die Oktoberrevolution - 25. Oktober (7. November), Mittwoch. Protokoll eines Tages, der die Welt erschütterte

2) Hier dürfte der Einwand kommen, dass Marx auch nicht frei gewesen sei von Antisemitismus. Solche Ansichten beruhen auf der fehlerhaften Rezeption von Marxens Frühschrift zur Judenfrage. Diese erklärt das Verhältnis von bestimmten  "Juden" zum Geld aus den abzuschaffenden Klassenverhältnissen und eben NICHT aus der Abstammung oder der Kultur.

3) Nicht zureichende materielle Bedingungen im Innern, Kriege und permanente Bedrohung von Außen begünstigten politische Strukturen, in denen soziale Widersprüche im Innern zu antagonistischen uminterpretiert wurden, wodurch ihre militärische Lösung bzw. polizeiliche und geheimdienstliche Behandlung gerechtfertig erschien. Der als Massenmörder unlängst stigmatisierte Mao spürte übrigens 1957, dass die "Behandlung der Widersprüche im Volk" anders zu erfolgen habe als der Widerspruch zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten.

3)  TREND onlinezeitung wird anlässlich des 15. Jahrestages ihres Erscheinens am 21./.22.1.2011 im Berliner Mehringhof mit der Veranstaltungsreihe "REFORM UND REVOLUTION. Wege aus dem Kapitalismus." einen Beitrag zu der Debatte über Weg und Ziel der sozialen Emanzipation leisten. Im Ankündigungstext heißt:

Täglich hören wir von sozialen Auseinandersetzungen in Betrieben und im Stadtteil, aber auch an Schulen und Unis. Dort wo wir leben, nehmen wir an ihnen teil. Auch wenn sich diese Kämpfe  zunächst nur gegen persönlich erfahrene Ausbeutung, Ausgrenzung und Unterdrückung richten, sie gewinnen an Breite  und es wächst darin die Erkenntnis, dass Produktion, Verteilung und Reproduktion anders als nach kapitalistischen  Gesetzmäßigkeiten organisiert werden könnten. Damit setzt sich nach 20 Jahren des Scheiterns der realsozialistischen Staaten der  Kommunismus wieder auf die Tagesordnung.

In vielen Teilkämpfen entwickelt sich derzeit der Wunsch nach  Vernetzung. Es entstehen Bündnisse. Sie reichen von der Einpunkt-Aktion bis zu bundesweiten Kampagnen. Nun kommt es  darauf an, anstelle pragmatischer Bündnisse eine dauerhafte Vernetzung für das Ziel der Aufhebung der kapitalistischen  Produktionsweise schaffen.

Wie müsste HEUTE so eine revolutionäre Organisation aussehen? In welchem Verhältnis stünde sie zum Proletariat? Entsteht sie in den Kämpfen der Klasse? Was wären ihre programmatischen  Grundlagen? Wie wären die Tageskämpfe mit dem Kampf für eine menschwürdige Gesellschaft jenseits des Kapitalismus zu  verbinden? Welche Strukturen müsste diese Organisation haben? Was gäbe es aus den Fehlern und Niederlagen der Vergangenheit  zu lernen? Was sollte sich nicht wiederholen? Was hieße HEUTE  Reform und was Revolution. Hieße die Antwort nach wie vor  Diktatur des Proletariats?