trend spezial: Die Organisations- und Programmdebatte

Auf ein Wort zum Leninismus

von Bartholomäus Ibrahim Bronsteyn

10-2012

trend
onlinezeitung

Es gibt einen Überblick über alle bei TREND 2011/12 veröffentlichten Texte zur Debatte über Organisation und Programm, angeregt durch die "Sozialistische Initiative Berlin" (vormals Berlin-Schöneberg)

Vorbemerkung: Vor zwei Wochen veröffentlichten wir die "Leni-Erklärung". Wir wurden von  Bartholomäus Ibrahim Bronsteyn gebeten, sein Positionspapier in Sachen Leninismus, das er auf dem NaO-Blog Debatte publiziert hat,, auch hier zu veröffentlichen.. / red. trend.

Der Begriff „Leninismus“ ist bekanntlich Gegen- stand verschiedenster Verzerrungen und Verfälschungen. Besonders trifft das auf den Begriff „Leninistische Parteikonzeption“ zu.

Akteure dieser Verzerrungen und Verfälsch- ungen sind dabei beileibe nicht nur die Pro- pagandisten des Kapitalismus, die naturgemäß ein besonderes Interesse daran haben, diesen Begriff zu diskreditieren.

Akteure solcher Verzerrungen und Verfälschungen sind auch solche Menschen, die sich gerade für Anhänger der Leninschen Parteikonzeption halten.

Ursache dieser Verzerrungen und Verfälschungen ist durchweg die „Sinowjewsche Bolschewismus-Legende“ (eine Begriffsschöpfung von Dieter Elken), die Grigori Sinowjew ab 1920/21 zu stricken begann und die später, bei geänderten Fraktionslinien, von der stalinistischen Bürokratie begierig aufgegriffen wurde, um die eigene Herrschaft über die KPdSU gegenüber der eigenen Mitgliedschaft und vor allem der innerparteilichen Opposition zu legitimieren.

Um herauszuarbeiten, was wirklich die Essenz der Leninschen Parteikonzeption war, ist es sinnvoll, bei ihm selbst nachzulesen, denn er hat es deutlich genug formuliert:
http://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1920/linksrad/kap02.html

Sicherlich sieht jetzt schon fast jeder, daß die Bolschewiki die Macht keine 2½ Monate, geschweige denn 2½ Jahre hätten behaupten können ohne die strengste, wahrhaft eiserne Disziplin in unserer Partei, ohne die vollste und grenzenlose Unterstützung der Partei durch die gesamte Masse der Arbeiterklasse, d.h. durch alle denkenden, ehrlichen, selbstlosen, einflußreichen Menschen dieser Klasse, die fähig sind, die rückständigen Schichten zu führen oder mit sich fortzureißen.

Wahrhaft eiserne Disziplin. Kein Wunder, dass Stalin sich „der Eiserne“ nannte. Aber wie kommt eine derart „eiserne“ Disziplin zustande.

Indem sie „eisern“ eingefordert wird?

Ich wiederhole, die Erfahrungen der siegreichen Diktatur des Proletariats in Rußland haben denen, die nicht zu denken verstehen oder nicht in die Lage kamen, über diese Frage nachzudenken, deutlich gezeigt, daß unbedingte Zentralisation und strengste Disziplin des Proletariats eine der Hauptbedingungen für den Sieg über die Bourgeoisie sind.

„Strengste“ und nicht nur „eiserne“ Disziplin wird hier angesprochen. Als Forderung?

He, Genossen, ihr müsst strengste und eiserne Disziplin einhalten, nur dann klappt's mit der Revolution. Sicherlich hunderttausende haben diese Zeilen gelesen und als Forderung an jedes „disziplinierte Parteimitglied“ gelesen und interpretiert.

Doch Lenin wirft eine ganz andere Frage auf und formuliert hier nicht etwa eine Forderung an den Leser. Er stellt die Frage nach den Bedingungen einer solchen Disziplin.

Davon wird häufig gesprochen. Es wird aber lange nicht genug darüber nachgedacht, was das bedeutet, unter welchen Bedingungen das möglich ist. Sollte man nicht lieber die der Sowjetmacht und den Bolschewiki gezollten Beifallskundgebungen häufiger mit einer sehr ernsten Analyse der Ursachen verknüpfen, die bewirkten, daß die Bolschewiki die für das revolutionäre Proletariat notwendige Disziplin schaffen konnten?

Das ist genau die Frage.

Und da taucht vor allem die Frage auf: wodurch wird die Disziplin der revolutionären Partei des Proletariats aufrechterhalten? wodurch wird sie kontrolliert? wodurch gestärkt?

Es ist durchaus sinnvoll, sich bei diesen Fragen Lenins in einen sagen wir einmal naiven Zustand zu begeben, so als wüssten wir nichts von den verbreiteten Leninismus-Legenden, wenn wir diesen Satz lesen.

Was würden wir bei diesen Fragen uns als Antwort vorstellen können. Gewiß doch eine Auflistung von administrativen Maßnahmen, um diese „strengste“ und „eiserne“ Disziplin herbeizuführen.

Doch Lenins Antwort ist von völlig anderer Art:

Erstens durch das Klassenbewußtsein der proletarischen Avantgarde und ihre Ergebenheit für die Revolution, durch ihre Ausdauer, ihre Selbstaufopferung, ihren Heroismus.

Zweitens durch ihre Fähigkeit, sich mit den breitesten Massen der Werktätigen, in erster Linie mit den proletarischen, aber auch mit den nichtproletariscben werktätigen Massen zu verbinden, sich ihnen anzunähern, ja, wenn man will, sich bis zu einem gewissen Grade mit ihnen zu verschmelzen.

Drittens durch die Richtigkeit der politischen Führung, die von dieser Avantgarde verwirklicht wird, durch die Richtigkeit ihrer politischen Strategie und Taktik, unter der Bedingung, daß sich die breitesten Massen durch eigene Erfahrung von dieser Richtigkeit überzeugen.

Wie bitte?

Keine Maßnahmen, keine Regeln, keine Richtlinien?

Und weiter:

Ohne diese Bedingungen kann in einer revolutionären Partei, die wirklich fähig ist, die Partei der fortgeschrittenen Klasse zu sein, deren Aufgabe es ist, die Bourgeoisie zu stürzen und die ganze Gesellschaft umzugestalten, die Disziplin nicht verwirklicht werden. Ohne diese Bedingungen werden die Versuche, eine Disziplin zu schaffen, unweigerlich zu einer Fiktion, zu einer Phrase, zu einer Farce. Diese Bedingungen können aber anderseits nicht auf einmal entstehen. Sie werden nur durch langes Bemühen, durch harte Erfahrung erarbeitet; ihre Erarbeitung wird erleichtert durch die richtige revolutionäre Theorie, die ihrerseits kein Dogma ist, sondern nur in engem Zusammenhang mit der Praxis einer wirklichen Massenbewegung und einer wirklich revolutionären Bewegung endgültige Gestalt annimmt.

Das gibt Anlaß, die von Lenin genannten drei Kriterien näher zu betrachten. Es ist auffällig, dass alle drei Kriterien genau betrachtet zu einem großen Teil emotionalen Charakter haben.

Erstens durch das Klassenbewußtsein der proletarischen Avantgarde und ihre Ergebenheit für die Revolution, durch ihre Ausdauer, ihre Selbstaufopferung, ihren Heroismus.

Klassenbewusstsein kann man durchaus als einen nüchternen, rationalen Faktor betrachten, aber Ergebenheit, Ausdauer, Selbstaufopferung, Heroismus sind eher emotionale psychische Faktoren. Wollte man alle diese Begriff am besten zusammenfassen, dass wäre vielleicht Begeisterung (für die Revolution) ein passendes Wort für alles.

Zweitens durch ihre Fähigkeit, sich mit den breitesten Massen der Werktätigen, in erster Linie mit den proletarischen, aber auch mit den nichtproletariscben werktätigen Massen zu verbinden, sich ihnen anzunähern, ja, wenn man will, sich bis zu einem gewissen Grade mit ihnen zu verschmelzen.

Sich mit den Massen verbinden, sogar verschmelzen ist am besten mit dem Wort Einfühlungsvermögen beschrieben. Denn diese Verschmelzung wird ohne diese Fähigkeit rein logisch nicht möglich sein.

Sicher hat dieses Sich-Hinein-Fühlen ohne sich selbst aufzugeben auch eine logische und rationale Seite. Aber es hat auch eine emotionale Seite.

Die Bolschewiki haben es sicherlich nie so unterschieden. Ich bin mir sicher, sie haben es aber auch nicht getrennt.

Drittens durch die Richtigkeit der politischen Führung, die von dieser Avantgarde verwirklicht wird, durch die Richtigkeit ihrer politischen Strategie und Taktik, unter der Bedingung, daß sich die breitesten Massen durch eigene Erfahrung von dieser Richtigkeit überzeugen.

Lenin wusste sehr wohl, dass Führungsanspruch erheben und Führung innehaben nicht das gleiche sind.

Eine beanspruchte Führung ist keine Führung.

Nur eine (von den Geführten) als richtig angesehene Führung ist eine Führung.

Nein Lenin formuliert hier keinen Führungsanspruch der Partei. Er sagt, was der einzige Weg ist, dass die Partei auch wirklich eine Führung darstellt.

Er spricht auch von einer verwirklichten politischen Führung, und nicht von einer beanspruchten. Genau das sollten auch viele, die sich als Leninisten ansehen, sich vergegenwärtigen.

Lenin schreibt hier, wie und auf welche Weise Führung verwirklicht werden kann. Indem sie so gestaltet ist, dass die Massen diese Führung auch als richtig ansehen, weil ihnen die Erfahrung sagt, dass diese Führung richtig ist.
(Es muss also schon richtig geführt worden sein).

Die Massen müssen sogar überzeugt von der Richtigkeit dieser politischen Führung sein.

Der Maßstab ist sehr streng, aber streng gegenüber der Partei. Nur dann, wenn die Massen von der Richtigkeit dieser Führung überzeugt sind, dann ist auch die politische Führung richtig.

Auch hier finden wir einen gewichtigen emotionalen Faktor in Lenins Ausführungen. Der beste zusammenfassende Begriff für diesen dritten Punkt scheint mir Vertrauensbildung zu sein. Vertrauensbildung zwischen den Massen und der Partei (der Avantgarde). Also eine vertrauensbildende Praxis.

Vertrauensbildende Praxis beschreibt am besten im Überblick die von Lenin beschriebene durchaus schwierige Wechselwirkung zwischen der Avantgarde und den Massen.

Ohne Vertrauen kann keine Führung wirklich führen, und eine freiwillige (und um eine andere handelt es sich nicht) ohnehin nicht. Vertrauen kann aber nur aus einer gemeinsamen Praxis erwachsen, und wenn es sich um Massen handelt, dann erst recht.

Das aber wiederum setzt das von Lenin im zweiten Punkt genannte Einfühlungsvermögen in den Zustand der Massen voraus. Denn ohne dieses kann keine Beziehungen zu den Massen und ihren verschiedenen Sektoren aufgebaut werden.

Vielleicht mag auch dem einen oder anderen auffallen, dass alle drei genannten Kriterien nicht nur emotionale Konnotationen haben, ob in der Originalformulierung Lenins oder in meinen zusammenfassenden Oberbegriffen haben sie auch mehr oder minder stark mit Kommunikation zu tun.

So heisst, sich den breitesten Massen anzunähern, bis zu einem gewissen Grade mit ihnen zu verschmelzen, eindeutig und in jedem Sinne, mit diesen Massen in erfolgreiche Kommunikation zu treten.

Auch der Vertrauensaufbau durch Verwirklichung einer richtigen Führung (die von den Massen auch als eine richtige Führung angesehen wird) ist eindeutig ein Vorgang komplexer Kommunikation.

Aber auch was das Klassenbewusstsein des ersten Leninschen Kriteriums betrifft, so ist dieses Klassenbewusstsein in jeder nur denkbaren Bedeutung dieses Wortes in erster Linie Ergebnis kollektiver kommunikativer Prozesse, wie ausgereift oder unausgereift sie immer sein mögen (nein, ich will an dieser Stelle den Begriff Klassenbewusstsein nicht ausdifferenzieren oder gar dekonstruieren, mir genügt, dass meine Aussage für jede Variante des Verständnisses dieses Begriffs tauglich ist).

Demzufolge wäre eine revolutionäre Organisation / Partei in erster Linie ein kollektiver Kommunikator, der in der Lage ist, mit allen Sektoren und Schichten der Klasse in Kommunikation zu treten.

Im Rahmen dieser Kommunikation nähert der Kommunikator diesen Sektoren an, verschmilzt bis zu einem gewissen Grade mit ihnen und entwickelt eine richtige Führung, die sich dadurch auszeichnet, dass sie von diesen Sektoren und Schichten jeweils als richtig angesehen wird (das macht Lenin ja zur Bedingung).

Und das ganze betrachtet unter der Perspektive, dass diese Massen, diese Klasse heutzutage 70-80% der Bevölkerung stellt.

Diesen gewaltigen kommunikativen Akt, der die Machtergreifung dieser 70-80 % mit sich bringt, muss also eine revolutionäre Partei in Deutschland (in den anderen Ländern auch) vollbringen, wenn sie entstanden ist.

Wie muss eine Partei beschaffen sein, die so etwas zuwege bringt?

Ist es einfach nur die Frage eines richtigen Programms, das die Partei zu diesen Qualitäten befähigen wird?

Wohl kaum.

Es muss seine Gründe haben, dass diejenigen, die am marktschreierischsten behaupten, die „richtige Programmatik“ zu haben (meist Exerpte und Erweiterungen des Übergangsprogramms), meist in der Praxis in den Massen am unfähigsten sind.

Fähigkeiten, die mit Emotionalität bzw. den Umgang mit Emotionen zu tun haben, und die für die Disziplin einer revolutionären Organisation unerlässlich sind nach Lenin also:

  • Begeisterung (und damit auch Begeisterungsfähigkeit)
  • Einfühlungsvermögen
  • Vertrauensbildende Praxis

Dies sind also die drei Kardinal-Fähigkeiten einer revolutionären Organisation oder Partei, in die Sprache des 21. Jahrhunderts umgesetzt.

Aus meiner Sicht sind das die drei Kernelemente dessen, was man als wirkliche Leninistische Parteionzeption nennen könnte und auch sollte.

Jede andere Definition (fest gemacht an Kaderorganisation, demokratischer Zentralismus usw.) ist aus meiner Sicht Humbug, Ausfluss der Bolschewismus-Legenden von Sinowjew bis Stalin.

Die solcherart herausgefilterten Punkte sind von ihrem Charakter her nicht epochengebunden, sondern können auf jede Epoche des Kapitalismus angewendet werden, nicht nur auf 1917 ff.

Von daher hat uns Lenin auch heute noch sehr sehr viel zu sagen.

Auf ein Wort noch zum „demokratischen Zentralismus“.

Es ist auffällig, dass Lenin diesen Begriff in seinem Schrifttum bis 1916 gar nicht verwendet und erstmals im Zusammenhang mit der Nationalitätenfrage aufgreift.

„Demokratisch diskutieren, aber vereint handeln“ ist eine Maxime, die gar keine spezifische linke oder revolutionäre Maxime darstellt. Auch die CDU oder SPD handeln „demokratisch-zentralistisch“, nennen das aber nicht so, sondern „Fraktionsdisziplin“.

Insofern praktizierten schon die Vorkriegssozialdemokraten diesen „demokratischen Zentralismus“, was auch zu einer (fast) einheitlichen Abstimmung für die Kriegskredite 1914 führte.

Lenin hat aber niemals ein zeitloses starres Prinzip namens „demokratischer Zentralismus“ propagiert, sondern das Verhältnis von Demokratie und Zentralismus immer von der Situation des Klassenkampfes abhängig gemacht.

Ob er sich da im einzelnen geirrt haben mag oder nicht, will ich hier gar nicht debattieren, aber ein besonderes System namens „demokratischen Zentralismus“, der über eine notwendige Dialektik zwischen innerparteilicher Demokratie und organisatorischem Zentralismus und deren Anpassung an die Notwendigkeiten des Klassenkampfes hinausgeht, hat er aus meiner Sicht nicht entwickelt. Es lag ihm nach meiner Auffassung auch fern.

Somit bleibt, was ich als die entscheidenden Kernkriterien Lenins für die Disziplin einer revolutionären Organisation / Partei ansehe.

  • Begeisterung (und damit auch Begeisterungsfähigkeit)
  • Einfühlungsvermögen
  • Vertrauensbildende Praxis

Eigentlich ist es logisch, was Lenin sagt. Die enge Verbindung der Avantgarde mit den Massen, ihrem Alltagsleben und ihren Alltagskämpfen schafft eine Verbindlichkeit, die von innen kommt und nicht von aussen erzwungen ist.

Was eine Partei des „Leninschen Typs“ antreibt, ist intrinsische, nicht extrinsische Motivation.
http://de.wikipedia.org/wiki/Intrinsische_und_extrinsische_Motivation

Die ständige Verbindung der eigenen Programmatik mit dem Leben der Massen, das schafft Disziplin.

Erst ein Organisationsansatz, oder auch ein Bündnis von Gruppen und Organisationen, das sich zusätzlich zu der programmatischen Klarheit (mit dem Kernziel einer Räterepublik) diese Fähigkeiten zu eigen macht, wird die Führungskrise des Proletariats lösen können.

Alle Menschen, die sich Leninisten nennen oder sich so sehen, oder entsprechenden Gruppen angehören, aber auch die anderen, möchte ich gern fragen:

Inwieweit erfüllen unsere Organisationsansätze die von Lenin genannten essentiellen 3 Kriterien für die Disziplin, den Erfolg einer revolutionären Partei/Organisation?

Wie steht es mit den Faktoren Begeisterung(sfähigkeit), Einfühlungsvermögen und vertrauensbildende Praxis?

Bis jetzt fällt mir nur auf, dass alle diese Fragen einer revolutionären Praxis überhaupt keine Beachtung in der aktuellen NAO-Diskussion finden.

Editorische Hinweise

Der Text wurde erstveröffentlicht bei https://bronsteyn.wordpress.com