zurück

Editorial

Jahrestage
von Karl Müller

10/99
trdbook.gif (1270 Byte)
trend
online
zeitung
Briefe oder Artikel:
info@trend.partisan.net
  
ODER per Snail:
Anti-Quariat
Oranienstr. 45
D-10969 Berlin
Allerspätestens seit dem Jugoslawien-Krieg dürfte auch dem letzten klargeworden sein, dass es zur Verankerung des neuen Deutschlands im Bewusstsein seiner Insassen keiner Reichskulturkammer mehr bedarf.  Die Formung der Politischen Ästhetik in der spätbürgerlichen Gesellschaft ist längst nicht mehr die Aufgabe des von ihr besonderten Staates. Mediale Vermittlungen von Politik und Konsum sind nun Sache des Marktes. Hier werden nicht nur Geschmäcker segmentiert (Glatze mit oder ohne Raverbart)  und entsprechende subkulturelle Milieus und Habitus-Scenen installiert, sondern es wird auch der eine oder andere politische bzw. kulturelle Mainstream durch Doku-Soaps kreiert oder abgefeiert. Im Hinblick auf nationale Belange eigenen sich dazu besonders Jahrestages.

Der Oktober 1999 ist voll davon: 50 Jahre DDR, 50 Jahre DGB, 50 Jahre VR China... 

Für den Emanzipationskampf der ArbeiterInnenbewegung des 19. Jahrhunderts, die sich im Widerspruch zu Kapital und Staat konstituieren musste, war die Verbindung von sozialer und nationaler Frage deshalb nicht nur sinn- sondern auch identitätsstiftend (Stichwort: vaterlandslose Gesellen). Schließlich war das Stalinsche Konzept „Sozialismus in einem Land“ nur eine konsequente Umsetzung dessen. Und selbst die anderen  Strömungen der ArbeiterInnenbewegung, die sich betont internationalistisch gaben, kamen nicht ohne die Nation als praktischen und theoretischen Bezugpunkt bei ihrer strategischen Orientierung aus. 

Die fortschreitende Wertvergesellschaftung zerbrach jedoch nicht nur den nationalstaatlich verfassten Sozialismus, sondern lässt mit dem gleichen rasanten Tempo die kapitalistischen Staaten erodieren. Konzeptionelle Überlegungen, die für das politische Handeln der ArbeiterInnenbewegung bisher bestimmend waren, sind tatsächlich Auslaufmodelle. Dies wird in erschreckender Weise beim Blick in zentrale Dokumente deutlich, die wir in der vorliegenden Ausgabe im Hinblick auf die DDR und VR-China-Gründung veröffentlichen. 

Soziale Befreiung kann sich immer nur unter den historischen Bedingungen vollziehen, die die handelnden Subjekte vorfinden. Nation und Volk existieren in den spätkapitalistischen  Metropolen nur noch als imaginierte Begriffe, deren Begriffsinhalte höchstens noch gesellschaftliche Verhältnisse des 19. und  20. Jahrhunderts widerspiegeln. Mit ihnen ist es nicht mehr möglich, die Verhältnisse des anbrechenden 21. Jahrhunderts, die „zum Tanzen gebracht“ werden sollen, zu begreifen. 

Volk und Nation heute zu theoretischen und praktischen Bezugspunkten für eine soziale Emanzipation in den spätkapitalistischen Metropolen machen zu wollen, ist reaktionär. Selbst in Gesellschaften mit nachholender Entwicklung reifen in den revolutionären Befreiungsbewegungen Zweifel an der Tauglichkeit dieser Kategorien für eine soziale Emanzipation. 

Heute stehen jedenfalls in den Metropolen die Kategorien Volk und Nation für den untauglichen Versuch, den chaotischen Erscheinungsformen der globalisierten Wertvergesellschaftung Herr zu werden. Denn mit der völkisch-nationalen Wahrnehmungsbrille können Chaos, Durchmischung, Tempo, Fließen usw. nicht als mehr positive sondern nur noch als bedrohliche Zustände verarbeitet werden. Mit der Berufung auf Volk und Nation verschafft sich die neurotische Angst vor dem Hedonismus der modernen Konsumerlebniswelt ein Ventil. Subalternität gegenüber Gott und Vaterland werden als Werte an sich wieder entdeckt. Uniformierte Gleichförmigkeit - selbst bei der Haartracht -  wirken als Sperrriegel gegen hedonistische Eskapaden.  Damit blockt das Individuum die Zurkenntnisnahme seiner barbarischen Vergesellschaftung im warenproduzierenden Kapitalismus ab – und -  versperrt sich gleichzeitig auch der Möglichkeit, den Weg zur Aufhebung dieser barbarischen Zustände in eine herrschaftsfreie Gesellschaft zu finden 

Deutschland ist für solche Regression - historisch bedingt - besonders empfänglich. Folglich sind die Formen, in denen sich der nationale Blickzurück hier äußert, brutaler und verrückter als anderswo. Man denke nur an die TV-Auftritte der Schrankwand-Nazis Mahler, Oberlercher und ihrer NPD-Kumpane.

Was für Alzheimer-Patienten gilt, nämlich möglichst langes Verbleiben in der gewohnten Umgebung, erwies sich für die rechtsgewendeten Mahler, Rabehl etc. dagegen als wenig heilsam. Je mehr sie in letzter Zeit mit ihren alten Genossen  zusammenkamen (physisch und/oder virtuell), desto verrückter wurden sie. „Panorama“ zeigte uns einen Rainer Langhans in einem besonders fortgeschrittenem Stadium. Als Gefangener seiner Legende vom APO-Kasperl blubberte er nur noch vor laufender Kamera wirr über das Faszinosum Hitler. 

Statt Self-fullfilling Prophecy vermuten nicht wenige Linke in solchen Erscheinungen eine Art Verschwörung, zumal wenn es ein mediales Echo gibt, das scheinbar solche Strömungen  erst richtig anschiebt. 

Dass höchstens 5 % des TV-Publikums an dem Thema „Von Mao zu Hitler“, „Was wurde aus der APO?“ interessiert sind, verweist eher darauf, das solche Doku-Soaps nur für ein bestimmtes Marktsegment produziert werden. Im Hintergrund steuernd wirkt - wenn überhaupt -  „the invisible hand“ der Wertverwertung, d.h. im vorliegenden Fall, wie muß die Polit-Geisterbahn inszeniert sein, damit bei dem Klientel (Wir zwischen 50 und 60) Zweit- und Drittverwertungen des Sujets (z.B. bei den Printmedien – „Baum und Mahler im Zeit-Gespräch“) laufen können? Auf jeden Fall auch als staatsbürgerkundliche Unterweisung mit verwertungsfähigen Bezug zur Geschichte.  Ein Teil der 68er regiert, der andere regrediert – macht sich besonders gut als Lehrstunde der Demokratie, denn die BürgerInnen lernen, eine bürgerliche Demokratie hält nicht nur jene Regierung und ihre braunen Monster aus, sondern auch die diesbezüglichen Nachrichten. 

Wenn auf linken&radikalen Demos neuerdings statt „Hoch die internationale Solidarität“ – „Hoch die antinationale Solidarität“ gerufen wird, wird damit der historisch notwendige Bruch mit Volk und Nation bereits plakativ markiert. Dies ist nicht viel, aber ein Fortschritt. Inhaltliche Vertiefungen müssen folgen. Wir sollten dazu auch Jahreszahlen nutzen. Denn: Erinnerungsarbeit hilft vor falschen Wiederholungen schützen.

nach oben