Unter der theoretischen Grasnarbe
Michael Heinrich und seine Kritik der politischen Ökonomie

von Karl Müller
10/04

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Als 1986 die Gruppe um Robert Kurz nach zweijähriger theoretischer "Mauserungsphase" publizistisch wieder in die linke Öffentlichkeit zurückkehrte, attestierte sie der linkssozialistischen akademischen Theorie, wie sie in "Argument" oder "Prokla" ihr Dasein fristet, einen Reformismus, der allein darauf ausgerichtet ist, im Sinne individueller Karrieren akademisch "zitierfähig" zu werden. Die theoretische Betätigung jener "linkssozialistischen Akademiker" erschien von daher als ein "bewußtloser und legitimatorischer Bezug auf die institutionalisierten gesellschaftlichen Ausdrucksformen des sozialen Reformismus (Gewerkschaften, linke Sozialdemokratie, neuerdings Grün-Alternative)." (Marxistische Kritik 1, Editorial, S.3)

Mit diesen polemischen Formulierungen sind in etwa die akademischen Bedingungen skizziert, unter denen Michael Heinrich Ende der 80er Jahre begann, an einer Rekonstruktion der Marxschen Werttheorie zu arbeiten, um diese als monetäre wieder herzustellen. In jenen Diskurszusammenhängen der linkssozialistischen Akademiker wurde ihm der kritische Kritiker Hans-Georg Backhaus zum Stichwortgeber. Dieser hatte bereits mehr als 20 Jahre zuvor die windige Behauptung aufgestellt, dass der politische Marxismus in Sachen Werttheorie einen Bruch zwischen Wertsubstanz und Wertformanalyse im Marxschen Kapital übersehen habe und von daher einer falschen, d.h. nicht- bzw. prämonetären Werttheorie aufgesessen sei (1). Über die Tatsache, dass es sich im Marxschen Kapital nicht um einen Bruch sondern um einen notwendigen Übergang handelt, weil sich nur in der Wertform der in den Waren vorhandene Gegensatz von Gebrauchswert und Wert bewegen kann, sah Heinrich hinweg und hängte an den Backhauschen Knochen viel Fleisch und promovierte schließlich damit 1990 an der FU Berlin. Seine Dissertation erschien ein Jahr später unter dem Titel "Die Wissenschaft vom Wert" (2) im Buchhandel.

Mit seiner Dissertation wollte Heinrich klarstellen, dass Marx gleichsam mit einem Bein selber auf dem Boden der von ihm kritisierten klassischen politischen Ökonomie steht, während er mit dem anderem, dem Spielbein, durch seine Kritik zum "Protagonist einer wissenschaftliche Revolution" wird. So durchkreuzen sich angeblich bei Marx "permanent zwei verschiedene Diskurse". Um diese aufzudröseln, sei kein geringerer als er selber, Michael Heinrich, berufen. Zwar habe es ideengeschichtlich betrachtet immer mal wieder Versuche gegeben, Licht in jenes Dunkel zu werfen, doch sei dies entweder misslungen oder "durch Faschismus oder Stalinismus brutal beendet worden". Heinrich knüpfe seinerseits nun an die infolge der Studentenbewegung der 60er Jahre "neu einsetzende Kapital-Rezeption" an, um so bestimmte Defizite des kategorialen Apparats der Kritik der politischen Ökonomie bei Marx zu beseitigen. Die befänden sich vor allem auf dem Feld der Wert- und Geldtheorie, was man auch daran schon sehen könne, dass seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts das kapitalistische Geldsystem auch ohne Geldware auskäme, was nach bisherigem, Prä-Heinrichschem Marxverständnis eigentlich nicht möglich sei.

Schreiten wir - angesichts dieses wenig bescheidenen Anspruchs - gleich zum bitteren Ende jener geistigen Anstrengungen: Heinrichs Doktorarbeit endet mit dem hohen Lied auf das Geld als "das vermittelnde Medium", welches dem Einzelnen im Sozialismus nicht mehr als "verselbständigte gesellschaftliche Macht" gegenübertreten wird, weil es einer gesellschaftlichen Kontrolle unterworfen ist. Dies gleicht einem Plagiat auf die "Beherrschung des Wertgesetzes", wodurch bekanntlich Ware, Geld und Preis im niedergegangenen Sozialismus - wissenschaftlich verbrämt - gerechtfertigt wurden (3).

"Warenproduktion, Ware-Geld-Beziehungen und damit auch das Wertgesetz sind im Sozialismus objektive Beziehungen innerhalb der sozialistischen Reproduktion." (4)

Michael Heinrichs Kritik der politischen Ökonomie

1999 schien sich Michael Heinrichs "Freilegung tief greifender Ambivalenzen" beim "frühen und beim "späten" Marx auszuzahlen. Eine zweite Ausgabe erschien. Schließlich folgte 2003 die dritte auf  411 Seiten erweiterte Ausgabe. Nun glaubte er sich ausreichend munitioniert, um in diesem Jahr seine "Kritik der politischen Ökonomie"(5) vorzulegen.

Mit diesem Taschenbuch plädiert er für eine Neuaneignung der Marxschen Theorie, welche  er in kritischer Distanz zum Altmeister und zum Weltanschauungsmarxismus ausgearbeitet hat. Diese Aneignung erscheint dringlich, beruht schließlich nach Michael Heinrich die Kritik, wie sie sich in den 90er Jahren gegen den Kapitalismus richtete, "auf einer einfachen moralischen Schwarz-Weiß-Malerei". Somit konnte auch keine Antwort darauf gefunden werden, "was innerhalb des Kapitalismus überhaupt an Veränderung möglich ist."  Auf gut 200 Seiten kriegen die LeserInnen daher alles das geboten, was mensch didaktisch reduziert wissen muss, um sich in den neuen sozialen Bewegungen mithilfe marxologischen Vokabulars reformistisch betätigen zu können (6). Ganz dringlich empfiehlt Michael Heinrich daher den LeserInnen seiner Schrift, besonders gründlich das Kapitel 3 "Wert, Arbeit Geld" zu studieren.

Bekanntlich unterschied Marx zwischen dem generellen Zwang zur Vergesellschaftung, wie er aus einer arbeitsteiligen Produktion entspringt, und einer bestimmten Form der Vergesellschaftung konkret-nützlicher Arbeiten unter den Bedingungen isolierter Privatproduktion. Deshalb kam es Marx darauf an, die Vermittlung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung im Kapitalismus durch den Tausch darzustellen, weil im Tauschakt der gesellschaftliche Charakter der Arbeit auf der Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft erscheint. Auf der Grundlage dieses Sachverhalts, der bezogen auf das Kapital als sich selbst verwertender Wert ( G-W-G´) wirkt, entfaltet sich die Marxsche Werttheorie.

In seinem Taschenbuch arbeitet Michael Heinrich nicht nur mit den Marxschen Kategorien, sondern folgt auch scheinbar der Marxschen Analyse. Für Heinrich sind die Warenproduzenten allerdings nur bürgerliche Monaden, die ihre Privatarbeiten verrichten. Der gesellschaftliche Zusammenhang, wie er in der Arbeit bereits mittelbar existiert, wird von Heinrich in diesem Kontext zwar beständig erwähnt aber inhaltlich nicht zur Kenntnis genommen.  Er fragt statt dessen im besagten Kapitel 3: "Wird unter den Bedingungen der Warenproduktion die Verteilung der privat verausgabten Arbeiten ... über den Wert vermittelt, .... dann ist die interessante Frage...: wie die privat verausgabte Arbeit zum Bestandteil der gesellschaftlichen Gesamtarbeit wird."

Die Antwort findet er, indem er hauptseitig von den Subjekten als Warentauschenden ausgeht. Somit glaubt er, beweisen zu können, dass es der Warentausch selber ist, der die Vergesellschaftung vollbringt - und nicht die Arbeit.  Zu diesem Zwecke muss er die dem Wert zugrunde liegende Einheit von Wertsubstanz, Größe und Form aufspalten, um die Wertgröße gesondert als ein Zusichkommen der abstrakten Arbeit im Tauschakt formal zu behandeln. Aus dieser reduzierten Tauschakt-Perspektive den Zusammenhang von Produktion und Zirkulation betrachtend, erscheint nun die Annahme, Gesellschaftlichkeit konstituiere sich erst im Warentausch, einleuchtend.

Diese Verkehrung von Wesen und Erscheinung muss sich dann notwendiger Weise bei Michael Heinrich in seiner fehlerhaften Geldableitung wieder finden.

Michael Heinrich schreibt dazu: "Die Geldform  unterscheidet sich von der allgemeinen Wertform nur dadurch, dass die Äquivalentform "durch gesellschaftliche Gewohnheit"  (MEW 23, S.84) mit der Naturalform einer bestimmten Ware verwachsen ist." D.h. die Geldform ist für Heinrich mit der allgemeinen Wertform identisch und unterscheidet sich - wenn überhaupt - nur stofflich (7). Das ist eine grobe Fehlinterpretation. Die Verdoppelung der Ware, worauf  Marx insistiert, in Ware und Geld hätte nämlich somit nicht stattgefunden und die Heinrichsche Werttheorie erwiese sich als eine prämonetäre und das "Geldrätsel" bliebe ungelöst.

Da aber in der Realität der Widerspruch zwischen Gebrauchswert und Wert nicht aufgehoben ist, ganz im Gegenteil, er bildet historisch und logisch den Widerspruch, der den Waren produzierenden Kapitalismus bestimmt, muss er auch in der gedanklichen Widerspiegelungsebene begrifflich als unaufgehobene Einheit weiter bestehen. Dies ist nur möglich in dem eine Ware, die als allgemeines Äquivalent fungiert, aus der Sammlung der Warenkörper ausgesondert wird und nunmehr ihren gesellschaftlichen  Gebrauchswert darin hat, den Tauschwert aller anderen Waren darzustellen. Das ist das Geld. Und das Geld ist selber Ware, beinhaltend Wertsubstanz und -größe. Und weil dies so ist, leitet sich das Geld nicht aus der Zirkulation, wie uns Heinrich versichert, sondern aus dem Widerspruch der Ware ab (8).

Während sich seine Vordenker wie Hans-Georg Backhaus oder Helmut Reichelt(9) bei der Beschäftung mit Ware, Wert und Geld noch mit Fragen der Erkenntnistheorie und -methode, d.h. mit der materialistischen Dialektik abzuplagen hatten, so verlangte es in den 60er und 70er Jahren die wissenschaftliche Konkurrenz, hatte Michael Heinrich offensichtlich das Glück, dass seine theoretischen Bemühungen in eine Zeit fallen, wo im akademischen Raum die materialistische Dialektik als toter Hund  behandelt wird. Michael Heinrich kennt sie jedenfalls nicht, zumindest bei der Beschäftigung mit der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie nicht. Da kennt er nur eine Dialektik als Form der Darstellung nach getaner Arbeit am Begriff, welche er "Kategorienkritik" nennt. Ansonsten lässt er in seiner Schrift eine wahre Suada über die philosophischen und weltanschaulichen Grundlagen des wissenschaftlichen Sozialismus ab, die es nicht wert sind, in eine inhaltliche Auseinandersetzung damit zu treten.

Mit diesen Plattheiten, die noch weit unter der theoretischen Grasnarbe vergleichbarer Schriften der Bundeszentrale für Politische Bildung angesiedelt sind, verfolgt er zielstrebig die Errichtung eines Popanz, den er weltanschaulichen oder wechselweise Traditionsmarxismus nennt. Mithilfe dieses Popanz glaubt er sich gegen Kritik zu immunisieren. Sogar wohlwollende Hinweise auf Fehlinterpretation werden mit diesem Totschlagargument bedient (10).

Die Diffamierung jener Kräfte, die an der Marxschen Dialektik als Theorie und Methode der Erkenntnis festhalten, geschieht nicht nur aus Gründen des Zumachens vor Kritik, sondern die Nichtanwendung der materialistischen Dialektik ist für Heinrich selber Programm bei seinen theoretischen Bemühungen. Und diese laufen letztlich darauf hinaus, wie von Seiten der so genannten Wertkritiker schon vor Jahren festgestellt wurde, "eine Kompatibilität zwischen der Marxschen Theorie und der positivistischen bürgerlichen Volkswirtschaftslehre" herzustellen (11).

Dort, wo Michael Heinrich im politischen Raum auftritt, nämlich im Umkreis der sozialen Bewegungen, macht er gezielt Werbung für reformistische Politik. Sozusagen auf der hohen ausgedünnten Ebene der Wissenschaft, wiederholt er dies, indem er in akademischen Diskurszusammenhängen Marx revidiert. Dies geschieht, gestützt auf eine undialektische Formtheorie, vornehmlich auf dem Feld der Geldtheorie und in Verlängerung dessen auf dem Feld der Krisentheorie. Allerdings - eine Auseinandersetzung damit gehört dorthin, wo sie vielleicht noch Sinn macht, in den Bereich der Marx-Philologie. Dort finden sich denn auch etliche Gegenspieler dazu bereit (12).

Den politischen Raum sollten KommunistInnen jedoch nicht länger dem Michael Heinrich allein überlassen.

Anmerkungen:

1) Backhaus, Hans Georg,  Zur Dialektik der Wertform. In: Alfred Schmidt (Hg.): Beiträge zur marxistischen Erkenntnistheorie. Frankfurt a. M. 1969

2) Heinrich, Michael, Die Wissenschaft vom Wert, Hamburg 1991

3) In Heinrichs Dissertation finden wir im ideengeschichtlichen Abriss zur Marxschen Rezeptionsgeschichte in der Einleitung außer dem Hinweis auf Rubin (1924 !!!) und Wygodski (1967) keine Erwähnung (und später auch keine Untersuchung) der zahlreichen, auf hohem theoretischen Niveau geführten Ware-Geld-Debatten, wie sie seit der Industrialisierung der Sowjetunion bis zur Implosion des realexistierenden Sozialismus 1989 ständig in regelmäßigen Abständen abliefen. Mit diesen Debatten sind Namen von Theoretikern wie Liberman, Brus, Kronrod, Behrens usw. verbunden. Selbst in der chinesischen und kubanischen Revolution spielte die Frage der Ware-Geld-Beziehungen eine zentrale theoretische Rolle. Bezeichnend für Heinrichs Ekklektizismus ist die Verwendung der Rubinschen Schrift "Studien zur Marxschen Werttheorie" von 1924, die auf Deutsch (1973) nur auszugsweise vorliegt, während die Weiterentwicklung der theoretischen Position Rubins 1927 "Abstrakte Arbeit und Wert im Marxschen System" und die damit zusammenhängende Debatte keine Erwähnung finden.

4) Ware-Geld-Beziehungen im Sozialismus, Berlin 1976, S.24

5) Heinrich, Michael, Kritik der politischen Ökonomie, Stuttgart 2004

6) In der vorliegenden trend-Ausgabe wird Heinrichs neuester Aufsatz Agenda 2010 und Hartz IV,Vom rot-grünen Neoliberalismus zum Protest gespiegelt. Mehr oder minder offen kokettiert Heinrich dort mit einem Parteiprojekt an den Rändern von PDS und SPD und vermittelt im Hinblick auf die Ursachen der Hartzreformen die theoretische Tiefe eines Spiegelredakteurs. Weder ist von Überakkumulation und Finanzblasen, noch von Absatzkrisen und globalen Widersprüchen die Rede. Produktionssphäre und betriebliche Klassenkämpfe interessieren ihn nicht und kommen folglich auch in seinem Artikel nicht vor.

7) Auf der formellen Ebene muss Marx logischerweise auf S.84 zunächst festhalten: "Dagegen unterscheidet Form IV sich durch nichts von Form III." Doch es handelt sich realiter um einen Prozess, in dessen Bewegung Form IV (Geldform) einer Momentaufnahme - einer Zustandbeschreibung an einem Punkt - gleicht, in der die Bewegung scheinbar nicht vorkommt bzw. denklogisch nicht  vorkommen kann. Um den Eindruck des Verschwindens der Bewegung nicht zu verfestigen, fügt Marx sofort an: "Gold tritt den anderen Waren nur als Geld gegenüber, weil es ihnen zuvor als Ware gegenüberstand." Und diese Momentaufnahme nach vorn auf aufgelöst, heißt es an gleicher Stelle: "Sobald es das Monopol  dieser Stelle im Wertausdruck der Warenwelt erobert hat, wird es Geldware und erst von dem Augenblick, wo es Geldware geworden ist, unterscheidet sich Form IV von Form III, oder ist allgemein verwandelt in Geldform." Dies als Einheit der Gegensätze näher darzustellen wird im 2. Kapitel des Kapitals "Der Austauschprozess" vorgenommen. Und dies geht nicht ohne Hereinnahme des historisches Prozesses, welcher die logische Ableitung historisch konkretisiert : "Die historische Ausweitung und Vertiefung des Austausches entwickelt den in der Warennatur schlummernden Gegensatz von Gebrauchswert und Wert." (MEW 23, S.102)

8) Dies ist einer der zentralen Punkte seiner Schrift, wo Heinrich den Marx revidiert: "Marx selbst konnte sich zwar kein kapitalistisches Geldsystem ohne Geldware vorstellen, doch folgt dies keineswegs aus seiner Analyse von Ware und Geld."

9) Reichelt, Helmut, Zur logischen Struktur des Kapitalbegriff bei Karl Marx, Ffm 1970

10) In seiner Replik auf die Kritik, die Robert Schlosser an ihm geübt hatte, hielt Michael Heinrich diesem vor, er pflege das Gedankengut des Traditionsmarxismus zu verbreiten. Ansonsten gelang es ihm nur, Robert Schlosser sinnentstellend zu zitieren, um auf diesen Pappkameraden mit der Ratsche des Besserwissers einzuschlagen.

11) siehe dazu Norbert Trenkle: Über Michael Heinrichs Versuch, die Marxsche Krisentheorie unschädlich zu machen

12) Aus aktuellem Anlass verweise ich auf die Rote Ruhr Uni im November 2004 und vor allem auf den Text von Dorothee Jung und Dieter Wolf: Abstraktionen in der ökonomisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit und in der diese Wirklichkeit darstellenden Kritik der politischen Ökonomie