Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Elemente zur Einwanderungspolitik der neuen Regierung (Teil 3) 

09-2012

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Im Laufe des August 2012 häuften sich erneut Roma-Abschiebungen in Frankreich. Seit dem 29. August wurde dieser in ganz Europa besonders diskriminierten „ethnischen“ Minderheit nun allerdings in Frankreich erstmals der so genannte Arbeitsmarkt weitgehend geöffnet. Unterdessen versucht Innenminister Manuel Valls, die „Autoritätsbeweise“ zu sammeln…

Den Wechsel jetzt“, le changement maintenant, hatte François Hollande vor einigen Monaten im Wahlkampf versprochen. „Für die Roma gilt: den Länderwechsel jetzt – le changement de pays maintenant -, dank François Hollande“ ätzte am Montag, den 27. August eine Satiresendung im französischen Fernsehen. Gemeint war der unfreiwillige Ortswechsel durch Abschiebung, oder dem Druck von Zwangsräumungen der von Roma errichteten Siedlungen auf französischem Boden.

Um die dreißig solcher campements genannten Siedlungen, die mal aus Wohnwagen und mal aus Holzhütten, Baracken und einfachen Häusern bestanden, wurden seit Anfang August geräumt. Zunächst im Raum Lyon, in La Courneuve bei Paris, in Marseille und in der Nähe von Lille. Später auch in Evry südlich von Paris, in Créteil südöstlich oder in Stains nördlich der Hauptstadt. Dadurch verloren rund 3.000 Menschen vorübergehend ihre Bleibe. Die meisten von ihnen wurden allerdings nicht in ihre Herkunftsländer – in der Regel Rumänien und Bulgarien - abgeschoben, sondern blieben in Frankreich. Sie mussten sich jedoch nach neuen Unterkunftmöglichkeiten umsehen und hatten oft einen Teil ihres Hausrats, Habs und Guts durch die Bulldozer verloren. Etwa ein Zehntel der Betroffenen wurde ferner in Richtung Südosteuropa abgeschoben. Allein 240 Menschen auf einmal wurden durch einen Sonderflug, der am 9. August in Lyon abhob, nach Bukarest ausgeflogen. In den drei Tagen zuvor waren mehrere Siedlungen im Raum Lyon, etwa in Villeurbanne und Vaulx-en-Velin, durch die Polizei geräumt worden.

Die Bilder ähnelten vordergründig jenen vom Sommer 2010. Damals, vor zwei Jahren, waren innerhalb weniger Wochen gleich dreihundert Romasiedlungen aufgelöst worden, und mehrere Tausend Personen wurden abgeschoben. Vom Anfang jenes Jahres bis Mitte September 2010 waren es damals insgesamt 8.000 Abschiebungen allein nach Rumänien und Bulgarien, ein Großteil davon während weniger Wochen im Sommer.

Die diesjährige Sommerkampagne der französischen Behörden gegen die im europäischen Vergleich relativ wenigen Roma im Land – in offiziellen Zahlen ist von etwa 15.000 die Rede, von ihnen ein Drittel im nördlich an Paris angrenzenden Bezirk Seine-Saint-Denis – hat also nicht dieselbe Intensität erreicht wie die damalige. Auch war der offizielle Diskurs seitens der Regierung, mit dem die Zwangsräumungen und Abschiebungen begleitet wurden, nicht der gleiche. Damals, vor zwei Jahren, hatten die Spitzenpolitiker im französischen Staat Ende Juli einen Sondergipfel im Elysée-Palast abgehalten, bei dem es ausschließlich um Roma ging sowie um „fahrende Leute“, also französische Sinti, obwohl sich die beiden Gruppen in ihren Lebensbedingungen fundamental voneinander unterscheiden. Zwei Tage später hielt der damalige Präsident Nicolas Sarkozy eine veritable Brandrede, seine „Rede von Grenoble“. Darin behandelte er in einem Aufwasch das vorgebliche „Problem“ in Gestalt der Roma, jenes der „Ausländerkriminalität“ und das der Doppelstaatsbürger – und setzte zum Generalangriff auf alle Minderheiten an, die der Nation angeblich nur Schwierigkeiten bereiteten.

Kein Branddiskurs wie im Jahr 2010, und dennoch Abschiebungen

Von einem solchen Branddiskurs sind die Regierenden in Frankreich heute weit entfernt. Und dennoch ähneln sich die Bilder, dort, wo Menschen nach dem Durchgang des Bulldozers ohne Bleibe und oft auch ohne Hab und Gut auf der Straße sitzen. Sicher, die offiziellen Ankündigungen des amtierenden rechtssozialdemokratischen Innenministers Manuel Valls – den Kritiker oft zum „Sarkozy der Linksparteien“ erklärten, was in seinen Augen eher als Kompliment gilt – klangen nicht genau so wie jene seiner rechten Amtsvorgänger. Am 25. Juli hatte er im Parlament und am 31. Juli bei einer Pressekonferenz hatte er anklingen lassen, er werde „nicht davor zurückscheuen“, illegale Ansiedlungen von Roma räumen zu lassen. Aber, fügte er hinzu, er werde keine zentral gesteuerte Politik diesbezüglich organisieren, um den gesamten Staatsapparat gegen diese Bevölkerungsgruppe zu mobilisieren, wie es nach dem Sondergipfel im Elyséepalast vom 28. Juli vorletzten Jahres vorübergehend der Fall zu sein schien. Er werde lediglich die Konsequenzen aus Gerichtsentscheidungen, dort wo sie Romasiedlungen für illegal erklärten, ziehen und daraus resultierende Räumungsverfügungen dann auch vollziehen lassen.

Es blieb letztendlich nicht ganz bei der Ankündigung. Denn nicht nur, dass sich Anfang August d.J. dann plötzlich binnen weniger Tage die vor laufenden Kameras durchgeführten Räumungen häuften. In manchen Fällen, wie in den letzten Augusttagen in Evry, kam die vom Innenministerium gedeckte polizeiliche Räumung auch einer Justizentscheidung zuvor – in jenem Fall hatte das Gericht noch gar nicht die Zeit gehabt, zusammenzutreten. Evry ist die Stadt, deren Bürgermeister Valls bis zu seinem Einzug in die Regierung im Frühjahr war. Sicherlich ging es gerade dort darum, eine Art Exempel zu statuieren. Tagelang campierten die Roma daraufhin zusammen mit Unterstützern vor dem Rathaus von Evry, um gegen ihre Räumung zu protestieren, und sie waren sich der Symbolkraft dieser Stadt wohl bewusst.

Die Ähnlichkeit der noch unverblassten Bilder von vor zwei Jahren und jetzt war sicherlich teilweise durch Innenminister Valls intendiert. Denn dem Mann, der sich erst im August zum erklärten Ziel setzte, „die Erfolge der Rechtsregierung bei der Inneren Sicherheit zu übertreffen“ – und dies damit begründete, ein rationaleres Herangehen statt der unter Sarkozy vollführten Spektakelpolitik zu praktizieren -, kommen Autoritätsbeweise durchaus gelegen. In einem Interview vom 14. August in Libération antwortete der Innenminister zudem auf jene, die monierten, die Roma würden oft mit der Begründung schlechter hygienischer Verhältnisse in ihren Siedlungen geräumt, es werde ihnen aber keinerlei bessere Alternative angeboten: „Die Lösung liegt vor allem in den Herkunftsländern.“ Also in Südosteuropa, wo die Roma seit langem besonders markanten Diskriminierungen ausgesetzt sind. Auch wenn Valls hinzufügte, „auch in humanitären Aktionen und in dezentralen, kommunalen Initiativen“ in Frankreich können ebenfalls ein Teil der Lösung der für die Roma existierenden Probleme zu finden sein.

Neue Verordnung: Arbeits„erlaubnis“, doch Räumungen bleiben möglich

Im Laufe der Wochen mixte das Regierungslager allerdings unterschiedliche Aspekte, den repressiven und einen eher integrativen, in seiner Politik zusammen. Am 29. August veröffentlichte das Kabinett einen von sechs Ministern, darunter jene für Inneres und für Soziales, unterzeichneten Verordnungstext. Darin werden Zwangsräumungen von Romasiedlungen grundsätzlich nicht ausgeschlossen. Es wird allerdings auch befürwortet, möglichst im Vorfeld eine Konzertration mit den betroffenen Kommunen sowie mit Solidaritätsvereinigungen und NGOs zu suchen, um den betroffenen Menschen eventuell vorab alternative Unterkünfte sichern zu können.

Zudem hebt die Verordnung bisherige Arbeitsmarktbeschränkungen für rumänische und bulgarische Staatsbürger weitgehend auf. Die Staatsangehörigen dieser seit 2007 neu zur EU beigetretenen Ländern hätten normalerweise noch bis Anfang 2014 in Frankreich nur eine begrenzte Anzahl von Arbeitsplätzen, die einer Liste von 150 Berufsbeschreibungen entsprechen, annehmen können. Eine solche Möglichkeit zur teilweisen Abschottung des Arbeitsmarkts gegen die Neubürger der EU hatten sich Frankreich, Deutschland und andere Staaten vor dem EU-Beitritt von Bukarest und Sofia ausbedungen. Die Vereinbarungen erlaubten die Aufrechterhaltung dieses Sonderstatus allerdings nur noch anderthalb Jahre lang; danach schrieb das EU-Recht die Arbeitnehmerfreizügigkeit auch für Rumänen und Bulgaren vor. Nach dem jüngsten Beschluss tritt dieses nun anderthalb Jahre früher in Kraft.

Dadurch könnte ein Teil der sozialen Probleme, denen die Roma als besonders diskriminierte Minderheit überall in Europa ausgesetzt sind, mittelfristig verringert werden: Zum ersten Mal steht ihnen in Frankreich nun der so genannte Arbeitsmarkt offen – sofern sie Staatsangehörige der beiden EU-Länder im Südosten sind, und nicht etwa Serbiens, Montenegros oder des Kosovo. Nicht alle Hürden werden dadurch überwunden sein. Neben Vorurteilen gegenüber Roma oder geringer Schulbildung, die häufig aus der Diskriminierung in Südosteuropa resultiert, tritt eine weitere Schwierigkeit hinzu: Wer keine offiziell anerkannte Adresse vorweisen kann, „darf“ auch nicht sozialversicherungspflichtig arbeiten. Solange also nicht die Siedlungen anerkannt werden, um die Notbehausungen früher oder später festen Häusern weichen zu lassen – wie es nördlich von Paris mancherorts allmählich der Fall ist – und es gleichzeitig für Roma schwer ist, auf „normalem“ Weg eine Wohnung zu finden, bleibt es bei einem Teufelskreis. Zu hoffen bleibt, dass die Feststellung, dass manche Roma kurz- oder mittelfristig nach wie vor keine Lohnarbeit haben werden, nicht dazu führt, die Gruppe erst recht als „erwiesenermaßen arbeits- und integrationsunwillig“ scharf zu stigmatisieren.

Durch die Mischung aus Repression und, jedenfalls vordergründigem, Integrationsangebot auf dem Weg über die Lohnarbeit versucht Valls sich als integrativen, auf Gerechtigkeit und Staatsautorität gleichzeitig aufbauenden Politiker zu präsentieren. Auf anderen Ebenen geriet er unterdessen unter Handlungsdruck. Einmal durch die Anfang August 12 im nordfranzösischen Amiens, infolge als schikanös erlebter polizeilicher Personalienkontrollen, neu aufgeflammten Unruhen in manchen Banlieues. Valls eilte noch während der Ausschreitungen in einem peripheren Viertel vor Ort und versucht nunmehr, seine „vorrangigen Sicherheitszonen“ mit erhöhter Polizeipräsenz, die in nächster Zeit an fünfzehn Orten in Frankreich erprobt werden sollen, als Laboratorien für seine Sicherheitspolitik anzupreisen.

Marseille: Testfeld für politische Forderungen nach „Armeeeinsatz“

Besonders heiß wurde die Lage jedoch in der zweiten Augusthälfte in Marseille, wo in den ärmeren Nordstadtteilen seit Jahresanfang eine Serie von Abrechnungen unter Dealerbanden stattfindet. In Marseille existiert dabei eine regionale Besonderheit, denn anders als in anderen zu Drogensupermärkte verkommenden „sozialen Brennpunkten“ werden solche Streitigkeiten in den Nordvierteln der Stadt seit einigen Monaten mit echten Kriegswaffen ausgetragen. Seit Anfang des Jahres sind 14 Tote durch Schüsse aus Kalaschnikows zu verzeichnen. Der Hauptgrund dafür ist, dass sich zwei geopolitische Einflusssphären von Mafiagruppen dort überschneiden – die der untereinander rivalisierenden italienischen Mafias einerseits, der für Drogennachschub aus Marokko und Lateinamerika sorgenden und expanierenden spanischen Mafia andererseits. Vom Balkan aus wurden Importkanäle für Schusswaffen in Richtung Marseille eröffnet.

Eine sozialdemokratische Bürgermeisterin in den betroffenen Nordvierteln und Senatsabgeordnete, Samia Ghali, forderte Ende August spektakulär den Einsatz der Armee, um für Ruhe zwischen den rivalisierenden Banden zu sorgen. Dies wurde von verschiedener Seite zurückgewiesen, von Präsident François Hollande und Innenminister Valls bis hin zu den Stellungnahmen von konservativer Seite und sogar offiziell vom Front National (wo man parteioffiziell einen Armeeeinsatz für nicht sinnvoll erklärte), auch wenn in manchen rechtsextremen Kreisen nunmehr munter Fantasien über militärische „Lösungen“ verbreitete werden. Tatsächlich kann man sich schwer eine vernünftige Strategie vorstellen, mit der Militärs nicht nur einmalig in solche sozialen Krisenzonen einrücken, sondern diese auch dauerhaft kontrollieren und stabilisieren sollen.

Die Forderung von Frau Ghali ist dabei einerseits als echter empörter Aufschrei zu werten; andererseits machte sie zugleich auch aus taktischen Motiven von sich reden, da sie für die Kommunalwahl von Anfang 2014 erklärte Ambitionen auf den Oberbürgermeistersessel von Marseille hegt. Und da sie als Immigrantentochter bislang nachweislich eher besonders schwer hatte, und zwar auch in ihrer eigenen Partei, kam ihre eine relativ spektakuläre Profilierungsmöglichkeit also nicht eben ungelegen. - Aus mehr oder minder vergleichbaren Gründen hatte der Bürgermeister der (ebenfalls zum Drogensupermarkt gewordenen) Pariser Trabantenstadt Sevran, Stéphane Gatignon, ein früherer „Reformkommunist“ und jetziger Grüner mit verschlungener politischer Karriere, seinerseits im Juni 2011 den Einsatz der Armee bzw. von „Blauhelmen“ in seiner Kommune gegen rivalisierende Dealergruppen lautstark gefordert. (Vgl. http://www.liberation.fr/ und http://www.lefigaro.fr/ ) Allerdings hatte Gatignon, der damals zuvörderst auch durch eine gezielte Provokation eine Debatte initiieren wollte, daneben und parallel dazu auch die Legalisierung von Drogen gefordert, um (was ja durchaus ein sehr richtiger Gedanke ist) den Markt für die auf ihm tätigen Mafiakartelle auszutrocknen. Dadurch eckte er auf der Linken, aufgrund der Sprüche über einen Armeeeinsatz, und auf der politischen Rechten (wg. der Legalisierungsforderung), gleichzeitig an. In der derzeitigen Debatte dagegen hört man von der Marseiller Politikerin Samia Ghali nichts Vergleichbares über eine Legalisierungsforderung zwecks Schädigung der Mafiageschäfte; eine solche vorzutragen, blieb in den letzten Augusttagen d.J. dieses Mal dem radikalen Linken Olivier Besancenot in einer TV-Talkshow vorbehalten.

Manuel Valls hat es nun relativ leicht, durch seine Zurückweisung des Ansinnens auf einen Armeeeinsatz als besonnener Politiker durchzugehen, auch wenn keine größere politische Kraft sich derzeit ernsthaft für einen solchen stark macht. Wie „zum Ausgleich“ setzt er andererseits auf ein Profil als harter Polizeipolitiker. Dem Versprechen François Hollandes als Präsidentschaftskandidat, eine Kennzeichnungspflicht für Polizeibeamte einzuführen sowie schikanösen und auf „ethnische Minderheiten“ abzielenden Kontrollpraktiken einen Riegel vorzuschieben, hat er inzwischen offen den Rücken zugekehrt. Hollands Anregung, die Bewohner von „sozialen Brennpunkten“ sollten bei ihrer ersten Kontrolle an einem Tag eine Art Quittung ausgestellt bekommen, um andere – nicht durch einen konkreten Anlass gerechtfertigte – Personalienfeststellungen in den darauffolgenden Stunden zu vermeiden, wurde inzwischen durch Valls beerdigt. Die Journalistin Rokhady Diallo monierte in einem Gastbeitrag für die linksliberale Pariser Abendzeitung Le Monde vom 30. August 12 (vgl. http://www.lemonde.fr/), in spanischen Regionen etwa habe dadurch die Zahl von missbräuchlichen Kontrollen um zwei Drittel gesenkt und das Verhältnis mancher Bevölkerungsteile zur Polizei befriedet werden können. Im derzeitigen Klima allerdings hat Valls bei seinen Versuchen, den starken Mann samt eingebautem integrativem Profil zu markieren, eher gesellschaftlichen Rückenwind.

 

Editorische Hinweise
Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.