Brief an einen sozialdemokratischen Genossen

von
Antonín Dick

09-2013

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onlinezeitung

Sehr geehrter, lieber Herr Buchmann*,

wie seit Jahren üblich, sende ich Ihnen heute erneut relevante Presseartikel zu Fragen der Auseinandersetzung mit Faschismus und Tagespolitik.

Gestern hatten wir ein für mich sehr betrübliches Telefonat zu Fragen der Faschismus-Forschung. Ihrerseits war dieses Gespräch, wie schon so manches Mal vorher, nicht frei von Verletzungen gegenüber einem Angehörigen einer jüdischen Familie, die vom Naziregime vernichtet wurde.

Gestern sprachen wir eingehend von den ersten faschistischen Bewegungen in Europa. Entgegen dem gesicherten Stand der Faschismus-Forschung stellten Sie die haarsträubende These auf, der Faschismus sei eine rein italienische Erfindung, die in das Deutsche Reich gewissermaßen importiert worden sei, nur aus der unverkennbaren Absicht heraus, das deutsche Volk angesichts seiner unheilvollen Geschichte reinzuwaschen. Sie sitzen einem Irrtum auf bzw. stellen gezielt falsche Behauptungen auf. Zwischen 1918 und 1920 schossen in etlichen Staaten Europas gleichzeitig faschistische Bewegungen ins Kraut – in Deutschland, in Rußland, in Spanien, in Ungarn, in Italien usw. Das haben ich Ihnen bereits im Gespräch explizieren können. Der Sammelbegriff für all diese Bewegungen lautet spätestens seit der Mitte der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts ‚Faschismus‘, und es ist daher wissenschaftlicher Unfug, wenn Sie aus der Tatsache, daß die Herkunft dieses Wortes aus dem Italienischen bzw. Lateinischen ableitbar ist, schließen wollen, die deutsche faschistische Bewegung sei ein Import des italienischen Faschismus gewesen. Teilnehmer der Novemberrevolution in Deutschland wurden nachgewiesenermaßen zu einem nicht unbeträchtlichen Teil von Reichswehr- und Freikorps-Einheiten füsiliert. Die Massenschlächtereien unter revolutionären Arbeitern und Soldaten wurden von kaisertreuen Soldaten begangen, die Hakenkreuzbinden getragen hatten. Wollen Sie das etwa in Abrede stellen?

Dann verstiegen Sie sich zu der Behauptung, die Mussolini-Bewegung in Italien sei – dies die wortwörtliche Wiedergabe der Rede von Ihnen! – von der jüdischen Großbourgeoisie in Italien gefördert worden. Sie haben nicht gesagt: von Teilen der jüdischen Großbourgeoisie. Sie haben gesagt: von der jüdischen Großbourgeoisie. Und diese Bemerkung kam blitzartig, aus heiterem Himmel, von hinten gewissermaßen, hatte mit unserem Gesprächsgegenstand ‚Dialog zur Entstehung des europäischen Faschismus’ eigentlich gar nichts zu tun. Also Juden und Italiener hätten Schuld am Aufstieg des Faschismus in Europa? Das ist eine infame, eindeutig nationalistisch gefärbte Unterstellung! Die Wahrheit ist, daß sich die Mussolini-Bewegung anfänglich sozialistisch und nie antisemitisch gab, denn Mussolini kam ja aus der sozialistischen Arbeiterbewegung. Er hatte dann die Massen bewußt getäuscht und in die Irre geführt. Wie der international anerkannte Faschismus-Forscher Robert O. Paxton in seinem historiographischen Standardwerk „Anatomie des Faschismus“ u. a. nachweisen konnte, hatte Mussolini in seinen frühen Tagen tatsächlich auch jüdische Unterstützer und sogar enge Berater gehabt. Das ist eine empirisch unbestreitbare Aussage, die Paxton wissenschaftlich erklärt, aber nicht instrumentalisiert, wie Sie das betrüblicherweise versuchen. Zu behaupten, d i e jüdische Großbourgeoisie Italiens hätte die faschistische Bewegung finanziell unterstützt, ist nicht nur eine grob-böswillige Generalisierung, getragen von dem leicht durchschaubaren Wunsch, dem jüdischen Volk am Zeug zu flicken, um sich aus der blutigen deutschen Geschichte umso besser davonstehlen zu können, sondern obendrein eine Aussage, die in Nähe von Nazisprech rückt, denn auch Hitler und Goebbels sprachen in ihrem Liquidationswahn von d e m Juden. Verstärkt gehen Sie in jüngster Zeit nach der Methode vor, gesellschaftliche Einzelerscheinungen herauszugreifen, um ein ganzes Volk nichtdeutscher Herkunft in Mißkredit zu bringen. Ich bin, offen gesagt, entsetzt darüber, daß Sie in Ihren Winkelzügen zur Verabschiedung der deutschen Vergangenheit so weit gehen. Offen wagen Sie es immerhin nicht, das jüdische Volk als Ganzes anzugreifen, denn antijüdischer Haß ist seit 1945 tabuisiert. Aber Sie machen dies unterschwellig, versteckt, subtil. Einer der ersten Intellektuellen in deutschen Landen, die sich dieser Methode bedienten, war Friedrich Schiller, der in seinem Stück „Die Räuber“ dem jüdischen Ökonomen Joseph Süß Oppenheimer versteckt den Krieg erklärte. Er zog vom Leder, aber nicht offen, er nannte in seinen Tiraden nicht einmal den Namen dieses hervorragenden wirtschaftlichen Reformers in Württemberg. Das ließ später erst Goebbels in seinem Hetzfilm „Jud Süß“ durch willfährige Künstler bewerkstelligen.

Hakenkreuz am Stahlhelm


Brigade Ehrhardt 1919

Kamerad, reich mir die Hände,
Fest wollen zusammen wir stehn.
Man mag uns auch bekämpfen,
Der Geist soll niemals verwehn

Hakenkreuz am Stahlhelm,
Schwarz-weiß-rotes Band,
Die Brigade Ehrhardt
Werden wir genannt.

Arbeiter, Arbeiter,
Wie mag es dir ergehn,
Wenn die Brigade Ehrhardt
Wird einst in Waffen stehn.

Hakenkreuz am Stahlhelm,
Schwarz-weiß-rotes Band,
Die Brigade Ehrhardt
Werden wir genannt.

Die Brigade Ehrhardt
Schlägt alles kurz und klein,
Wehe Dir, wehe Dir,
Du Arbeiterschwein.

Text: unbekannter Verfasser
 Kampflied der Brigade Ehrhardt

Was ist mit Ihnen los, sehr geehrter Herr Buchmann? Ich frage mich ernsthaft, was aus Ihren soliden antifaschistischen Überzeugungen als ehemaliger DDR-Bürger geworden ist, daß Sie so rasch bereit sind, dieses Gepäck über Bord zu werfen. Wohin geht die Reise? Raus aus der Unglücksgrotte der deutschen Geschichte? Nach Europa? Aber dort werden Sie Menschen empfangen, die es noch lebendig im Gedächtnis haben, was Ihr Volk deren Völkern angetan hat in der Zeit der Hitlerherrschaft in ganz Europa. Auch dort bleiben Sie ein Deutscher, und es gibt keine Flucht für Sie. Wie der Emigrant Thomas Mann es 1945 den Deutschen ins Stammbuch geschrieben hatte: Lernen, das an Gutem der Welt zu geben, was Sie als Deutscher zweifelsohne besitzen – als aufgeklärter Kosmopolit, ohne jeden Herrschaftsanspruch, voller Demut und Aufrichtigkeit und Hilfsbereitschaft. Oder träumen Sie etwa die Vorstellung, eine neue, hermetisch nach außen abgeschlossene deutsche Grotte zu konstituieren? Dieses Mal eine Grotte des Guten? Die Erfahrungen der DDR, weil sie eben hermetisch nach außen abgeriegelt war, widerlegen diesen Traum.

Es ist nicht das erste Mal, daß Sie Entgleisungen mit judenfeindlichem Hintergrund vortragen, nicht offen, sondern geschickt verpackt in unverfängliche, fortschrittlich klingende Diskussionsbeiträge, mündlich wie schriftlich, frei nach Friedrich Schiller. Ich darf Sie in diesem Zusammenhang zum Beispiel daran erinnern, nein, ich muß es, daß Sie in einer auch von Ihnen getragenen Schriftenreihe von „Halbjuden“ sprechen, also völlig unkontrolliert einen klassischen LTI–Terminus in den Mund nehmen. In einem dieser Druckerzeugnisse veröffentlichten Sie das rassistische Kinderlied „Zehn kleine Negerlein“. Zu einer von mir geforderten Revision dieser Fehlleistungen, d. h. verbesserten Auflage, haben Sie sich bislang nicht verstehen können. All dies ist m. E. ein völlig unverantwortliches Tun und Reden, ganz offenbar der Tatsache geschuldet, daß Sie zu Faschismus und Kommunismus auf Äquidistanz gehen. Aber gibt das Desaster des Staatskommunismus die Berechtigung zu dieser Äquidistanz wirklich her? Meinen Sie nicht auch, daß Sie mit dieser ahistorischen Gleichsetzung den deutschen Terror zwischen 1933 und 1945 verantwortungslos verharmlosen? Die Leiden der Opfer des Faschismus in ganz Europa, objektiv gesehen, mißachten? Wo bleibt Ihr einstmals klares und kritisches Denken und Urteilen, Ihr historisches Bewußtsein, das ich immer so sehr an Ihnen geschätzt habe und mich mehrfach dazu veranlaßt hat, Sie zu mir nach Hause als willkommenen Gast und Dialogpartner einzuladen?

Bereits im gestrigen Gespräch mußte ich Sie diesbezüglich auf die jüngste Studie der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung zum gegenwärtigen Stand der Entwicklung des Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland aufmerksam machen, auf den gefährlichen Anstieg dieser politischen Seuche, die man längst überwunden glaubte. In unserer Republik sind 15 bis 20 % latent, 8 bis 10 % manifest antisemitisch eingestellt. Ein alarmierender Befund! Und da kommen Sie und fördern mit unverantwortlichem Gerede über Juden, das von den Deutschen massakrierte Volk, diesen gefährlichen Trend. Statt mitzuhelfen, ihn zu stoppen!

Ich darf Sie darauf aufmerksam machen, sehr geehrter Herr Buchmann, daß Sie als Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands per Statut Ihrer Partei verpflichtet sind, sich aktiv gegen Neonazismus, Rassismus und Antisemitismus zu stellen. Im Wahlprogramm Ihrer Partei zu den Bundestagswahlen 2013 steht es auch für Sie: „Wir bekämpfen … den organisierten Rechtsextremismus. Deshalb wollen wir die NPD verbieten. Sie ist in aggressiver Form rassistisch, antisemitisch und fremdenfeindlich.“ Es wird im Wahlprogramm Ihrer Partei eine „Demokratieoffensive“ gefordert, und zwar als „gesamtgesellschaftliche Daueraufgabe“, denn: „Kein NPD-Verbot, keine Sicherheitsbehörde ist so wirkungsvoll im Kampf gegen Rechtsextremismus wie eine wachsam und aktive Zivilgesellschaft. Deshalb müssen wir vor allem die Zivilgesellschaft stärken.“

Bitte ehrlich bekennen, sehr geehrter Herr Buchmann – stufen Sie Ihr Verhalten als ein Verhalten ein, das geeignet ist, die Zivilgesellschaft zu stärken? Sie schwächen sie. Als ein in der DDR ausgebildeter Kulturwissenschaftler tragen Sie mit Ihren unverantwortlichen Debatten objektiv zur Stärkung der rechten Front in der Bundesrepublik bei. Sie wissen doch so gut wie ich, daß die momentane geistig-moralische Situation hierzulande äußerst indifferent, labil, angreifbar und gefährdet ist. Offen erhebt der Neofaschismus hier und auch in anderen europäischen Staaten frech sein Haupt. Da ist doch äußerste Zurückhaltung im Auftreten von nichtjüdischen Deutschen gegenüber jüdischen Deutschen, den Hauptleidtragenden des deutschen Faschismus, geboten, meinen Sie nicht auch? Vor gar nicht langer Zeit sagte einer der bekanntesten ehemaligen Vorsitzenden Ihrer Partei, Helmut Schmidt, den warnenden Satz: „Wir Deutschen sind ein gefährdetes Volk.“

Es befremdet mich auch außerordentlich, wenn Sie neuerdings sogar jeden Dialog über meine Veröffentlichungen zu Fragen der Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich und mit Großdeutschland demonstrativ verweigern. Als ich mich mit Ihnen über den weltbekannten jiddischen Dichter Abraham Sutzkever austauschen wollte – ich hatte zu seinem 100. Geburtstag und zur Nazi-Hölle des Gettos von Wilna einen längeren Beitrag geschrieben und Ihnen zugeleitet – , blockten Sie jedes Gespräch über dieses Thema ab. Das wäre früher nie passiert. Der Kanzlerkandidat Herr Peer Steinbrück Ihrer Partei bekannte sich am vorigen Wochenende auf einer Kundgebung aus Anlaß des 150. Jahrestages der Gründung der SPD zu einer aktiven Auseinandersetzung mit den Nazis hierzulande. Er reichte allen Menschen, die aktiv gegen die Nazis kämpfen, die offene Hand, allen Demokraten, den Kommunisten ebenso wie den Liberalen und den Christen. Ich gehöre keiner Partei an, wie Sie wissen, aber ich begrüße als Sohn von aktiven Widerstandskämpfern und jüdischen Naziverfolgten ausdrücklich die von Ihrer Partei entwickelten Positionen und Initiativen zur Herstellung einer Gemeinsamkeit aller Demokraten gegen alte und neue Nazis. Doch Ihre neuerlichen geistig-politischen Abirrungen, sehr geehrter Herr Buchmann, gießen Zweifel und, verzeihen Sie mir bitte den Ausdruck, Dreck in diese Aktionseinheit. Ich bin verzweifelt ob Ihrer offenen und versteckten Preisgabe von politischen Grundpositionen der SPD, nur um des schnellen Gewinnes wegen, sich aus der deutschen Geschichte leise fortstehlen zu können. Was eine Illusion ist, denn diese Geschichte wird Sie immer wieder einholen. Ihre Partei hat im Widerstandskampf gegen Hitler einen hohen Blutzoll gezahlt. Der Feind steht rechts, gleichgültig unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen. Wollen Sie das vergessen?

Sehr geehrter, lieber Herr Buchmann, ich erwarte von Ihnen eine Klarstellung.

In alter, freundschaftlicher Verbundenheit –

Ihr
Antonín Dick
Mitglied der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes Landesverband Berlin

Geschrieben vor Einkehr in den Shabbat, 23. August 2013

*Der authentische Name wurde durch ein Pseudonym ersetzt.

Editorische Hinweise
Wir erhielten den Brief vom Autor und werden dazu - je nach Fortgang der Dinge - weiter berichten.

Der Kasten ist eine Ergänzung der Redaktion.

Vom Autor erschien bei TREND:


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Rose des Exilgeborenen

Ein Essay von Antonín Dick