Vor 70 Jahren
Gründung der DDR

10/2019

trend
onlinezeitung

Die weitere Durchsetzung eines
neuen Ausbeutersystems in der DDR in den 1960er Jahren

Lag die Führung des Wettbewerbs früher weitgehend in Händen der Gewerk­schaften, so ging sie jetzt verstärkt auf die Werksleitung über. "Der Leiter neuen Typs muß das Prinzip der Delegierung der Verantwortung auch in anderer Rich­tung durchsetzen. Er darf sich weder von oben noch von der Seite ins Handwerk pfuschen lassen. Wenn der Generaldirektor zum Beispiel eine konkrete Orientie­rung für die Arbeit der Werktätigen seines Industriezweiges gegeben hat, so kann die Gewerkschaft nicht einen allgemeinen Wettbewerb veranstalten, dessen Ziele sich nicht mit den Hauptaufgaben decken, die der Generaldirektor gestellt hat. Solche Wettbewerbe müssen in Zukunft mit dem Generaldirektor vereinbart wer­den, oder sie können nicht stattfinden."(573) Allerdings sollten ohnehin keine allgemeinen Wettbewerbe mehr stattfinden. "Die Erfordernisse der wissenschaft­lich-technischen Umwälzung gestatteten es nicht mehr, den Wettbewerb in allen Zweigen der Volkswirtschaft nach allgemeingültigen Zielen und Beispielen zu or­ganisieren. "(574) Als weitere Begründungen wurden die mannigfaltigen Verflech­tungen und Kooperationsbeziehungen, die zunehmende Arbeitsteilung und das neue ökonomische System genannt. Es sollten von nun an vor allem Komplexwettbewerbe stattfinden, die von der Herstellung eines bestimmten Produkts ab­geleitet wurden. "Der Komplexwettbewerb geht aber auch über den einzelnen Betrieb hinaus. Er umfaßt, ausgehend vom Finalprodukt, alle Betriebe, die ent­scheidend an der Herstellung des Produkts beteiligt sind, also sowohl Finalprodu­zent als auch Zulieferbetriebe."(575)

Ferner wurde 1962/63 in einem Kraftfahrzeugwerk in Werdau im Rahmen der Wettbewerbsbewegung das Haushaltsbuch als eine Form der wirtschaftlichen Rechnungsführung auch für die kleinste Produktionseinheit eingeführt. Im Verlauf der weiteren Entwicklung wurde diese Form der Rechnungsführung immer mehr zum, Bestandteil der Wettbewerbsbewegung.(576) "In den fortgeschrittenen Betrieben wird bereits der gesamte Komplex der Produktionsrationalisierung vom Wettbe­werb auf der Grundlage des Haushaltsbuches erfaßt."(577)

Hinsichtlich der Neuererbewegung zeigten Untersuchungen, daß die meisten Kollektivvorschläge von zwei bis vier Neuerern eingebracht wurden. Bei diesen handelte es sich überwiegend um Facharbeiter wie Einrichter, Schichtleiter, Reparaturschlosser und Meister. Viele Leiter wandten sich immer wieder an den glei­chen Kreis von qualifizierten Neuerern und wurden dabei nicht selten auch noch von der Gewerkschaftsleitung unterstützt.(578) Diese Untersuchungen bestätigen nur den hier bereits ausführlich geschilderten Charakter der Neuererbewegung und die Tatsache, daß in dieser das Prinzip des sozialistischen Wettbewerbs, die Hilfe für die Zurückgebliebenen zum Zwecke eines allgemeinen Aufschwungs nicht realisiert wurde.

Neu in der Entwicklung des 'sozialistischen' Wettbewerbs war jedoch, daß die­ser in der hier behandelten Periode auch auf privatkapitalistische Betriebe mit voller Billigung von Partei und Gewerkschaft ausgedehnt wurde. Derartige Bestre­bungen hatte es bereits früher seitens der Privatunternehmer gegeben. Es sei daran erinnert, daß diese aufs schärfste zurückgewiesen wurden, da damit nur der Pro­fit dieser Unternehmer gesteigert würde.(579) Die Ausdehnung des sozialistischen Wettbewerbs auch auf die halbstaatlichen und privaten Betriebe wurde von Ul­bricht als Festigung der politisch-moralischen Einheit aller Schichten der Bevölke­rung gekennzeichnet. Er begründete die Tatsache, daß nunmehr auch die Privat­kapitalisten vom Wettbewerb der Arbeiterklasse profitieren konnten, damit, " ... daß sich die Angehörigen dieser Schichten im Prozeß des gemeinsamen sozialisti­schen Aufbaus aus individuellen Kleinproduzenten zu sozialistisch schaffenden Werktätigen entwickelt haben und sich auf vielfältige Weise durch neue Beziehun­gen mit dem sozialistischen Aufbau und der Arbeiterklasse verbunden fühlen."(580) Handelt es sich hier vorwiegend um eine klassenmäßige Begründung, so wurde die Ausdehnung des Wettbewerbs ökonomisch mit der Erzeugnisgruppenarbeit und damit verbunden mit dem Komplexwettbewerb motiviert. Die Arbeiter waren viel­fach jedoch nicht damit einverstanden, daß sich durch ihre Leistungen im Wett­bewerb die Profite der Privatkapitalisten erhöhten. "Solche Kollegen übersehen allerdings, daß das schrittweise Einbeziehen der Unternehmer in den sozialistischen Aufbau und das Nutzbarmachen ihrer Arbeit für den Sozialismus ein politisches und ökonomisches Erfordernis bei der Vollendung des Sozialismus in der DDR ist. ... Leisten die Komplementäre und privaten Unternehmer einen schöpferischen Beitrag im Sinne des gesellschaftlichen Fortschritts, widerspricht das auch nicht dem Klasseninteresse der Arbeiter, wenn sich zugleich der Gewinn dieser Betrie­be erhöht."(581) Nicht also die Arbeiter in diesen privatkapitalistischen Betrieben leisten den 'schöpferischen Beitrag', sondern die Unternehmer. Das rechtfertigt einen höheren Profit!

Fußnoten

573) Ulbricht: Die ökonomischen Gesetze des Sozialismus im gesamten volkswirtschaftli­chen Reproduktionsprozeß einheitlich anwenden, in: ders.: Probleme der sozialistischen Leitungstätigkeit, Berlin 1968, S. 257
574) Falk, Waltraud u.M. von Horst Barthel: Kleine Geschichte einer großen Bewegung, Berlin 1966. a.a.O., S. 222
575) Dzykonski: Initiative warum?, a.a.O., S. 98
576) vgl. Ulbricht: Probleme des Perspektivplanes bis 1970, in: ders.: Zum ökonomischen System des Sozialismus in der DDR, Band 1, Berlin 1968, S. 711
577) Falk: Kleine Gesch a.a.O., S. 228
578) Autorenkollektiv des Instituts für sozialistische Ökonomik der Hochschule der Deut­schen Gewerkschaften "Fritz Heckert", Bernau: Ökonomisches System und Interessenvertretung, Band I, S. 312f. (Berlin 1968)
579) vgl. Fugger: Was lehrt Stalin den deutschen Aktivisten, Berlin 1949., S. 17
580) Ulbricht: Ergebnisse des sozialistischen Wettbewerbs zu Ehren des 15. Jahrestages der DDR, in: ders.: Zum ökonomischen System Band 1, a.a.O., S. 530 - vgl. auch S. 529
581) Autorenkollektiv: Ökonomisches System und Interessenvertretung, Bd. II, a.a.O., S. 493f.

Quelle:
Uwe Wagner, Vom Kollektiv zur Konkurrenz, Westberlin 1974, S.151 (Bild) und S. 179f (Text)