Parmenides im strikten Gegensatz zu Heraklit
Wissenschaft und Weltanschauung in der Antike - Teil IV

von Athanase Joja

08/2019

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1. Prolegomena

Mit Parmenides beginnt eine neue Etappe des griechischen Denkens. Seine Weltanschauung und seine Logik stehen in striktem Gegensatz zur dynamischen Anschauung der Ionier und vor allem Heraklits; sie sind statisch, ersarrt, unbeweglich und werden wesentlich von den Prinzipien der tautologischen Identität und des ausgeschlossenen Widerspruchs bestimmt. Die Ionier und (auf einer höheren Stufe) Heraklit hatten die ursprüngliche, intuitive und im großen und ganzen dialektische Weltanschauung der Griechen philosophisch verarbeitet. Der Kosmos wird von ihnen als ununter­brochener und widersprüchlicher Prozeß angesehen.

Schon Platon weist aber darauf hin, daß Parmenides in der Geschichte der griechischen Philosophie eine Sonderstellung einnimmt, denn der Eleate ne­giert die objektive Dialektik radikal. Platons Meinung über die Stellung des Parmenides ist der Behauptung Heideggers, „Parmenides teilt mit Heraklit denselben Standort"(129), diametral entgegengesetzt.

Obwohl Zeitgenossen, sind Parmenides und Heraklit Antipoden innerhalb der griechischen Philosophie: Heraklit legte den Grund zur Dialektik, in ihrer komplexesten Form (trotz ihrer Abfassung in Aphorismen), Parmenides hin­gegen begründete die Metaphysik (als Methode und Konzeption) in ihrer absoluten Form. Dort die entschiedene Bejahung des Werdens, des immanen­ten Widerspruchs und des Seins als Entwicklungsprozeß, hier die kompro­mißlose Bejahung der tautologischen Identität, der logischen und selbst der ontologischen Unmöglichkeit des Werdens, die Behauptung von der absolu­ten Unveränderlichkeit aller existierenden Dinge. Heideggers These, der-zufolge die beiden griechischen Philosophen dieselbe Aussage getroffen hät­ten, ist paralogistisch, denn sie setzt letztlich die philosophischen Standorte gleich, indem sie einfach davon ausgeht, daß sich die beiden Denker faktisch gleicherweise die Frage gestellt haben: „Was ist Sein?". Es kommt jedoch nicht auf die gleiche Fragestellung, sondern auf deren Beantwortung an; die Antworten aber sind einander völlig entgegengesetzt, weil sie auf verschie­denen Logiken basieren: der dialektischen Logik in nuce bei Heraklit und der formalen Logik in statu nascendi und metaphysisch aufgefaßt bei Par­menides. Heidegger behauptet quasi, alle Philosophen sagten im Grunde das gleiche. Diese Behauptung ist nur richtig in dem Sinne, daß sich alle Philosophen intensiv mit der Frage nach dem Wesen des Seins beschäftigen. Uns interessiert jedoch das Wie, die Art und Weise, wie dieses Wesen auf­gefaßt wird, ob es als materiell oder ideell, dialektisch oder metaphysisch betrachtet wird. Nicht daß „gefragt" wurde, ist von Bedeutung, sondern die Modalität, d. h. die Logik der Frage, mithin die erhaltene Antwort. Die Antworten aber, die die beiden großen Vorläufer der Logik gegeben haben, stehen in formalem Widerspruch zueinander.

Selbst Jean Wahl, ein Bewunderer Heideggers, findet, daß es sehr gewagt sei, Parmenides mit Heraklit gleichzusetzen, selbst dann, wenn man Heideg­gers Hypothese akzeptiert, panta rhei stamme nicht von Heraklit und sei ihm fälschlicherweise zugeschrieben worden.(130) Er räumt vielmehr ein, daß Parmenides im Gegensatz zu Heraklit steht, indem er im Gegensatz zur Ne­gation des Seins bei Heraklit das Sein bejahe.(131) Hier muß jedoch gleich etwas richtiggestellt werden: Heraklit leugnet nicht das Sein schlechthin, son­dern das abstrakte Sein. Er leugnet keineswegs die objektive Realität, son­dern lediglich ihre Interpretation als abstraktes Sein, als reines, vom Nicht-Sein getrenntes Sein. Ebenso muß Wahls These „In der Dichtung des Par­menides finden wir zum ersten Mal philosophische Behauptungen im Hinblick auf das Sein"(132) korrigiert werden. Es empfiehlt sich hinzuzufügen: „.. . im Hinblick auf das abstrakte Sein". In der Tat hat Parmenides ein abstraktes Prinzip der formalen Logik - die tautologische Identität - als ontologische Realität aufgefaßt. Darin liegt seine Originalität, seine Neuheit, seine Ano­malie. Eine im übrigen fruchtbare und dauerhafte Anomalie, da sie zur Ent­stehung der formalen Logik geführt hat.

Das Sein des Parmenides ist ein abstraktes, unveränderliches Sein, weil ungeboren ist es auch unvergänglich, denn es ist ganz in seinem Bau und unerschütterlich sowie ohne Ziel.. ,"133. Dieses Sein, so präzisiert Parmenides, liegt außerhalb der Zeit: „.. . und es war nie und wird nie sein, weil es im Jetzt zusammen vorhanden ist als Ganzes, Eines, Zusammenhängendes (Kontinuierliches)."(134)

„Ungeboren", „unvergänglich", „unerschütterlich", „ewig" - derartige At­tribute passen zu einer Substanz, die als immateriell begriffen wird; die Attribute: „ganz in seinem Bau", „ohne Ziel", „zusammenhängend (konti­nuierlich)" hingegen passen nur zu einer materiellen Substanz. Und das Par-menideische Sein ist tatsächlich materieller Art. Es ist materiell, aber im Gegensatz zum Kosmos Heraklits und zu dem der Ionier ist es durch und durch metaphysisch, ohne Evolution, ohne Entwicklung, unabänderlich und unbeweglich, in Fesseln geschlagen durch dauernden Stillstand und ewige Starrheit.

Konnte Parmenides wirklich glauben, daß die Dinge sich nicht verändern? Daß Jugend, Alter und Tod nichts als Illusionen sind? Und wenn er es ge­glaubt hat, in welchem Sinne dann? Ist er wirklich der Meinung gewesen, es gäbe nichts Besonderes und Individuelles, die Welt sei reine Kontinuität, ein Allgemeines, in dem die Unterschiede, die Verschiedenheiten, die Gren­zen irreal sind, bloße Effekte unserer getäuschten Sinne? Konnte er wirk­lich annehmen, die Materie sei ein permanentes und unveränderliches Sub­strat, ein Träger von Eigenschaften, die erscheinen und wieder verschwinden, während die Substanz „dieselbe", unverändert bleibt? Konnte er wirklid die Bewegung und die Mannigfaltigkeit der Welt leugnen, oder hat er nu die Aufmerksamkeit auf ihre grundlegende Einheitlichkeit und ihre Unzer störbarkeit lenken wollen? Ist er ein anachronistischer Kant gewesen, eil vorsokratischer Kant, der es unter Mißachtung der Phänomene unternom men hat, die Welt des nous zu beschreiben? Oder ist Parmenides vielleich das Opfer seiner eigenen Entdeckung - des Prinzips der abstrakten Identitä und des ausgeschlossenen Widerspruchs - geworden, indem er sie mit eine: Konsequenz anwendete, wie sie später nie wieder erreicht werden sollte?

Das sind wichtige Fragen für die Geschichte der Logik und der Philo sophie; Fragen, die wir uns zu lösen bemühen werden. Die strenge Logil des Parmenides hat alle griechischen Philosophen nach ihm beeindruckt unc sie nachhaltig beeinflußt. Es gibt Philosophen, die gegen ihn polemisiert unc trotzdem in seinem Bann gestanden haben. Das betrifft nicht nur Platon sondern auch Empedokles, Anaxagoras, Demokrit und Aristoteles. In un serem Zeitalter beschäftigt die Philosophie des Parmenides die Philosophie historiker als ein aktuelles Problem. Aber bevor wir uns den verschiedener Aspekten dieses Problems zuwenden, ist es angebracht, den Menschen unc sein Werk in dem Milieu zu studieren, in dem er gelebt hat und in dem seil Werk entstanden ist.

2. Das politische und soziale Milieu

Es war gewiß kein Zufall, daß die Metaphysik ausgerechnet in Elea, alsc in Süditalien, das Licht der Welt erblickte. Die griechischen Kolonien diese Gebietes hatten ein ausgedehntes, landwirtschaftlich genutztes Hinterland Die Städte Kroton und Sybaris zum Beispiel, die von achäischen Koloner gegründet wurden, waren vor allem Ackerbau treibende Kolonien, wenn­gleich sie sich mit der Zeit auch dem Handel zugewandt haben.(135) Bekannt­lich war Kroton der Mittelpunkt des pythagoreischen Mystizismus. Was Syrakus betrifft, das von den Korinthern gegründet wurde, so war es wi( alle anderen griechischen Kolonien auf Sizilien zunächst eine Ackerbau trei­bende Siedlung, in der später auch Handel und Handwerk blühten.(136)

Da die griechischen Kolonien in Süditalien und auf Sizilien inmitten frucht­barer Landstriche lagen, war es nur natürlich, daß sie anfangs einen ausge sprochen rustikalen Charakter besaßen und sich erst viel später dem Hände und dem Handwerk zuwandten, ohne jedoch jemals ihren ländlichen Charakter ganz zu verlieren. Dieser Charakter erzeugte einen statischen, konserva­tiven Geist und eine Neigung zum Mystizismus. Die langsamen Veränderun­gen in dieser Agrargesellschaft, ihre wirtschaftliche und soziale Unbeweglich-keit, ihre Monotonie, die so ganz mit der der bäuerlichen Landschaft übereinstimmt, - all das mußte eine Mentalität hervorbringen, die sich grundlegend von der der Handwerker, Seefahrer und Kaufleute der See­städte Ioniens mit ihrem brodelnden und rührigen Leben unterschied. Wäh­rend die gesellschaftliche Struktur der ionischen Seestädte günstige Voraus­setzungen für die Entstehung, Entwicklung und den Sieg der demokratischen Kräfte schuf, begünstigte die gesellschaftliche Struktur der griechischen Ko­lonien in Süditalien anfangs die Herrschaft der sklavenhaltenden Groß­grundbesitzer. Dieser Umstand erklärt, warum überhaupt die griechische Philosophie die materialistische Dialektik der Ionier und vor allem Hera-klits geschaffen hat und warum in Unteritalien und auf Sizilien die gleiche griechische Philosophie die Antithese zum ionischen Denken, nämlich die Metaphysik, hervorbringen konnte. Diese erschien genau zur rechten Zeit und am rechten Ort, nämlich als Ideologie der Sklavenhalteraristokratie, als konservative und rückschrittliche Ideologie. In ihrem Drang, die beste­hende Klassenherrschaft zu verewigen, ihr die Festigkeit und Starrheit der heimatlichen Berge und Ländereien zu verleihen, bemühte sich diese aristo­kratische Minderheit, sich ein unerschütterliches theoretisches Fundament zu schaffen. Man darf auch nicht den materiellen und geistigen Druck der Ureinwohner unterschätzen, die Bauern waren, und oft, wie zum Beispiel die Etrusker, zum Mystizismus neigten. All das erklärt die metaphysische Orientierung eines Xenophanes, der, aus seiner Vaterstadt Kolophon ver­trieben, auf Sizilien lebte, und es erklärt auch die Blüte des Pythagoreismus in Kroton sowie das Entstehen der Schule in Elea, die den Namen dieser Stadt tragen sollte. Der erkenntnistheoretisch-methodologische Gegensatz zwischen Ioniern und Süditalikern erklärt sich aus dem Unterschied in der gesellschaftlich-politischen Struktur, der zwischen den fraglichen griechischen Poleis bestand.

Die griechischen Philosophen Ioniens waren Physiker (physiologoi) im Gegensatz zu den Italikern, die Metaphysiker waren und das Prinzip der Bewegung leugneten. Der auf Sklavenarbeit basierende Grundbesitz hat spontan die Metaphysik hervorgebracht; ein Beweis dafür ist, daß Platon, der Wortführer der athenischen Sklavenhalteraristokratie, stark von seinem „Vater Parmenides"(137) beeinflußt war, als er seine berühmte Lehre von den unbeweglichen, unveränderlichen und ewigen Ideen ausarbeitete. Das gleiche soziale Ideal, das Parmenides beseelt, diktiert auch die Platonische Ideen­lehre. Gewiß, dies ist nur die gesellschaftliche Seite der Erklärung der eleatischen Philosophie und der Ideenlehre. Es versteht sich von selbst, daß man, um eine vollständige Erklärung geben zu können, auch die Ideenge­schichte, die erkenntnistheoretischen Wurzeln der eleatischen Philosophie und des Platonismus beachten muß. Andernfalls läuft man Gefahr, in den plat­testen Soziologismus abzugleiten. Die Metaphysik ist nämlich nicht nur infolge bestimmter gesellschaftlicher ' Verhältnisse entstanden, sondern sie resultiert vor allem auch aus den Ent­wicklungsgesetzen des Denkens selbst. Das menschliche Denken muß von der ursprünglichen, sinnlichen, naiven und globalen Dialektik zu einer grö­ßeren Bestimmtheit und Beständigkeit und zu einer besseren Abgrenzung der Begriffe und ihrer Relationen in Aussagen und Schlüssen gelangen, und «war durch die Darlegung der Prinzipien der formalen Logik. „Wenn wir", |J*agt Engels, „die Natur, oder die Menschengeschichte, oder unsre eigne «geistige Tätigkeit der denkenden Betrachtung unterwerfen, so bietet sich uns Iftunächst dar das Bild einer unendlichen Verschlingung von Zusammenhän­gen und Wechselwirkungen, in der nichts bleibt, was, wo und wie es war, sondern alles sich bewegt, sich verändert, wird und vergeht. Wir sehen zu­nächst also das Gesamtbild, in dem die Einzelheiten noch mehr oder weniger zurücktreten, wir achten mehr auf die Bewegung, die Übergänge, die Zu­sammenhänge, als auf das, was sich bewegt, übergeht und zusammenhängt. ... Aber diese Anschauung, so richtig sie auch den allgemeinen Charakter des Gesamtbildes der Erscheinungen erfaßt, genügt doch nicht, die Einzel-fheiten zu erklären, aus denen sich dies Gesamtbild zusammensetzt; und j'Solange wir dies nicht können, sind wir auch über das Gesamtbild nicht klar."(138) Die dialektische Anschauung vom Gesamtbild der Erscheinungen feist die der alten griechischen Philosophie und ist zuerst klar ausgesprochen lyon Heraklit. . ."(139), erläutert Engels. Innerhalb dieser Generallinie, der jene griechischen Philosophen folgten, die den Fluß und die Wechselbeziehungen der Dinge vertraten, bilden Par­menides und seine Schule eine Ausnahme. Die Eleaten weisen auf die Not-Wendigkeit hin, von der primitiven, synkretischen Betrachtung zur Analyse, zur Zergliederung des Gesamtbildes überzugehen. Dieser Schritt wurde aller-I dings erst später, in der alexandrinischen Periode vollzogen und ist besonders für die Entwicklung der modernen Wissenschaft im Laufe der letzten vier Jahrhunderte charakteristisch.(140)

Die eleatische Methode war noch nicht geeignet, eine vollständige Ana­lyse der Naturerscheinungen vorzunehmen. Immerhin aber war sie ein Ver­such, zu einer Analyse von Vorstellungen zu gelangen. Sie versuchte zum Beispiel, die Prinzipien der formalen Logik zu formulieren. Und, so para­dox dies auch klingen mag, das Ergebnis dieser Analyse war nicht eine frag­mentarische und pluralistische Vorstellung von der Welt, sondern eine ein­heitliche und immobilistische, derzufolge sich nichts bewege.

Die Art und Weise, die Prinzipien der formalen Logik zu formulieren, war in der eleatischen Schule so methaphysisch wie nur möglich und erinnert in ihrer Art an die archaische Bildhauerei, die jener der klassischen Epoche vorausging und sie präfigurierte. Die Elfenbeinstatuen des Athener Dipy-lon-Friedhofs aus dem 9. und 8. Jahrhundert zum Beispiel sind steif, ohne Leben, tote Silhouetten von unbestimmtem Typ, die vom Gesetz der Fron-talität beherrscht werden und andeutungsweise ausdruckslose Gesten voll­führen.(141) Ebenso verhält es sich mit dem Gedicht des Parmenides, das auf archaische und metaphysische Art und Weise, aber darum nicht weniger ein­drucksvoll die Prinzipien der formalen Logik - abstrakte Identität und aus­geschlossener Widerspruch - präfiguriert. Die eleatische Präfiguration der formalen Logik ist ein echtes Moment in der Genese des analytischen und formalen Denkens. In diesem Sinne, im Sinne eines Schrittes hin zur logischen Analyse und zu begrifflicher Exaktheit, ist das eleatische Denken mit seiner Vorliebe für die Logik und insbesondere für das Problem der Wahrheit -aletheia - eine bedeutsame Errungenschaft; es repräsentiert etwas Neues, es leitet das formal-logische Denken ein. Ohne Zweifel stellt das eleatische Denken auf Grund der Dialektik der Entwicklung des Denkens selbst letzt­lich doch einen mißlungenen Versuch dar, den selbst Platon kategorisch ab­lehnte. Dennoch bemühten sich fast alle griechischen Philosophen, zum „ra­tionellen Kern" dieses Denkens vorzustoßen. Die eleatische Metaphysik war eine notwendige Etappe in der dialektischen Entwicklung des Denkens, eine notwendige, aber schwache Negation der ursprünglichen Dialektik. Sie war letzten Endes ideeller Ausdruck der Produktionsweise und der spezi­fischen Verhältnisse des auf Sklaverei basierenden Grundbesitzes, wie er in den griechischen Kolonien in Unteritalien und auf Sizilien existierte.

Das war also das soziale Milieu, in dem Parmenides lebte und das er geistig verarbeitete. Parmenides war - ebenso wie Thaies, Anaximander, Anaximenes, Pythagoras und Heraklit - auch Politiker gewesen. Aber wäh­rend die Ionier die Wortführer der fortschrittlichen Sklavenhalter waren und Heraklit Wortführer einer Aristokratie mit liberalen Tendenzen, war Par­menides ebenso wie Pythagoras ein Repräsentant der reaktionären Sklaven­halteraristokratie, die der wissenschaftlichen Forschung ablehnend gegen­überstand, an einer Eindämmung der demokratischen Strömung interes­siert und bestrebt war, ihre eigene Klassenvorherrschaft für immer zu konsolidieren. Wie Plutarch berichtet, hat Parmenides „seinem Vaterland die besten Gesetze gegeben, so daß am Ende jedes Jahres die Behörden die Bürger schwören ließen, daß sie an den Gesetzen des Parmenides festhal­ten"(142)- Plutarch sagt wörtlich, „er hat Ordnung geschaffen" in seinem Vater­land. Es steht außer Zweifel, daß Parmenides die Bevölkerung seines Lan­des, Elcas, mit mathematischer Genauigkeit geordnet hat, um sie in Klassen und Kategorien von vollkommener Einheitlichkeit einzuteilen. Und ist er denn nicht der Philosoph, der die Einheitlichkeit mit Leidenschaft vertritt? Eine Einheitlichkeit, beherrscht von einer strengen Disziplin, die wiederum von der Sklavenhalteraristokratie diktiert wird. Platon, ein Politiker par excellence und Wortführer der Sklavenhalteraristokratie, die mit Erfolg von der athenischen Demokratie angegriffen wurde, hat gleichfalls davon ge­träumt, Ordnung in die Bürgerschaft zu bringen, und zwar durch eine rigo­rose Trennung der sozialen Klassen, die den Philosophen, den Hütern der Gerechtigkeit in der Polis, zu- und untergeordnet werden sollten. Mit ande­ren Worten: unabänderliche Trennung der sozialen Klassen. Das erkenntnis­theoretische und logische Ideal, das den Philosophen als Staatsmann leitet, ist in Platons „Staat" das Parmenideische Ideal. In der Tat erklärt Platon, daß nur die Philosophen sind, welche das sich immer gleich und auf dieselbe Weise Verhaltende fassen können.(143)


Die Idee von der Identität und der Unbeweglichkeit ist sowohl charak­teristisch für das Gedicht des Parmenides als auch für die Platonische Ideen­lehre (mit Ausnahme des „Sophistes"). Das gesellschaftliche Fundament für dieses parmenideisch-platonische Streben nach Einheitlichkeit und Gleich­heit ist die Zugehörigkeit zur Klasse der sklavenhaltenden Grundbesitzer. Den Bezug zu Parmenides herstellen hilft, Platon zu begreifen und ihn in die Geschichte der Logik einzuordnen, und umgekehrt, den Bezug zu Platon herstellen hilft, den eleatischen Aristokraten einzuordnen.

3. Das logische Prinzip der abstrakten Identität

Gewiß hatten Parmenides' Vorläufer das Gesetz von der Identität schon verwendet, ohne es jedoch in den Rang eines Prinzips erhoben zu haben. Das objektive Gesetz (das in den Denkprozessen unbewußt angewendet wurde) war noch nicht zum logischen Prinzip gemacht worden. Wenn Hera­klit vom objektiven und subjektiven Logos spricht, besitzt er gewiß Kenntnis von der Identität. Sie wird im Fragment 1 unmittelbar vorausgesetzt. Die „Zerlegung" einer jeden Erscheinung impliziert die Identität der jeweiligen Erscheinung und ihre Einbeziehung in eine Klasse, die dieser Identität ent­spricht. Auch der Ausdruck „... dieselbige für alle Wesen ..." des Frag­ments 30 über den ewigen Kosmos stellt einen unwiderlegbaren Beweis dafür dar, daß Heraklit sich des Gesetzes der Identität bediente. Zugleich bestätigt das gesamte Fragment 30 unsere Behauptung, daß sich Heraklit nicht nur praktisch, instinktiv des Gesetzes der Identität bedient (was nicht sonderlich originell wäre), sondern daß er auch der konkreten Identität (die Gleichheit und Andersartigkeit, Einheit und Identität der Gegensätze voraussetzt) Auf­merksamkeit widmet. Unter diesem Blickwinkel gesehen, überragt Heraklits Originalität diejenige des Parmenides bei weitem. Ebenso verhält es sich mit den Versuchen des Thaies, des Anaximander und des Anaximenes, unter allen Wesenheiten eine grundlegende Identität einzuführen: das Wasser, das Apeiron, die Luft; daher auch die Bemühungen der Pythagoreer, die Dinge auf eine wesenhafte Zahlenidentität zu reduzieren. Alle diese Versuche sind ein Beweis dafür, daß sich das Denken dieser Philosophen mit dem Gesetz der Identität in der Natur beschäftigt hat und daß sie sich allmählich dem logischen Identitätsprinzip näherten. Die Entdeckung des Parmenides ist also keineswegs aus dem Nichts hervorgegangen, sondern war auch zu einem Teil die Frucht der Bemühungen seiner Vorgänger. Dieser Fakt weist darauf hin, daß sich allmählich ein gemeinschaftliches Denken herausbildete und zugleich ein Bedürfnis, das gemeinschaftlich Erarbeitete zu präzisieren und zu individualisieren. Indem die Eleaten das Prinzip verabsolutierten, trugen sie lediglich dem historischen Entwicklungsstand des Erkenntnisprozesses Rechnung und folgten sie dem außerlogischen Impuls der gesellschaftlichen Klasse, der sie angehörten.

Von Heraklit und seinen Vorläufern antizipiert, wurde das Identitätsprin­zip dennoch erst von Parmenides formuliert (und zugleich entstellt, da er es verabsolutierte); darin besteht sein unbestreitbares Verdienst in der Ge­schichte der Logik.

Das Prinzip der Identität und seine negative Form - das Prinzip des Widerspruchs - kommt im Poem des Parmenides klar zum Ausdruck, und es war zweifellos eine große theoretische Leistung, das Prinzip des Widerspruch implizit formuliert zu haben (die explizite Formulierung sollte Aristotele vorbehalten bleiben). Dennoch betreffen die Prinzipien der Identität unc des Widerspruchs nur einen Aspekt des Denkens. Dieser Aspekt ist gewil notwendig, ja unerläßlich, er ist eine conditio sine qua non für das Denken trotzdem bleibt er nur ein begrenzter Aspekt. Tautologisch aufgefaßt, stell sich das Prinzip der Identität jeder wissenschaftlichen Voraussage und da mit dem wissenschaftlichen Denken selbst in den Weg. Kraft dieses Prinzip sind lediglich analytische Urteile möglich, in denen das Prädikat im Subjek schon einbegriffen ist. Auf der Grundlage des eleatischen Prinzips der Iden­tität ist eine Vorhersage nur im Rahmen analytischer Urteile möglich. Was gleich ist, kann nur mit sich selbst gleich sein.

Andererseits, vom Prinzip des Widerspruchs ausgehend - ein Ding kanr nicht zugleich A und Nicht-A sein -, trennt Parmenides Sein und Nichtsein absolut voneinander. Da das Sein ist, ist es mit Ausschließlichkeit, und die Hypothese des Nicht-Seins wird undenkbar: „Denn es ist unmöglich, daß dies zwingend erwiesen wird: es sei Nichtseiendes; vielmehr halte du von diesem Wege der Forschung den Gedanken fern, und es soll dich nicht viel­erfahrene Gewohnheit auf diesen Weg zwingen, walten zu lassen das blick­lose Auge und das dröhnende Gehör und die Zunge, nein mit dem Denken bring zur Entscheidung die streitreiche Prüfung, die von mir genannt wurde."(144)

Parmenides betrachtet die Wahrnehmung nicht als Bindeglied zur objek­tiven Welt, als ein notwendiges Mittel der Information über diese Welt, sondern im Gegenteil so, als betrüge sie den Suchenden mit Bildern, die dem logischen Geist widersprechen. Das Auge sieht nicht, das Ohr ist voller Ge­räusche, die Zunge verrät den Gedanken, so lautet das Urteil des Philo­sophen von Elea über die Wahrnehmung.145 Die metaphysische Vernunft betrachtet sich selbst, sie schließt sich hermetisch von der Wahrnehmung ab und entdeckt in dieser narzißhaften Bespiegelung, daß ihr Abbild nichts wei­ter ist als träge Einheit, Stagnation, Unbeweglichkeit in der Zeit und im Raum. Die metaphysische Vernunft schaut ein vereistes, ausgezehrtes, toten­starres Universum.

Das Ideal der Eleaten ist ein Denken, das nahezu inhaltsleer ist, da es sein eigenes materialistisches Abbild nicht zu sehen vermag, das Angst hat zu fühlen, zu hören, die üppige Fülle der Erscheinungen wahrzunehmen. Die reine, von der Empfindung getrennte Vernunft hat Parmenides zu den unvermeidlichen Folgen eines Narzißmus geführt. Von der Welt der Erschei­nungen isoliert, erweist sich die Vernunft als unfähig, der Erkenntnis eine andere Logik als die der reinen Tautologie zu liefern. Indem Parmenides ein Abbild der Welt konzipierte, das seinen Zeitgenossen überaus ungewohnt sein mußte, war er zugleich gezwungen, Thesen aufrechtzuerhalten, die die heftigsten Kontroversen provozierten. Um andere Denker dazu bewegen zu können, über diese Thesen gemäß der Vernunft zu urteilen, mußte er sich einer ausgefeilten Technik des Argumentierens bedienen.

Länger als zweitausend Jahre trug Heraklit den Beinamen „der Dunkle", und er genoß den Ruf eines leidenschaftlichen Liebhabers von Paradoxien, an die er selbst nicht glaube.(146) Doch selbst er stieß bei seinen Zeitgenossen nicht auf eine solche Ablehnung wie Parmenides, denn ihre Mentalität war noch mit den Resten der primitiven totalen Wahrnehmung behaftet. Daher war Heraklit nicht auf solche schwierigen Beweisführungen angewiesen wie Parmenides; er drückte sich in Aphorismen aus. Er verwandte viel weniger Mühe auf die Argumentation als später der Eleate. Und in dieser Beziehung muß Parmenides' Verdienst anerkannt werden, jenes Verdienst nämlich, die Ebene der Logik betreten zu haben. Wir stimmen ihm nicht zu, wenn es um die Gültigkeit seiner Beweisführung geht. Doch soll ihm die große Mühe nicht abgesprochen werden, die er auf die Definition der Begriffe und auf die Untersuchung ihres inneren Zusammenhangs verwandte.

Gestützt auf die metaphysische Vernunft, entwirft Parmenides ein Bild des Universums, das durch Merkmale charakterisiert ist, die dem Prinzip der tautologischen Identität entsprechen. Das Sein kann keinen Anfang haben, denn das verstieße gegen das Grundprinzip der Identität. Das Sein ist unzer­störbar, denn seine Zerstörbarkeit stieße den Grundsatz um, daß das Sein das ist, was es jetzt ist, und auch das, was es nach einer gegebenen Frist sein würde. Das Sein ist vollständig, in sich existent, denn sonst wäre seine Iden­tität durch die Einführung der Teilung, der Zerlegung, der Individualisie­rung nicht mehr absolut. Das Sein ist statisch, denn die Bewegung ist das Prinzip, das die Identität der Dinge untergräbt. Das Sein ist unendlich, denn nur so ist die Integrität der Identität gewährleistet. Das Sein ist nie gewesen, denn es ist jetzt in der Gegenwart, momentan. Die Zukunft erscheint Par­menides als Negation der Identität. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft im­plizieren das Werden und die Bewegung, somit die Zerstörung der tautologi­schen Identität. Das Sein hat kein Ende; es ist kreisförmig. Es erscheint Parmenides als materielles Abbild der abstrakten Identität, geschützt vor dem Biß des Kommenden. Schließlich ist das Sein ein Ganzes, das nicht in getrennte Teile zerlegbar ist, denn die Teilung würde eine flagrante Ver­stümmelung der Identität bedeuten.

Auf diese Weise beherrscht die tautologische Identität den gesamten Auf­bau der Philosophie des Eleaten. Parmenides hat sich von der allgemeinen dialektischen Natur- und Weltanschauung seiner Vorläufer abgewandt und das Prinzip der Identität entdeckt, und zwar in einer Form, die ebenso em­bryonal wie absolut tautologisch ist. Von seiner eigenen Entdeckung genarrt, glaubte er, das logische Denken entdeckt zu haben, und folgerte, die Natui müsse ebenfalls logisch sein. Er hat vom Standpunkt des Strukturaufbaus Denken und Realität identifiziert. In der gleichen Weise hat er charakteri­stische Züge des metaphysischen Denkens auf die objektive Realität über­tragen. Nach Auffassung der Eleaten hat sich die Physis in eine Meta-physis verwandelt. Doch dies alles war im Grunde nicht das persönliche Aben­teuer eines Parmenides, sondern ein Abenteuer des menschlichen Denkens schlechthin; und nicht nur ein einfaches Abenteuer, sondern eine notwendige Etappe in der Entwicklung des Denkens.

Anmerkungen

129) M. Heidegger, Einführung in die Metaphysik, S. 104.
130) Siehe J. Wahl, Vers la fin de l'ontologie, Paris 1956, S. 102.
131) Siehe J. Wahl, Tratte de Metaphysique, Paris 1957, S. 86.
132) Ebenda, S. 85.
133) H. Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker, Bd. I, 28, fr. 7.
134) Ebenda.
135) Siehe V. V. Struve, D. P. Kallistov, Drevnjaja Grecija, S. 129.
136) Siehe ebenda, S. 116.
137) Siehe Platon, Sophistes, 29, 241.
138) F. Engels, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, S. 202 f
139) Ebenda.
140) Siehe ebenda, S. 203
141) Siehe Ridder und Deonna, L'Art en Grece, Paris 1924, S. 206 ff.
142) Siehe J. Burnet, Die Anfänge der griechischen Philosophie, S. 157.
143) Siehe Platon, Der Staat, VI, 484.
144)  H. Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker, Bd. I, 28, fr. 7. 8.
145)  Siehe Geschichte der Philosophie, Bd. 1, S. 77.
146) Siehe Aristoteles, Metaphysik, r 3. 1005 b 25.
 

Editorische Hinweise

Der Text wurde entnommen aus: Günter Kröber (HG), Wissenschaft und Weltanschauung in der Antike, Berlin 1966, S. 56-67
Athanase Joja war damals Mitglied der rumänischen Akademie der Wissenschaften. Der Beitrag ist eine gekürzte Fassung zweier Aufsätze, die 1960/61 in Rumänien veröffentlicht wurden. Die deutsche Übesetzung besorgten Frau G. Richter und Herr Pomerenke.

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Siehe auch: Teil I - Die Ionischen Naturphilosophen , Teil II - Die Anfänge des wissenschaftlichen Denkens bei den Pythagoreern und Teil III- Heraklit, der Begründer der Dialektik (Abschnitt 1-3) Teil III- Heraklit, der Begründer der Dialektik (Abschnitt 4)