Editorial
Tabubruch

von Miriam Verleger
11/02
 
 
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Allein beseelt von dem Willen ein guter Mensch zu sein, glaubt ein nicht unwesentlicher Teil der Linken, die Bündelung dieses individuellen Verlangens zu einem Gesamtwillen könne irgendetwas Nachhaltiges bewirken, um Krieg, Ausbeutung und Unterdrückung zu beseitigen und den imperialistischen Kapitalismus in eine freie Gesellschaft freier Individuen zu transformieren.

Diese Haltung bringt den nicht unsympathischen Wunsch, in einer freien Gesellschaft zu leben, keinen Jota voran, sondern etliche seiner Protagonisten verbeißen sich stattdessen in die verrücktesten Verkehrungen des Alltagsbewußtseins, die als Rassismus, Chauvinismus, religiöser Fanatismus und besonders in der BRD als Antisemitismus daherkommen. Mir nichts dir nichts verwandelt sich dabei ein Antinationalismus in das Hohelied vom Staate Israel und die Unterstützung der barbarischen US-Kriegspolitik. Um wenigstens propagandistisch noch zu retten, was es zu retten gilt, nämlich das emanzipatorische Ziel, werden schließlich solch irrsinnige Parolen in die Welt gesetzt, die da lauten: Israel & USA = Zivilisation, ohne Zivilisation kein Kommunismus.

Dass der Kommunismus nur durch das bewußte Handeln der assozziierten ProduzentInnen zu erlangen ist, dass mithin die Erringung der freien Gesellschaft die Kenntnis der aufzuhebenden Gesetzmäßigkeiten des waren- und geldförmigen Kapitalismus durch eben diese ProduzentInnen voraussetzt, bleibt bei unseren "guten Menschen" - geschuldet ihrem Voluntarismus - ausgeblendet. Die soziale Frage und die Parteilichkeit interessiert nicht. Ihr Emanzipationsbegriff bricht an der gewaltförmigen  Aufhebungsschranke der bürgerlichen Gesellschaft: am Staat.

Dieser Rückzug ins Gehäuse der spätbürgerlichen Gesellschaft war zweifellos eine Folge von "89", als der Arbeiterbewegungsmarxismus implodierte und alle Strömungen der revolutionären Theorie das Objekt ihrer Affirmation bzw. Negation verloren. Historischer und dialektischer Materialismus wurden ersetzt durch Poststrukturalismus und Systemtheorie. Die Werttheorie kam nahezu unter die Räder der kritischen Theorie, die den Grundwiderspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital in den Widerspruch zwischen Staat und Individuum umdeutete.

Seitdem ist es schick, in Sachen Erkenntnistheorie, Weltanschauung und Philosophie Vordenker und Denker des Faschismus - Nietzsche und Heidegger - an die Stelle von Marx, Engels und Lenin zu plazieren. Dies ist unter "gestandenen" Linken beileibe kein Tabubruch. Ganz im Gegenteil: Polit-Scharlatane wie Hardt & Negri machen mit dieser Denke Furore. Und in den Jugendjahren vom MSB-Spartakus politisch sozialisierte Hochschullehrer, enttäuschte SED-Kader, PDS-Reformisten, Alt-Autonome und Graswurzelanarchisten sowie DGB-Kader haben mit dem "Empire"-Buch endlich einen Theoriesteinbruch gefunden, der es ihnen möglich macht, ihrer Ich-AG im politischen Alltagsgeschäft ein widerborstiges Image zu verleihen.

Nein. Als wirklicher Tabubruch mit dem linken Mainstream erscheint die Rückbesinnung auf die revolutionäre Theorie - jedoch nicht als ML- oder Anarcho-Revival inszeniert, da kommt nur Querfront mit Horst Mahler, Bernd Rabehl, Peter Töpfer und Konsorten raus, sondern als Fokussierung von Theorie und Praxis auf die soziale Frage. Dazu bildet die Marxsche Kritik der Politischen Ökonomie nach wie vor den unverzichtbaren theoretischen Werkzeugkasten und infolge dessen werden die Zerschlagung des Lohnsystems und die Klassenfrage das Vokubular von Agitation und Propaganda zu bestimmen haben. (Ein mutiges Beispiel dazu siehe den Aufruf: No war but the class war.).

Gegen die Rauchvorhänge der spätbürgerlichen Ideologie der Hardt´s und Negri´s rebelliert die Wirklichkeit. Nicht nur an der Peripherie, sondern in den imperialistischen Metropolen selber treten Armut und andere massive soziale Verwerfungen immer stärker zum Vorschein, konterkariert vom immensen gesellschaftlichen Reichtum, wie er sich im grenzenlos erscheinenden Luxus der herrschenden Klasse abbildet. Die ökonomischen Widersprüche, die durch die Wertvergesellschaft hervorgerufen und geformt werden, spitzen sich seit 1989 in einer Weise zu, dass es zu ihrer Lösung immer häufiger außerökonomische Methoden - vor allem des Krieges - bedarf.

Kurzum: Alle politischen, militärischen und ökonomischen Erscheinungen, wie sie von Lenin und anderen Theoretikern der II. und III. Internationale analysiert wurden und die für den Imperialismus symptomatisch waren, lassen sich in der Wirklichkeit des globalisierten Kapitalismus der Gegenwart wiederfinden.

Diese Erscheinungen müssen neu untersucht, d.h. ihr heutiger innerer widersprüchlicher Zusammenhang muß herausgearbeitet werden - denn ohne eine Imperialismustheorie auf der "Höhe der Zeit", wird es keine wissenschaftlich fundierte Politik der sozialen Emanzipation, sondern weiterhin nur den schrecklichen Voluntarismus der "guten Menschen" geben.