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"Das Gegenteil von revolutionär"
Eine Stellungnahme zu den Thesen: „Die Verhältnisse sind reif für eine Revolution“

von Ulrich Weiss

10/2017

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Die spätbürgerliche Gesellschaft ist also reif für die Revolution. Die Autoren führen für ihre These zwei Hauptgründe an:
  • Die kapitalistische Produktionsweise befinde sich in ihrer finalen Krise.
    Zugleich seien auch die materiellen Voraussetzungen dafür gegeben, dass aus einer erfolgreichen Revolution tatsächlich Sozialismus hervorgehen könne.
  • Das Subjekt der großen Umwälzung der Gesellschaft werde die Arbeiterklasse sein und deren Führerin eine revolutionäre Partei. Diese müsse allerdings basisdemokratisch strukturierte sein und der Arbeiterstaat, der die Gesellschaft umwälzt, wirklich demokratisch organisiert.

Abgesehen von diesen „Neuerungen“ wird hier die bekannte Revolutionstheorie des Marxismus-Leninismus vorgetragen. Dass die dem entsprechende Praxis im Realsozialismus bereits gescheitert ist und die Arbeiter nicht wirklich zu Subjekten der sozialistischen Umgestaltung wurden, habe an den noch nicht hinreichend vorhandenen materiellen Voraussetzungen für die Aufhebung des Kapitalismus gelegen, daran, dass der Realsozialismus noch Aufgaben einer bürgerlich-kapitalistischen Entwicklung zu erfüllen hatte.

Letzterem stimme ich zu und auch der Aussage, dass die großen ökonomischen und politischen Krisen gerade der entwickeltesten bürgerlichen Gesellschaften inzwischen systemrelevant sind. Die kapitalistische Warenproduktion erstickt an ihrem Erfolg. Die Einsparung lebendiger Arbeit, der Lohnarbeit als der Quelle von Wert- und Mehrwert ist gegenüber allen dem entgegengesetzten Prozessen zur dominierenden und unumkehrbaren Tendenz geworden. Die an sich erfreuliche Tatsache, dass die materiellen Existenzbedingungen der Menschen mit immer weniger Arbeitsaufwand hergestellt werden können, untergräbt zunehmend die ökonomische Grundlage und den Zusammenhalt der bürgerlichen Gesellschaft.

So weit, so richtig. Doch dann verlässt die Autoren der Realismus. Sie fragen sich nicht, was diese dramatischen Entwicklungen der kapitalistischen Warenproduktion für deren Aufhebung bedeutet, für die Frage nach deren Träger und den Formen der Umwälzung. Sie registrieren als Folge der fortschreitenden Produktivität zwar auch eine drastische Reduzierung der Industriearbeiter, jenes zentralisierten und organisierten Teils der Arbeiterschaft, der nach Marx die entscheidende Kraft der Revolution sein sollte. Diese Auflösungserscheinungen des angeblich weiterhin revolutionären Subjekt sehen sie ausgeglichen durch deklassierte Arbeitslose und prekär Erwerbstätige. Sie setzen ihre Hoffnungen also maßgeblich auf jene Menschen, die keinen Bezug (mehr) haben zu eben jenen High-tech-Produktivkräften, die den Autoren selbst die unumgängliche Voraussetzung des nun endlich ökonomisch möglichen Sozialismus sind. Weder die Widersprüchlichkeit dieser Bestimmungen, noch etwa die ins Auge springenden Bilder der abgehängten bzw. für überhaupt keiner Lohnarbeit mehr benötigten Arbeiter des amerikanischen Rostgürtels, die von Präsident Trump Erlösung erflehen, scheinen die Autoren zu beirren.

Sie beschwören mit der Arbeiterklasse weiterhin ein revolutionäres Subjekt, dessen tatsächlicher historischer „Beruf“ nicht darin bestand, das Tor zum Kommunismus zu öffnen, sondern die bürgerliche Gesellschaft selbst voranzutreiben und halbwegs zu zivilisieren. So wie die einst fortschrittliche Rolle der Bourgeoisie ist aber auch die Mission der zweiten Hauptklasse des Kapitalismus heute Vergangenheit.

Die Arbeiterklasse, also das „revolutionäre Subjekt muss die Initiative ergreifen“, schreiben sie. „Der organisierten Gewalt der Bourgeoisie ist die organisierte Gewalt der Revolution entgegenzusetzen.“ Wozu? „..., um ihre auf Ewigkeit angelegte Rechtsanmaßung zu beenden.“

Hier liegt der ideologische Kern ihr Revolutionsauffassung. Sie verstehen nicht, dass die kapitalistischen Produktionsverhältnisse nicht etwas den Produktivkräften, den sachlichen wie den menschlichen, damit der Lohnarbeit Äußerliches ist. Bei der Aufhebung des Kapitalismus geht es nicht um die Aufhebung eines Rechtsverhältnisses, sondern um die Konstitution von Lebens- und Produktionsweisen, die keinerlei Rechtsform, keiner Gewalt, damit auch keines Staates mehr bedürfen. Die kapitalistisch entwickelten und betriebenen Produktionsmittel, etwa die einer fordistisch betriebenen Fabrik, in der die formelle und reelle Subsumtion der Arbeit unter das Kapital auf die Spitze getrieben ist, können auch dann keinen kommunistischen Charakter gewinnen, wenn sie dem jeweiligen Kapitalisten (rechtlich) entrissen werden. Die Arbeit am entsprechenden Fließband wird keine freie, wenn sich die Rechtsform geändert hat, etwa der sozialistische Manager, und sei er gewählt, an die Stelle des kapitalistischen tritt, wenn Privateigentum zum Staatseigentum erklärt wird. Es herrscht bei den Autoren offenkundig keine klare Vorstellung was eine kommunistisch aufgehobene kapitalistische Produktionsweise ist. Es kann weder einen kommunistischen Fordismus geben noch eine kommunistische Lohnarbeit. Zugleich kann eine sich verallgemeinernde automatisierte Produktion nicht nur nicht kapitalistisch betrieben werden, wie Marx in seiner Arbeit an den Grundrissen erkannte. Der verallgemeinerte Automat kann auch nur das Produkt einer solchen freien Tätigkeit sein, die nicht in den Wertformen zu fassen bzw. zu halten ist.

Die derzeitige Entfaltung der Hightech-Produktion bedeutet den Übergang von denjenigen Produktionsmitteln und Arbeitsformen, die wie das fordistische Fließband unvermeidbar einen kapitalistischen Charakter tragen, zu jenen Produktionsmitteln, die nicht durch eine äußerliche Macht zu kommunistischen werden können, sondern nur in freier Tätigkeit von Individuen „mit Subjektstatus“ (ein Lieblingswort von W. Gettél) entstehen können. Die Autoren ahnen wohl, dass sich mit der Entwicklung von Hightech-Produktion ein sozialer Bruch vollziehen muss, soll wirklich zur verallgemeinerten automatisierten Produktion kommen, zur Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise. Sie können aber nicht fragen, worin der Kern dieses Sprungs besteht. Sie wissen nicht, dass hier mit organisierter Gewalt gegen eine Personengruppe, die Bourgeoisie, mit dem Entreißen von Rechtstiteln überhaupt nichts zu machen ist. Die Auseinandersetzuing zwischen alter und neuer Produktionsweise wird nicht durch den Kampf von Klassen entschieden, nicht dadurch, dass eine der kapitalistischen Hauptklassen die andere besiegt und ihre Macht (die ihrer Vertreter) etabliert. Am Punkt ihrer Aufhebbarkeit sind die Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise an jenen Punkt „gewandert“, an dem sie auch durch die Entscheidung von Individuen aufgehoben werden können. Es sind dies die spätbürgerlichen Menschen, die zerrissen sind zwischen ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen zu schöpferischen Tätigkeiten zu ihrem und zugleich allgemeinem Nutzen und der von ihnen selbst noch exekutierten Gewohnheit, sich dem inzwischen zivilisationszerstörenden Verwertungszwang zu unterwerfen. Diese Widersprüchlichkeit und die längst existierenden Keimformen ihrer Aufhebung zu erfassen und diese zu stärken, das ist die eigentliche Herausforderung für die Suche nach Wegen aus dem Kapitalismus.

Worum im Text von Bücker und Gettél eigentlich geht, das ist die Revolution im engen und längst der Vergangenheit angehörigen Sinne: die Zerschlagung der alten Macht und deren Ersetzung durch eine neue. Von der sozialen Revolution im umfassenden Sinne, also von der Begründung einer wirklich neuen Lebens- und Produktionsweise ist hier keine Rede. Dass die einstigen „proletarischen“ Revolutionen, die um ihres Überlebens Willen Aufgaben zu erfüllen hatten, die noch in die bürgerliche Epoche fallen (Industrialisierung des Landes, Proletarisierung halbfeudaler bäuerlich/kleinbürgerlicher Gesellschaften) und die bekannten stalinistischen Herrschafts- und Lebensformen hervorbrachten, dass diese also notwendigerweise „in der alten Scheiße“ landeten (so Marx über vorzeitige kommunistische Versuche), das ist den die Autoren zwar bewusst. Dass aber auch das Denken einer sozialistischen Revolution, der Formen der gedachten Umwälzung und der Charakteristika einer angenommenen Übergangsgesellschaft zu Marx' und Lenins Zeiten von völlig unzureichenden Voraussetzungen ausging und auch mit dieser „Scheiße“ korrespondieren musste, das wissen die beiden „Geschichtsmaterialisten“ offenkundig nicht. Sie bleiben in den alten Klassenkampfkategorien und der dementsprechenden Revolutionstheorie stecken.

Ihr Hoffen auf den proletarischen Staat, die organiserte Gewalt der Revolution und die revolutionäre Partei, die Vorhut heißt das bei ihnen, bedeutet, dass sie im Denken nicht über jenen alten bürgerlichen Materialismus hinauskommen, jenen den Avantgardismus, den Marx in seinen Feuerbachthesen(1) charakterisierte. In dieser Denkweise – in Form des ML war sie mal geschichtsmächtig – erscheint ein (revolutionärer) geschichtlicher Fortschritt nur dadurch möglich, dass sich die Gesellschaft in zwei Teile sondert, von denen der eine sich über den anderen erhebt, die Erzieher über die zu Erziehenden, die Führer über die zu Führenden. Wer auch heute noch, um den Übergang überhaupt denken zu können, auf einen „sozialistischen“ Gewalt setzt, wer eine führende Partei für notwendig hält, der bleibt genau in dieser Denkweise stecken, die in eine andere Zeit gehört.

Das geschah auch Marx gerade mit seinen Vorstellungen vom Staat der Übergangsgesellschaft, von der Diktatur des Proletariats, einem Staat, der eigentlich kein Staat mehr sein sollte. Abgesehen davon, dass diese – falsche – Vorstellung im Realsozialismus eine tatsächliche Geschichtsmächtigkeit gewann, die heute Geschichte ist, das Gerede von revolutionärer Gewalt ist heute eher geeignet, den Blick für die inzwischen sichtbaren Elemente der tatsächlichen Aufhebung des Kapitalismus zu verstellen. Mehr noch. Gerade Marx wusste um die Zeitgebundenheit von Theorien, insbesondere von solchen, die auf praktische Wirksamkeit gerichtet sind. Er würde sich heute wohl dagegen verwahren, noch immer für die Anbetung seiner einstigen Revolutionstheorie in Anspruch genommen zu werden. Der Kritiker der Politischen Ökonomie würde vermutlich darauf verweisen, dass er etwa in den Grundrissen (1857) solche Entwicklungen der kapitalistischen Produktionsweise antizipierte, die wir heute praktisch erleben und die schon rein logisch seiner Revolutionstheorie den Klassen-Boden entziehen. Marx hat in dieser Vorausschau die noch innerkapitalistisch erfolgende Auflösung eben der Industriearbeiterschaft beschrieben. Das erleben wir heute: ausgerechnet zum Zeitpunkt, da die kapitalistischen Produktionsweise ökonomisch aufhebbar wird, kommt das angenommene revolutionäre Subjekt abhanden. Das alles lag zu Marx' Zeiten noch in weiter Zukunft und war für die reale Arbeiterbewegung praktisch irrelevant. Die Beschwörung der großen Mission wirkte allerdings als ein mobilisierendes quasireligiöses Banner – ein als solches nicht zu denunzierendes sondern in seiner Bedeutung und Vergänglichkeit verstehbares Opium der einstiges (Industrie-)Arbeiterschaft und des Realsozialismus.

Die Autoren wollen also weiterhin der „organisierten Gewalt der Bourgeoisie ... die organisierte Gewalt der Revolution“ entgegensetzen und verweisen auf eine „wachsende Unzufriedenheit [die sich] immer weniger eindämmen lässt“. Befangen in der alten Revolutionstheorie können manchen alten Kämpfe die gegenwärtig anwachsenden Protestbewegungen schon elektrisieren: Die Zeit ist reif für die Revolution!

Subjektstatus wird im Kampf gewonnen“ schreiben die Autoren. Ja? In welchem? Gerade die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts vor Augen sollte man sehr genau fragen, welcher Art die Kämpfe sind, auf die man hofft. Hat eine Wut, die nicht die auch eigene Lebens- und Arbeitsweise infrage stellt, sondern gegen Personengruppen gerichtet ist, etwa gegen „die da oben“, die Politiker oder auch gegen die Kapitalisten irgendeine antikapitalistische Potenz? Worum geht es denn den Menschen, die sich heute lautstark Gehör verschaffen, worum den noch etablierten aber zu recht verunsicherten Arbeitern und den bereits abgehängten Working-poor-Leuten oder den auch als Niedriglohnarbeiter bald nicht mehr benötigten, worum Teilen der verunsicherten Mittelschichten? Um die Aufhebung der Warenproduktion? Sie verlangen oder erbetteln vielmehr von neuen Führungen den Erhalt bzw. die Wiederherstellung früherer angeblich idealer Verhältnisse und Gemeinschaften. Menschen, die nach Lohnarbeit und Sicherheit im gegebenen System dürsten, tragen in diesem Bestreben keine Potenz in sich, selbst über die kapitalistische Warenproduktion, die Lohnarbeit hinauszugehen. Menschen, die nicht die herrschende Produktions- und Arbeitsweise für ihr vermeintliches oder echtes Leiden verantwortlich machen, die das immer Unmöglichere verlangen, wieder in halbwegs erträglichen Formen ausgebeutet zu werden, die zur alten fordistischen Lohnarbeit und Sozialstaatlichkeit zurückkehren wollen, sie tragen keine sozialistische Tendenz in sich. Arbeiter, die um ihren Status als Arbeiter fürchten, Ausgegrenzte, die wieder Lohnarbeiter sein wollen, die sollen aus ihrer besonderen sozialen Lage heraus eine neue Lebens- und Produktionsweise begründen können, in der Ausgangspunkt und Sinnerfüllung das sich frei entfaltende gesellschaftliche Individuum ist?

Die Autoren würden antworten: Die Partei, wissend wie sie selbst, kann den erregten Massen Wissen, Richtung und Struktur geben. Es muss nur eben eine wirklich revolutionäre, basisdemokratische Partei sein. Nehmen wir an, es ginge aus einer so geführten Bewegung ein solcher Staat hervor, der, wie Marx es mal dachte und die Bolschewiki praktizierten, in seinen Händen die entscheidenden Produktionsmittel konzentriert. Folgt man wie die Autoren der alten Revolutionstheorie, was müsste dieser Staat in einer Übergangsgesellschaft zum Kommunismus leisten?

1. Den Widerstand der Kapitalisten und aller jener Menschen brechen (basisdemokratisch versteht sich), die nicht auf der Höhe der historischen Notwendigkeiten stehen, also geistig und praktisch noch in der bürgerlichen Gesellschaft befangen sind,
2. Die Produktion und alle dafür erforderlichen gesellschaftlichen Voraussetzungen im Interesse der Mehrheit der Bevölkerung planmäßig organisieren und entwickeln sowie
3. sich schließlich selbst überflüssig machen, indem die tiefe Zerrissenheit der Gesellschaft, die Klassenspaltungen dadurch überwunden werden, dass die Menschen tatsächlich jene allgemeinen gesellschaftlichen Aufgaben, die bis dahin der Staat zur Geltung brachte, dadurch zu ihrer je eigenen Angelegenheit machen, dass die sich dann frei assoziierenden Individuen die Produktionsmittel erst wirklich aneignen.

Sind in einem Staat, er möge sich Arbeiter-und-Bauern-Macht, Räte-Staat oder sonstwie nennen, jedenfalls ein Staat, der anstelle der Bourgois über die Produktionsmittel verfügt und die Produktion im Interesse der Mehrheit der Menschen plant und organisiert, die Grundkonstellation der kapitalistischen Produktionsweise tatsächlich aufgehoben? Die unmittelbaren Produzenten verfügen auch hier nicht über die Produktionsmittel. Täten sie dies und wäre Arbeit ihnen zugleich das erste Lebensbedürfnis, würde die agierenden Individuen in ihren jeweils besonderen Bedürfnissen zugleich die allgemeinen zur Geltung bringen, dann bedürfte es weder des Kapitals noch irgendeines Staates noch einer Partei. Wo dies aber nicht der Fall ist wie eben in einer Gesellschaft, die eines „sozialistischen“ Staates bedürfte, wie kann die Verbindung der eigentumslosen Arbeiter mit den Produktionsmitteln zustande kommen (direkte Zwangsarbeit schließe ich hier aus)? Genauso wie in jeder kapitalistischen Produktionsweise – über den stummen Zwang zur Lohnarbeit. Ob viele Einzelunternehmer über die Produktionsmittel verfügen oder ob der Staat als Gesamtkapitalist fungiert – das Grundverhältnis zwischen Lohnarbeit und Kapital bleibt das gleiche. Auch der „sozialistische“ Staat ist letztlich den Logiken der kapitalistischen Produktionsweise unterworfen, der der Verwertung von Wert durch Ausbeutung von Lohnarbeit. Bei allen Besonderheiten in der Verteilung der erwirtschafteten Werte in den östlichen „sozialistischen“ Gesellschaften einerseits und in den westlichen andererseits, hier wie dort kamen bzw. kommen die Arbeiter letztlich nur über die Lohnarbeit an das Geld für ihre Brötchen. Und das Kapital, fungierend als Einzelunternehmer oder als Funktionäre des Staatsmonopols, muss hier wie dort um der Existenz Willen die Verwertung von Wert sichern. Was die Autoren wollen, einen sozialistischen Staat mit der idealsten Demokratie, das ist etwa so durchführbar wie ein basisdemokratisch organisierter kapitalistischer Großkonzern.

Nehmen wir trotzdem ein solches Wunder an und zwar heute auf der Basis von High-tech-Produktion. Hier wird der Widersinn noch offenkundiger. Setzen wir mal voraus, dieser Staat sei tatsächlich den Bedürfnissen aller seiner Bürger verpflichtet. Woher kann er die Mittel für die weitere Entwicklung der Produktion und für seine soziale Wohltaten nehmen? Er kann den Mehrwert nur aus der Warenproduktion abschöpfen. Er muss also – wie jeder Unternehmer und wie der kapitalistische Staat insgesamt auch – für deren Funktionieren sorgen, also einem der Befriedigung menschlicher Bedürfnisses vorgesetztem Zweck. Wie jedes so ist auch das „sozialistische“ Staatskapital gezwungen, den relativen Mehrwert zu erhöhen. Wodurch? Letztlich durch die Steigerung der Produktivität der Arbeit, d.h. die Reduzierung lebendiger Arbeit, der Quelle der Verwertung von Wert. Aber nur durch die Wertquelle, die Lohnarbeit, kommen die unmittelbaren Produzenten zu ihren Lebensmitteln, die Unternehmer und der Staat zum Mehrwert. Was bis zum Höhepunkt des Fordismus in einigen „sozialistischen“ Gesellschaften bis in die 1960er Jahre durchaus funktionierte, dass triebe heute auf der Höhe der High-tech-Produktion in das gleiche Dilemma, in dem die fortgeschrittenste westliche Warenproduktion – die einzelnen Unternehmer wie die Staaten – insgesamt steckt und in das sich etwa der höchst erfolgreiche „sozialistische“ Kapitalismus unter Staatsführung in China hineinwühlt: Die Verwertbarkeit von Wert über die reale Produktion von Waren wird immer problematischer. (Die Einsicht, dass das Ausweichen in spekulative wundersame Wertvermehrung inklusive des staatlichen „Druckens“ von Geld letztlich keinen Ausweg bietet, setze ich hier mal voraus.) Die Profitmargen (auf „sozialistisch“: die Steigerung des Nationaleinkommens, über das der „proletarische“ Staat verfügen könnte) werden geringer bzw. sind überhaupt nur noch durch noch dramatischere Einsparung von lebendiger Arbeit und dementsprechenden globalen Konkurrenzvorteil überhaupt noch zu sichern.

Die heute bei vielen „Sozialisten“ sowie Unternehmern virulente Idee eines bedingungsloses Grundeinkommen, das die von der Lohnarbeiter „befreiten“ Menschen unterhalten soll, drückt zwar die richtige Einsicht aus, dass die kapitalistische Produktionsweise immer weniger in der Lage ist, eine existenzsichernde Erwerbsarbeit zu sichern. Die entsprechenden staatlichen Subventionen im großen Stil könnten aber nur vom real produzierten Mehrwert abgeschöpft werden. Das Wunder des Grundeinkommens setzt also genau das voraus, was immer weniger möglich ist. Die Forderung ignoriert jene Gründe, aus denen heraus sie erst entsteht: der High-tech-Kapitalismus benötigt zwar massenhaft Konsumenten, aber immer weniger wertschaffende und damit zahlungsfähige Produzenten. Auf das dümmliche Argument, Geld sei doch genug da, gehe ich hier nicht weiter ein. Es offenbart nur die Unfähigkeit, zwischen Geld/Preis und Wert, zwischen der Notenpresse und Finanspekulationen sowie realer Wertschöpfung zu unterscheiden.

Also: Auch der allerdemokratischste „sozialistische“ Staat, gestützt auf High-tech-Produktion, kann die Hoffnung unserer Revolutionäre nicht erfüllen. Wer „revolutionäre Gewalt/Staat“ sagt, durch die den Kapitalisten die rechtliche Verfügung über Produktionmittel entrissen wird, wer „Partei“ sagt, die die Massen führen muss, der sagt notwendigerweise Lohnarbeit und (Staats-)Kapital. Und selbst wenn dieser politische Umbruch – nun ganz demokratisch – wieder erfolgreich sein würde, aus der eben genannten Sackgasse der Verwertung käme die „neue“ Produktionsweise nicht hinaus.

Marx antizipierte genau diese Sackgasse, in die beim Übergang beim Übergang zur automatisierten Produktion jede Gesellschaft gerät, die auf Warenproduktion, auf die Verwertung von Wert gegründet ist. Er erkannte: der historische Punkt, an dem der Kapitalismus jegliche Existenzberechtigung verliert, ist erreicht, wenn nicht mehr die Masse verausgabter Arbeitszeit sondern wissenschaftliche, kooperative, auch künstlerische (heute müsste man ergänzen: spielerische) Fähigkeiten über den gesellschaftlichen Reichtum entscheiden. Die auf Wert gegründete Produktionsweise wird zur miserable Grundlage der Zivilisation und bricht zusammen. Der für unsere Revolutionäre bedeutsame „Witz“ ist schon genannt: Ist innerhalb der bürgerlichen Epoche ein solches Niveau erreicht, werden auch die marxschen Vorstellungen von einer Diktatur des Proletariats und der Übergangsgesellschaft obsolet. Die Wiederbelebungsversuche der alten Revolutionstheorie, des alten religiösen Banners der historischen Mission der Arbeiterklasse durch Bücker und Gettél sind nicht nur theoretisch unhaltbar (was mit Marx, auf den sie sich berufen, erkennbar ist), sie sind heute völlig anachronistisch, funktionslos.

Noch eine gedankliche Brücke, über die die Autoren vielleicht über ihren Arbeiterbewegungsmarxismus hinauskommen:

In der sogenannten Übergangsgesellschaft, die Marx 1875 in der Kritik des Gothaer Programms beschrieb, sollte für die Arbeits- und Lebensweise das Prinzip gelten: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Leistungen“. Warum? Weil in ihr noch nicht „alle Springquellen des gesellschaftlichen Reichtums frei fließen“ und schöpferische Tätigkeit noch lange nicht das zentrale Lebensbedürfnis sein würde. Wegen dieses Mangels muss, damit Produktion überhaupt stattfindet, muss weiterhin ganz normale Äquivalenzprinzip der Warenproduktion und der Lohnarbeit herrschen. Demzufolge kann in dieser Gesellschaft auch der bürgerliche Rechtshorizont, der die Menschen „nur“ formal gleichsetzt, nicht überschritten werden. Marx nannte dies „Muttermale“ der bürgerlichen Gesellschaft, die die sogenannte Übergangsgesellschaft noch mit sich schleppen würde. In ihr ginge es also noch zu „wie“ in der bürgerlichen Gesellschaft. Das war höchst beschönigend und eigentlich ebenso unmarxisch wie die Aussage, dass das weiterhin notwendig zu produzierende Mehrprodukt nicht als Mehrwert erscheine. Die Arbeitskraft, so Marx, könne in dieser Übergangsgesellschaft nicht ausgebeutet werden. Warum? Weil es keine Kapitalisten gäbe, die sich mit den Produkten (richtiger Waren) auch den Mehrwert aneignen könnten. Da aber Bedürfnisse nur nach Leistung befriedigt werden können, müssten für geleistete Arbeit(szeit) Gutscheine ausgegeben werden, die gegen Produkte einzutauschen seien. Erstaunlich, wie Marx selbst hier genau jene proudhistische Ideen wiederbelebt, die er selbst theoretisch längst beerdigt hatte. Die Scheine sind nichts andere als Geld. Das Mehrprodukt, das der Staat etwa zwecks Erweiterung der Produktion in seinen Händen konzentrieren muss, erscheint damit als Mehrwert. Die Produkte sind damit Waren, die Arbeiter – Lohnarbeiter, die Produktionsverhältnisse – kapitalistische, der „sozialistische“ Staat – reeller Gesamtkapitalist. Mit seiner Charakteristik der Übergangsgesellschaft argumentiert Marx selbst so, als hätte er nicht Das Kapital. Kritik der Politischen Ökonomie geschrieben, sondern moralische Anklagen: Die Kapitalisten, die Verbrecher oder etwa Eigentum ist Betrug.

Warum dieser „Aussetzer“ bei Marx? Warum wollte er ganz im Gegensatz zu seiner sonstigen Weigerung, die nachkapitalistische Zukunft auszumalen, den Arbeitern doch Bilder der sogenannten ersten Phase des Kommunismus bieten? Darin drücken sich mindestens zwei Tatsachen aus: Einmal die praktische Unmöglichkeit von den gegebenen (und noch über wenigstens ein Jahrhundert existierenden) Verhältnissen auf auf irgendeine Weise zum Kommunismus zu kommen und zweitens, die grundsätzliche Unfähigkeit, vom Standpunkt der Arbeiterschaft aus das proletarische Himmelreich als etwas anderes zu denken als ein Reich der allgemeinen (Lohn-)Arbeit, in dem, geschützt von einer „Arbeiter“-Regierung die Arbeiter als Arbeiter sicher und geachtet existieren können, sprich als einen idealisierten Kapitalismus. Im Bestreben die lassalleanischen (proudhonistischen) Vorstellungen des sozialdemokratischen Gründungsdokumentes, die Phrasen vom ungeteilten Arbeitsertrag, vom Volksstaat usw. dadurch zu widerlegen, dass er für die Arbeiter solche Vorstellungen des Arbeiterstaates, der Übergangsgesellschaft entwirft, die mit deren Welterfahrung fassbar sind, fiel er selbst in den Proudhonismus zurück. Das war freilich mit der Vorstellung verbunden, dass unterm Arbeiterstaat ein ungeheurer Produktivitätssprung erfolgen würde, die Bedingungen also dafür, dass nicht mehr das bürgerliche Leistungs- und damit Äquivalenzprinzip herrschen müsse, schnell geschaffen würden.

Heute wissen wir, dass der Kritiker der Politischen Ökonomie gegenüber diesem Arbeiterbewegungs-Marx recht hatte. Doch was theoretisch falsch ist, kann nach Marx aber durchaus historisch gültig oder gar geschichtsmächtig sein. Das hatte er etwa an den Merkantilisten, den Physiokraten und eben an Proudhon nachgewiesen und das geschah ihm selbst und zwar mit seiner Konstruktion von der Übergangsgesellschaft. Tatsächlich hatte er nämlich nicht eine erste Phase des Kommunismus beschrieben, sondern eine ganz andere Realität antizipiert, die Grundzüge jenes „sozialistischen“ Staatskapitalismus im Osten, der die historischen Aufgaben der dort zu schwachen Bourgeois erfüllte: die weitgehende Proletarisierung der Bevölkerung und die Entwicklung der Produktivkräfte bis auf ein fordistisches Niveau. Diese Übergangsgesellschaft fiel nicht in die „alte (kapitalistische) Scheiße“ zurück, sie führte vielmehr erst in sie hinein. Über den Fordismus hinaus konnte dieser nachholende Staatskapitalismus aufgrund seiner besonderen zentralistischen Struktur nicht gelangen. Das heißt für das Entstehen der tatsächlichen materiellen Voraussetzungen und menschlichen Fähigkeiten für eine kommunistische Gesellschaft bot der „sozialistische“ Staatskapitalismus keinen hinreichenden Spielraum und konnte das auch nicht tun. Deren Entwicklung kann vielmehr nur das Ergebnis der über den Fordismus hinausgehenden High-tech-Produktion sein. In eben jenem Prozess, der die organisierte Industriearbeiterschaft zersetzt, entwickeln jene für diese Produktion entscheidenden spätbürgerlichen sich individualisierenden Menschen gerade diejenigen Eigenschaften, die eine kommunistische Lebens- und Produktionsweise überhaupt erst ermöglichen und die des bürgerlichen Leistungsprinzips, des Äquivalententauschs nicht mehr bedürfen. In dieser gilt: Jeder nach seinen Fähigkeiten (und schöpferischen Bedürfnissen) und jedem nach seinen (konsumtiven) Bedürfnissen.

In der High-tech-Produktion treten die Produzenten aus der unmittelbaren Fertigung heraus. Sie setzen jene Massen von Lohnarbeiter frei, die bisher noch der Maschinerie subsumiert sind, in deren Lücken agieren. Sie werden zu Dirigenten der Produktion. Ihre Tätigkeit hat potentiell unmittelbar schöperischen, wissenschaftlichen und kooperativen Charakter. Anders als die Fleißbandarbeit kann ein solches Tätigsein tatsächlich selbst massenhaft zum Bedürfnis werden. Solches Schöpfertum reduziert nicht nur drastisch die Arbeit, die Quelle von Wert und Mehrwert. Es ist selbst in Wertkategorien nicht mehr fassbar bzw. darin zu halten. Siehe die zunehmende Unfähigkeit von Unternehmen, Staat und Justiz, Ideen, freizügigen Umgang mit Wissen, Fähigkeiten usw., kurz die menschliche Produktivkraft in den bürgerlichen Besitz-, Waren- und Rechtsformen zu halten oder sie wieder hinein zu pressen.

In der gesellschaftlicher Produktion in der bisherigen sogenannten menschlichen Vorgeschichte war die Spaltung in die Herren und Manager der Produktion einerseits sowie in die von ihnen angewandten Arbeitskräfte andererseits charakteristisch. Diese Spaltung verliert heute ihre – immer schon höchst gegensätzliche – zivilisatorische Notwendigkeit. Wo aber diese Spaltung der Gesellschaft aufhebbar wird und die Momente ihrer Aufhebung anwachsen, dort verliert mit der Warenproduktion und damit der Lohnarbeit auch jeglicher Staat seine Funktionen. Dieses Grundinstitutionen der bürgerlichen Epoche können die kapitalistisch fundierte Gesellschaft auf zivilisationsverträgliche Weise nicht mehr zusammenzuhalten. Die diffuse Wut der tatsächlichen oder mögluichen Opfer des heutigen kapitalistischen Fortschritts, die Unmöglichkeit, immer neue Gebiete und Menschen in die westlichen Formen des Spätkapitalismus nachhaltig zu integrieren oder auch nur darin zu halten, die Zersetzungstendenzen auch der westlichen Demokratie, das Aufkommen aller möglichen pro- und antiwestlichen Fundamentalismen – all dies sind Indizien der finalen Krise des Kapitalismus. Es sind aber nicht die Momente ihrer Aufhebung. Diese sind vielmehr in denjenigen sozialen Räume zu finden, in denen Menschen ihrem wachsenden Bedürfnissen nach schöpferischer Tätigkeit jenseits der Warenproduktion nachgehen und damit ihren Fähigkeiten entsprechend Keime einer neuen Vergesellschaftung schaffen.

Im Unterschied zu allen früheren Revolutionen, in denen bisher subalterne Schichten die Macht erobern mussten, um ihre schon partiell praktizierte Lebens- und Produktionsweise mit Hilfe neuer Herrschaftsformen zu verallgemeinern, ist diese Revolution entweder die unmittelbare positive Auflösung jeglicher Herrschaftsformen oder sie ist eben einer jener vorzeitigen Versuche eines Kommunismus, die notwendig wieder in der „alten Scheiße“ landen.

Bücker und Gettél hoffen auf die revolutionäre Gewalt des Proletariats. Sie können Umbrüche nur mittels der Führungen durch Parteien, eines Staates (damit auch der gelenkten Warenproduktion) denken. Gerade solches Denken gehört in die alte Geschichte. Es ist von heute aus gesehen das Gegenteil von revolutionär. W. Gettél war innerhalb der Diskussionsgruppe Wege aus dem Kapitalismus schon mal weiter. Über http://keimform.de/  könnte er wieder Anschluss gewinnen an ein Denken, das tatsächlich über das bürgerliche hinausreicht.

Fußnoten

1 Karl Marx, Thesen über Feuerbach. MEW 3/5f.

Editorische Hinweise

Der "Arbeitskreis Kapitalismus aufheben" (AKKA) wird im Oktober das Thesenpapier von Wolfram Bücker und Willi Gettèl diskutieren. Uli Weiss verfasste seine "Stellungnahme" als Beitrag für diese Diskussion und stellte sie uns zur Veröffentlichung zur Verfügung. Der AKKA hat beschlossen, die Stellungnahme von Uli Weiss im November 2017 zu diskutieren.