Sind wir die?
Vergangenwärtig: In Berlin wurde einer Rettungsaktion für jüdische Kinder gedacht

von Antonín Dick

09-2013

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Im November 1938 brannten in Deutschland die Synagogen, Widerstand in der deutschen Bevölkerung gab es kaum. Man ließ es geschehen, duckte sich weg. Spätestens ab jetzt waren die Deutschen Geiseln ihrer Führung, die sie selbst gewählt hatten, Mitwisser, Zugerichtete, ein Volk von Komplizen. Aber dann geschah ein kleines Wunder: Mehr als 10000 bedrohte jüdische Kinder konnten nach Großbritannien gerettet werden, was auch der Terror der Gestapo bis in die Abteile der Sonderzüge hinein nicht zu verhindern vermochte.

In Reaktion auf die »Reichspogromnacht« waren führende Vertreter der britischen jüdischen Gemeinde bei Premierminister Neville Chamberlain vorstellig geworden, die strengen Einwanderungsbestimmungen für jüdische Kinder unter 17 Jahren zu lockern und es ihnen zu ermöglichen, Deutschland ohne ihre Eltern zu verlassen. Hieraus wurde eine Kabinettsvorlage, die vom britischen Parlament bestätigt wurde.

Die Kindertransporte, die viele Helfer hatten, dauerten bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges am 1. September 1939. Kinder aus Deutschland, Österreich, Polen und der Tschechoslowakei wurden von britischen Internaten und Pflegefamilien aufgenommen. Das Wort Kindertransport fand Aufnahme in die englische Sprache. Es war nicht alles ohne Makel, was hier geschah. Wie hätte es auch anders sein können. Aber man war gerettet, durfte leben, weiterleben. Doch die meisten Kinder sahen ihre Eltern nie wieder. Eines der Kinder, Frank Meisler, schuf vor ein paar Jahren das Denkmal »Züge in das Leben – Züge in den Tod«. Es steht am Berliner Bahnhof Friedrichstraße. Von hier fuhren Ende August 1939 die letzten Züge mit zu Rettenden.

Alljährlich finden hier Gedenkkundgebungen statt. Und so versammeln sich am sonnigen Freitag nachmittag mehr als 300 Menschen. Ungefähr 30 »Kinder von damals« – sie nennen sich selbst so – nehmen auf Stühlen Platz. Sie kommen von einem Empfang der Niederländischen Botschaft, denn die Niederländer hatten großen Anteil an der Rettung. Ein Junge mit einer Kippa auf dem Kopf liest aus einem Bericht eines Überlebenden, der vor allem von der legendären Helferin Geertruida Wijsmuller-Meijer, die von allen »Truus« genannt wurde, erzählt. Es spielt das Jugendsinfonieorchester des Georg-Friedrich-Händel-Gymnasiums aus Friedrichshain. Die niederländische Botschafterin Monique van Daalen, ein Vertreter der Britischen Botschaft, ein Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Berlin, die Vizepräsidentin der Berliner Polizei und andere Repräsentanten sprechen behutsame Worte, ungeachtet des ausgelassenen Lärms der Menschen und Autos auf der nahegelegenen Friedrichstraße im gerade einsetzenden Wochenendverkehr.

Es ist Gegenwart. Frieden. Doch von den 30 »Kindern« tritt keiner ans Mikro. Es ist Vergangenheit? Ja, und doch kann die Erinnerung an die Verfolgung immer wieder über sie kommen. Dann fühlen sie anders als das Gros der Menschen hierzulande, sozusagen vergangenwärtig, out-of-balance, meschugge.

Ganz hinten, am Viadukt tanzt ein Behinderter zu klassischer Musik. Ein Betreuer hält ihm die Hände, hält ihn fest. In dem in 19 Sprachen übersetzten und von den Briten mit dem Independent Foreign Fiction Prize gewürdigten Prosawerk »Austerlitz«, in dem W. G. Sebald dem Schicksal eines erwachsen gewordenen Kindes aus dem Kindertransport einfühlsam nachspürt, geschieht es umgekehrt: Der Starke, der Schriftsteller, hält sich am Schwachen fest. Das Buch ist wie im Nebel geschrieben. So redet keiner.

Sind wir die, die wir? Ja, wir sind die, die wir. Jedenfalls geben wir dies vor. Einem Zufall, erkannten sie als erwachsen gewordene Kinder, verdanken sie ihr Leben. Hier hat eine Tragödie stattgefunden. »Die Welt besteht nur um des Hauches der Schulkinder willen«, heißt es im Talmud.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Artikel vom Autor zur Zweitveröffentlichung. Erstveröffentlicht wurde er in der Jungen Welt am 2.9.2013.

Vom Autor erschien bei TREND:


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Rose des Exilgeborenen

Ein Essay von Antonín Dick