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Niederlande:
Theo van Gogh auf offener Straße ermordet

Von Jörg Victor
11/04

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Am Dienstag, dem 2. November, wurde der Regisseur und Publizist Theo van Gogh in Amsterdam ermordet. Der 47-jährige van Gogh, der nach eigenem Bekunden mit der Partei des im Mai 2002 ermordeten Pim Fortuyn symphatisierte und die rigide Abschottungspolitik der Regierung gegenüber Einwanderern unterstützte, wurde auf offener Straße durch mehrere Schüsse und Messerstiche getötet. Der mutmaßliche Täter, Mohammed B., ein 26-jähriger Niederländer marokkanischer Abstammung, hatte zuerst auf van Gogh geschossen, dann auf ihn eingestochen und ein Schreiben zurück gelassen. Nach Zeitungsberichten soll der Täter in dem Schreiben zum heiligen Krieg aufgerufen haben. In einer Erklärung der Regierung heißt es dagegen nur, das Schreiben habe Koranverse zitiert. Die Regierung hat außerdem bestätigt, dass der Täter dem niederländischen Geheimdienst (AVID) bekannt sei. Er habe jedoch nicht mehr als lose Kontakte zu Personen gehabt, die mit fundamentalistischen Gruppierungen in Verbindung gebracht werden. Siehe dazu auch

Sowie folgende Artikel in der bürgerlichen Presse

FAZ:
Die Niederlande nach dem Mord
Freitag: Muselman und die Brandstifter
Spiegel:
Interview mit Leon de Winter

Süddeutsche: Kampf der Kulturen
taz:
Van Gogh und die Menschenrechte
Weltwoche:
Radikale Muslime und radikale Demokraten können nicht friedlich zusammenleben.

und Van Gogh`s Submission im Internet

Außerdem aus dem
rechtsextremen
Lager:

Nationaljournal:
Kultur-Krieg unter dem
Banner von "911"
Deutsches Kolleg:
Semitischer Ritualmord

Theo van Gogh war in den Niederlanden als hemmungsloser Provokateur bekannt. Den Schriftsteller Leon de Winter beschuldigte er, seine jüdische Identität zum Verkauf seiner Bücher zu instrumentalisieren. Während des neunjährigen juristischen Streits schrieb van Gogh zur "Untermalung" seiner Vorwürfe, de Winter wickle sich beim Sex mit seiner Frau Stacheldraht um den Penis und schreie "Auschwitz, Auschwitz".

In seinem Kurzfilm "Submission", der im niederländischen Fernsehen gezeigt wurde, äußert er sich in ähnlich provokativer Art über den Islam. Laut NZZ-online handelt der Film "von der Unterdrückung der Frau in der von Männern dominierten islamischen Gesellschaft. Neben Vergewaltigung innerhalb der eigenen Familie und der darauf folgenden Bestrafung wegen ‚Ehebruchs’ ging es in diesem Kurzfilm um Hochzeiten, die gegen den Willen der betroffenen Frauen stattfinden. Ferner wurde bei der Inszenierung auch auf Koranverse zurückgegriffen." Diese wurden auf die Körper von verschleierten Frauen projiziert, die ansonsten nackt waren.

Das Drehbuch zu "Submission" stammt von der aus Somalia stammenden Ayaan Hirsi Ali, einer Parlamentsabgeordneten der rechtsliberalen VVD (Partei für Freiheit und Demokratie), die seit langem als Islamkritikerin auftritt. Nach der Ausstrahlung des Films erhielten sowohl Hirsi Ali als auch Theo van Gogh Morddrohungen über das Internet.

Van Gogh war gerade dabei, die Arbeit an "06-05" abzuschließen. In diesem Film, der Anfang des kommenden Jahres in die Kinos kommen sollte, entfaltet van Gogh seine Einschätzung Pim Fortuyns als Mann, der unbequeme Wahrheiten sagt. Fortuyn wird deswegen Opfer eines Komplotts, das in seiner Ermordung endet. Der Titel bezieht sich auf das Datum des Anschlags auf Fortuyn, den 6. Mai.

Van Gogh polemisierte gegen jede Religionsgemeinschaft, doch im Besonderen gegen den Islam, den er als die große Bedrohung der "zivilisierten westlichen Welt" bezeichnete. Er stellte sich offen gegen das "multikulturelle Gesellschaftsmodell", das seiner Meinung nach eine Illusion darstelle. Ebenso sei Toleranz nur bis zu einem bestimmten Punkt möglich.

Das politische Klima in den Niederlanden

Der Anschlag auf van Gogh ist, nach dem Attentat auf Pim Fortuyn, der zweite politisch motivierte Gewaltakt in den Niederlanden innerhalb von zweieinhalb Jahren. Wie damals hat auch dieser Mord das Land erschüttert. Am Tag der Tat demonstrierten 20.000 Menschen in Amsterdam für die Meinungsfreiheit und gegen Gewalt zur Lösung politischer Probleme.

Die Angst vor Intoleranz und Gewalt ist ohne Zweifel gerechtfertigt. Der Mord an van Gogh ist zu verurteilen. Er kann nur die reaktionärsten und rechtesten Kräfte in der Gesellschaft stärken. Man kann allerdings seine Ursachen nicht verstehen, ohne die Veränderungen in der niederländischen Gesellschaft zu untersuchen, für die sowohl die jetzige konservative Regierung unter Jan-Peter Balkenende wie ihre sozialdemokratischen Vorgänger verantwortlich sind.

Seit der Einführung des sogenannten "Polder-Modells" zu Beginn der 1980er Jahre hat sich die einst für ihre Offenheit und Toleranz bekannte niederländische Gesellschaft stark polarisiert. Große Teile der Bevölkerung leben in Armut oder Unsicherheit. Besonders betroffen sind Einwanderer und Ausländer.

Das politische Establishment reagiert auf die wachsenden sozialen Spannungen, indem es diese schwächsten Teile der Bevölkerung zum Sündenbock stempelt. Das hatte sich bereits vor dem Aufstieg der Liste Pim Fortuyn (LPF) abgezeichnet. Doch nach deren spektakulärem Wahlerfolg vor zwei Jahren übernahmen alle Parteien ihre Abschottungspolitik gegenüber Ausländern. Das gesamte politische Spektrum rückte nach rechts. Bis hin zur links der Sozialdemokratie stehenden Sozialistischen Partei wurde die "Das Boot ist voll"-Rhetorik unterstützt. Der Mord an van Gogh fand in einem Klima steigender Fremdenfeindlichkeit von Seiten der etablierten Parteien und eines Großteils der öffentlichen Medien statt.

Einwanderer und Flüchtlinge wurden stark unter Druck gesetzt. Unabhängig davon, ob sie erst seit kurzem oder schon seit Jahren im Land waren, wird von ihnen die Integration gefordert. Regierungschef Balkenende hat die niederländischen Werte und Normen für alle Einwanderer als verbindlich erklärt. Nur wer sich in diesem Sinne integriere, dürfe im Land bleiben. Kostenpflichtige Sprachkurse sollen dies überprüfen. Bisheriger Höhepunkt dieser Entwicklung ist der Beschluss der Integrationsministerin Rita Verdonk von der rechtsliberalen VVD, 26.000 Einwanderer abzuschieben, denen in Schnellverfahren das Bleiberecht abgesprochen wurde. Viele von ihnen leben seit mehr als fünf Jahren im Land.

Auch ihre wirtschaftliche Lage drängt Einwanderer an den Rand der Gesellschaft. Die Arbeitslosenquote unter Ausländern ist vier Mal so hoch wie der Durchschnitt und vierzig Prozent der Einwanderer verlassen die Schule ohne Abschluss.

Gleichzeitig haben die Niederlande die USA in ihrem Angriffskrieg gegen den Irak unterstützt und Truppen in das besetzte Land entsandt. Der Geheimdienst schürt permanent Angst vor möglichen terroristischen Attacken aufgrund der engen Zusammenarbeit der Niederlande mit Großbritannien und den USA. Auch der Krieg der israelischen Regierung gegen die Palästinenser wird von der Regierung unterstützt. Sie tritt unter anderem dafür ein, die Hamas auf die Liste der terroristischen Organisationen zu setzen.

Mit seinen provokativen Angriffen auf den Islam goss van Gogh Öl ins Feuer. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich dieses explosive Gemisch gewaltsam entladen musste.

Der Mord und seine Folgen

Während große Teile der Bevölkerung nach dem Mord Gewalt als Mittel der politischen Aktivität verurteilen, wird das Attentat von Regierungsseite genutzt, ihre polizeistaatlichen Bestrebungen und ihre Abschottungspolitik weiter voranzutreiben.

Regierungschef Balkenende lobte van Gogh als Vertreter des freien Wortes und sagte: "Unsere Demokratie würde an der Wurzel angegriffen, wenn man seine Meinung nicht mehr äußern könnte. Das Klima hat sich verhärtet."

Auf der Protestveranstaltung in Amsterdam sprach auch Integrationsministerin Verdonk, die von Teilen der Demonstranten ausgepfiffen und ausgebuht wurde. Sie betonte die marokkanische Abstammung des Täters und sagte, jeder Mensch und jede Organisation müsse sich fragen lassen, ob der Weg der Gewalt weiter beschritten werden solle oder nicht. Dazu müsse sich jeder eindeutig äußern.

Verdonk unterstützte die Forderung der auflagenstarken Tageszeitungen, die die Verurteilung des Mordes durch sämtliche muslimischen Organisationen als unzureichend ablehnten und eine "deutlichere Erklärung" verlangten.

Einwanderer führten sich durch die Kampagne eingeschüchtert. Interviewte Marokkaner bekundeten ihre Angst, dass der Mordanschlag dazu führen könne, dass sie aus dem Land geworfen werden könnten.

Obwohl es keine konkreten Hinweise gibt, verkündete die Polizei auch, sie untersuche mögliche Verbindungen zu Al-Quaida. Am Mittwoch wurden acht Personen in Amsterdam festgenommen. Dabei handelt es sich laut Polizeiangaben um sechs Marokkaner, einen Algerier und einen Spanier marokkanischer Abstammung. Die Polizei drang dabei in dieselben Wohnungen in Außenbezirken Amsterdams ein, die sie bereits letztes Jahr im Zuge einer Untersuchung über Selbstmordattentate in Casablanca gestürmt hatte. Keiner der damals Festgenommenen, die allesamt wegen mangelnder Beweise wieder freigelassen wurden, war unter den Verhafteten. Einziger Anhaltspunkt für die Verhaftungen war, dass in den Protokollen der letztjährigen Untersuchungen auch der Name des Mörders von van Gogh aufgetaucht war.

Parallel dazu veröffentlichte die Tageszeitung De Telegraaf eine Liste mit fünf weiteren Prominenten, die angeblich von der islamistisch-fundamentalistischen Terrorgruppe, der auch Mohammed B. angehören soll, als Anschlagsziele auserkoren sind. Die Zeitung kann allerdings nicht einmal den Namen dieser Organisation nennen, deren Todesliste von Detektiven aufgestöbert worden sein soll.

Die Regierung nutzt die so geschürten Ängste, um den Sicherheits- und Überwachungsapparat weiter auszubauen. Bisher ist jede Aufstockung der finanziellen und personellen Mittel von Polizei und Geheimdienst, wie auch der fortschreitenden Abschaffung juristischer Beschränkungen für die Sicherheitsapparate mit der steigenden Terrorgefahr begründet worden.

Als Sofortmaßnahme wurden die Spezialeinheiten der Polizei in den überwiegend von Einwanderern bewohnten Ghettos Amsterdams verstärkt. Diese sind autorisiert, in den als Sicherheitsrisiken eingestuften Stadtteilen verdachtsunabhängige Leibesvisitationen und Verhaftungen vorzunehmen.

Auch die ausländerfeindlichen Organisationen der extremen Rechten sehen sich im Aufwind. Am Mittwoch veranstalteten die Jugendorganisation der LPF sowie die Neue Rechte (Nieuwe Rechts) eine Demonstration gegen den Mordanschlag. Unter dem Motto "Das Maß ist voll" forderten sie den Rücktritt des Innenministers Johan Remkes (VVD) sowie des sozialdemokratischen Bürgermeisters von Amsterdam, Job Cohen. Remkes warfen sie vor, er habe die Polizei nicht soweit ausgebaut, dass diese das Attentat habe verhindern können. Cohen verurteilten sie als Vertreter der Toleranz-Politik.

Die Rechtsextremen kündigten an, dass nach den Morden an Fortuyn und Van Gogh nun die Zeit für die "Aktion" gekommen sei, ohne jedoch ihre Vorstellung dieser "Aktionen" näher zu erläutern. Der ehemalige VVD-Abgeordnete Geert Wilders - er hat vor zwei Monaten die VVD-Fraktion verlassen - hat laut Presseberichten angekündigt, eine neue Rechtspartei zu gründen.

Wie auch immer man zum künstlerischen und politischen Schaffen van Goghs stehen mag, zeigt sich, dass individueller Terror als Mittel der Politik zutiefst reaktionär ist. Der Mord an van Gogh stiftet Verwirrung in der Bevölkerung, die sowohl die antidemokratische Politik der Regierung als auch die Ermordung ablehnt. Er verschafft der Regierung dadurch die Möglichkeit, vehementer den Abbau demokratischer Rechte durchzusetzen. Der Staat wird juristisch und polizeilich aufgerüstet, um diese Mittel gegen die gesamte Bevölkerung einzusetzen.

 

Editorische Anmerkungen

Der Artikel erschien am 9. November 2004 bei www.wsws.org und ist eine Spiegelung von www.wsws.org/de/2004/nov2004/gogh-n09.shtml