Heraklit, der Begründer der Dialektik
Wissenschaft und Weltanschauung in der Antike - Teil III.1-3

von Athanase Joja

07/2019

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1. Natürliche und soziale Bedingungen

Die naiv-materialistische Anschauung der Milesier, der ideologischen Re­präsentanten eines wichtigen Handelszentrums, rief in den landwirtschaft­lichen Kolonien Süditaliens und insbesondere im oligarchischen Kroton die im wesentlichen idealistische und metaphysische Antwort der Pythagoreer hervor. Nicht zufällig entstanden die pythagoreische Mystik und die eleatische Metaphysik in den griechischen Kolonien in Mittel- und Süditalicn, die ein reiches landwirtschaftliches Hinterland besaßen. Gomperz schreibt über das Poem des Parmenides: „Ödeste Eintönigkeit starrt uns aus den lichtlosen Räumen dieses Gedankenbaus entgegen. Sollte nicht auch der Bau­meister ihren Hauch verspürt haben? Man darf derlei vermuten."(40) Wir wis­sen nicht, ob Parmenides dieses Gefühl hatte, seine Lehre jedoch-die extreme Form einer metaphysischen Weltanschauung - drückt die Mentalität der Klasse der Großgrundbesitzer aus, die versuchte, die geschichtliche Ent­wicklung aufzuhalten, die Herrschaft der ländlichen Aristokratie zu ver­ewigen, die Bewegung zu paralysieren, so wie die Agrarbewegung Italiens im 6. Jahrhundert paralysiert zu sein schien.

Im Gegensatz zur Stagnation und Monotonie des landwirtschaftlichen Hinterlandes herrschte in den ionischen Hafenstädten pulsierendes Leben. In ihnen lebten und wirkten Handwerker, Händler und Seeleute, die den ewig wechselnden Anblick der wogenden See gewohnt waren und deren Denken dem Meere und den fernen Ländern zugewandt war. In den blü­hendsten Hafenstädten, z. B. in Milet oder Ephesus, brachen die progressiven Elemente - Schiffbauer, Händler, Handwerker - in harten Klassenkämpfen schon früh die Macht der Aristokratie. Das Echo dieser Kämpfe ist noch in Heraklits Fragmenten, in den „goldenen Versen" des Pythagoras und im Poem des Parmenides zu vernehmen. Als Folge der oft blutigen Klassen­kämpfe entstand in den ionischen Städten ein neues gesellschaftliches Phä­nomen, welches die Originalität, Tiefe und unvergleichliche Schönheit der griechischen Kultur bestimmte: die Sklavenhalterdemokratie. Mit dem Auf­kommen des demos (als bewußter und organisierter sozialer Kraft) vollzog sich in den unbeweglichen aristokratischen Gesellschaften eine oft drama­tische gesellschaftliche Umwandlung; das Zeitalter der sozialen Unbeweg-lichkeit wurde durch Bewegung und Entwicklung abgelöst. Diese gesell­schaftliche Beweglichkeit, gepaart mit dem Wunsch, die Natur so zu erken­nen, wie sie ist, um sie den Bedürfnissen der Handwerker und Seeleute unterzuordnen, erweckte bei den ionischen Naturphilosophen den Wunsch, den Charakter der Natur, des Wachstums, der Bewegung und Entwicklung der objektiven Realität zu erklären, das ununterbrochene Fließen der Natur in seiner Folge und - bei Heraklit - in seinen nebeneinanderbestehenden Ge­gensätzen und seiner schöpferischen Effektivität zu entdecken. Während Parmenides später sagen wird: „So ist Entstehen verlöscht und verschollen Vergehen"(41), erklärt Heraklit, daß „alles in Veränderung begriffen ist und nichts dauert"(42). Patita rhei, alles fließt - das ist die plastische Vorstellung von der ewigen Bewegung des Meeres.

Herakleitos von Ephesos (ca. 530-470 v. u. Z.) gehörte einer aristokra tischen Familie an, die von König Kodros abstammte. Er war der älteste Sohn des Polyson, aber er verzichtete zugunsten seines Bruders auf den Titel des Basileus. Seine politischen Sympathien gehörten der Aristokratie, obwohl er der reaktionären Aristokratie seiner Stadt nicht in allem beipflichtete. Sein Antidemokratismus widerspiegelt die Schärfe des Kampfes zwischen Demo­kraten und Aristokraten, wenn er erklärt: „Einer gilt mir zehntausend, falls er der Beste ist."(43) Und selbstverständlich sind für ihn die Besten - aristoi - die Aristokraten. Nachdem die demokratische Partei Heraklits Freund Hermo­doros verbannt hatte, äußerte er empört: „Recht täten die Ephesier, sich Mann für Mann aufzuhängen alle samt und den Nicht-Mannbaren ihre Stadt zu hinterlassen, sie, die Hermodoros, ihren wertvollsten Mann, hinaus­geworfen haben mit den Worten: Von uns soll keiner der wertvollste sein oder, wenn schon, dann anderswo und bei andern."(44) Gleichzeitig tadelte Heraklit allerdings die Tendenz der Aristokratie, das Rad der Geschichte zurückdrehen, die Gentilordnung restaurieren zu wollen. Heraklit trat für die Entwicklung der Polis ein. „Dem alten Gewohnheits­recht, das die reaktionäre Aristokratie für ein ,von Gott festgesetztes' Recht ausgab, setzte Heraklit das Gesetz (Nomos) des Sklavenhalterstaates ent­gegen. Dieses geschriebene Recht stellte im Vergleich zu dem Gewohnheits­recht einen gewissen Schritt nach vorn dar."(45)

Heraklit war ein liberaler Aristokrat, dessen Sensibilität und Beobach­tungsgeist durch die ionische materialistische Tradition und durch die häu­figen politischen Veränderungen in Ephesus und ganz Ionien entwickelt wor­den waren. Das befähigte ihn dazu, die transformistischen Thesen der Mi-lesier zusammenzufassen, sie auf eine höhere Stufe zu heben und in einen umfassenden Standpunkt einzufügen, in dem der Kampf der Gegensätze zur Quelle der universellen Bewegung wird. Heraklit steht an einem Kreuzweg, an dem das globale und unentwickelte dialektische Denken der archaischen Gesellschaft sich vom „logischen" Denken trennt, in dem die Gesetze und Kategorien der formalen Logik sich herausbilden, in dem sich die logische Abstraktion vom Sinnlich-Konkreten absondert. Heraklit ähnelt dem zwei­gesichtigen Janus. Tiefer als bei anderen dieser frühen „Weisheitssucher" reichen seine Wurzeln in die Vergangenheit, in das prälogische Bewußtsein, in das logische Denken, das die Einheit und den Fluß der Dinge reflektiert, zurück; zugleich aber ist er ein Vorläufer der dialektischen Methode. Er überbot die logischen Möglichkeiten der nachfolgenden Generationen in sol­chem Grade, daß zwei der größten Philosophen, Aristoteles und Piaton, unfähig waren, ihn zu verstehen, und ihn mit Sarkasmen überhäuften; in der Folgezeit bekam er den Beinamen „der Dunkle". Heute betonen einige Philo­sophiehistoriker seinen Zusammenhang mit den Anfängen des Denkens: sie möchten ihn eher als religiösen Geist denn als Wissenschaftler gelten lassen und übergehen seine Bedeutung für das moderne Denken.(46) Es muß von Anfang an deutlich gesagt werden, daß Heraklit keinesfalls ein religiöser Geist war, sondern ganz im Gegenteil Materialist. Burnet protestiert zu Recht gegen die Tendenz, „sein System ,im Licht der Mysterienidee' zu be­trachten"(47). Heraklit lehnte die Religion und die Mysterien, wie sie dieOrphi-ker und Pythagoreer zu verbreiten trachteten, ab.

2. Die Materialität der Welt

„Diese Welt, dieselbige von allen Dingen, hat weder der Götter noch der Menschen einer gemacht, sondern sie war immer und ist und wird immer sein ein ewig lebendiges Feuer, nach Maßen sich entzündend und nach Maßen erlöschend."(48) Lenin meint zu diesem Fragment: „. .. eine sehr gute Darlegung der Prinzipien des dialektischen Materialismus"(49). Wir verstehen „kosmos" nicht als „Weltordnung" (Diels, Gomperz), sondern einfach als „Welt", weil es selbstverständlich ist, daß für Heraklit die Welt eine Ord­nung darstellt. Wir übersetzen das Folgende auch nicht mit: „die dieselbe für alle ist" (Burnet, Rey), sondern interpretieren es als „einheitlich", d. h., sie ist dieselbe in bezug auf Struktur und Substanz (Material) aller Erschei­nungen. Lenin notiert Lassalles Übersetzung: „Die Welt war, ist und wird sein immerwährendes Werden, beständig, aber in wechselndem Maß, aus dem Sein in (prozessierendes) Nichtsein und aus diesem in (prozessierendes) Sein umschlagend", und charakterisiert diese Hegelianisierung Heraklits: „Ein vortreffliches Beispiel, wie Lassalle Heraklit ins Hegeische verballhornt, das Lebendige, Frische, Naive, die historische Geschlossenheit Heraklits durch Hineinzwängen ins Hegeische verdirbt."(50)

Das ewig lebendige Feuer ist eine materielle Substanz und kein ideeller Prozeß, wie es selbstredend Hegel und nach ihm Lassalle interpretierte, der den glänzenden Repräsentanten der griechischen spontanen Dialektik (als der er von Marx, Engels und Lenin angesehen wird) in einen nebulösen idealistischen Dialektiker verwandelte.

Das Feuer ist eine materielle Substanz, wie das Wasser bei Thaies, das Apeiron bei Anaximander und die Luft bei Anaximenes. Heraklit wählte das Feuer, weil es, wie ihm schien, größere Beweglichkeit besaß als die an­deren, weil es feiner war und sich leicht in alle Dinge verwandeln konnte, wie auch alle Dinge sich in Feuer verwandeln: „Wechselweiser Umsatz: des Alls gegen das Feuer und des Feuers gegen das All, so wie der Waren gegen Gold und des Goldes gegen Waren."(51)

Fragment 31 unterstützt diese Interpretation: „Feuers Umwende: erstens Meer, vom Meere aber die eine Hälfte Erde, die andere Hälfte Glut­hauch."(52) Zur Unterstützung der - evidenten - These, daß Feuer eine Sub­stanz ist, verweist Burnet auf Aristoteles, Metaphysik A 3, 984 a. Burnet verwirft die Interpretation des Feuers als „Symbol"(53). Rey und auch Robin deuten das Feuer ebenfalls als materiell.

Wie wir weiter oben feststellten, existierte der Begriff des Immateriellen in dieser Zeit noch nicht. Die pythagoreische Zahl war anfänglich materiell. Sie wurde erst später ideell, und als das geschah, ging es im Grunde schon nicht mehr um Zahlen, sondern um das, was die Zahlen nachahmte. Heraklit betrachtete die Seele (psyche) als etwas Materielles: er identifizierte sie mit einem trockenen Glanz; die trockene Seele, ohne jede Feuchtigkeit, ist die weiseste. „Für Seelen ist es Tod Wasser zu werden, für Wasser aber Tod Erde zu werden. Aus Erde aber wird Wasser und aus Wasser Seele."(54)

Psyche ist vielleicht, wie Erwin Rohde sagt, „körperlos"(55), in dem Sinne, daß sie kein organisierter Körper ist und daß man sie, wie auch den Rauch, nicht fassen kann, aber sie ist nicht immateriell, denn sie ähnelt dem Rauch, hat alle Züge der Verstorbenen und nur Nahrung gibt ihr die gewöhnlichen Kräfte zurück. Die Physiologisten, bemerkt Rohde, behaupteten - im Gegen­satz zur orphischen Mystik - nicht die Unsterblichkeit der Seele, denn für sie ist die Seele nur die inhärente Kraft der Materie.(56) In bezug auf Heraklit bemerkt Rohde: „In der Lehre des Heraklit von Ephesus tritt stärker als bei den älteren Ioniern in der unlöslich gedachten Verbindung von Stoff unc Bewegungskraft die lebendige Kraft des Urwesens hervor, des All und Einen aus dem durch Verwandlung das Viele und Einzelne entsteht. Jenen gilt dei Stoff, bestimmt benannt oder nicht nach einer einzelnen Qualität bestimmt, wie selbstverständlich zugleich als belebt und bewegt. Bei Heraklit ist dei Urgrund aller Mannigfaltigkeit der Bildungen die absolute Lebendigkeit, die Kraft des Werdens selbst, die zugleich als ein bestimmter Stoff, oder einem der bekannten Stoffe analog gedacht ist."(57) Psyche und Feuer, sagt Rohde, sind „Wechselbegriffe"58. Wenn ein Mensch stirbt, wird seine Seele aus Feuer zu Wasser, dann zu Erde.59 So ist die Welt materiell, und die Seele selbst ist materiell und sterblich; ewig ist nur die Materie in ihrer Bewegung, das Feuer ist ewig lebendig.

3. Universalität und Doppelsinnigkeit des Logos

Haben sie nicht mich, sondern den Sinn vernommen, so ist es weise, dem Sinne gemäß zu sagen, alles sei eins."(60)

In Fragment 2 konkretisiert der Ephesier: „Drum ist es Pflicht, dem Ge­meinsamen zu folgen. Aber obschon der Sinn gemeinsam ist, leben die Vielen, als hätten sie eine eigene Einsicht."(61) Deshalb macht Heraklit einen Unter­schied zwischen dem „universellen Logos" und dem „persönlichen Denken". Das „persönliche Denken" ist dasjenige, welches durch Gefühle, Leiden­schaften und den Hausgebrauch der Dinge beschränkt ist. Es ist ein Denken, welches das in der Wirklichkeit Vereinte trennt und in Fragmente zerreißt, ein zersplitterndes Denken, das die Einheit vieler Elemente nicht als Kos­mos, Ordnung und Einheit begreift.

Es ist ein Denken, welches nicht versteht, daß das Wesen dieser Einheit nicht Monotonie und Unbeweglichkeit ist, sondern im Gegenteil, die Anti­nomie der Gegensätze. Es ist, mit einem Wort, ein metaphysisches Denken. Heraklit tritt offen gegen das metaphysische Denken des Pythagoras und des Xenophanes auf: „Vielwisserei lehrt nicht Verstand haben. Sonst hätte sie's Hesiod gelehrt und Pythagoras, ferner auch Xenophanes und Hekataios."(62) Der Angriff auf Pythagoras wiederholt sich in Fragment 129 (63), in welchem  er Vielwisserei und Pseudogelehrtheit, das Sammeln von widerspruchsvollen Informationen und Betrügerei kritisiert. Was ist für Heraklit bei Pythagoras unannehmbar? Es sind die trockenen, undialektischen Bestimmungen der Substanz, das Fehlen der Bewegung. Was schien ihm bei Xenophanes un-annehmbar? Besonders sein Eleatismus. Indem Heraklit das „persönliche Denken" von Pythagoras und Xenophanes zurückweist, verurteilt er die methaphysische Denkweise und die statische Weltvorstellung (beim ersten nur antizipiert, beim letzteren voll entwickelt).

Die universelle Weltvernunft ist der Gegensatz des „persönlichen Denkens"; sie ist Weisheit; sie gibt uns die authentische Vorstellung von der Welt.

Eins nur ist das Weise, sich auf den Gedanken zu verstehen, als welcher alles auf alle Weise zu steuern weiß"(64), erklärt Heraklit. Die Realität ist ein universeller, unabhängiger Zusammenhang, eine Einheit. Fragment 41 ergänzt Fragment 50: alles sei eins.(65) So lehrt uns die „universelle Welt­vernunft" die Einheit und den Zusammenhang alles Existierenden. Noch mehr, sie lehrt uns, „daß alles geschieht auf Grund von Zwist und Schuldig­keit"(66); „das Eine... gehe, eben indem es auseinandergehe, mit sich selber zusammen"(67).

Infolgedessen proklamiert die universelle Weltvernunft:

  • die Einheit und Mannigfaltigkeit der Erscheinungen;

  • die Selbstunterscheidung, Selbstbewegung der Erscheinungen;

  • den Kampf der Gegensätze als Quelle der universellen Bewegung.

Mit einem Wort, die „universelle Weltvernunft" - als dem „persönlichen Denken" entgegengesetzt - ist die dialektische Denkweise, die uns eine dialektische Welt enthüllt.

Wir meinen, daß dies der wirkliche Sinn der Ausdrücke „universelle Welt­vernunft" (logos xynos) und „persönliches Denken" (idia phronesis) ist. Eine aufmerksame Betrachtung dieser Termini Heraklits in ihrem Kontext läßt in dieser Hinsicht keinen Zweifel aufkommen.

Anaximander dachte dialektisch und entwickelte ein in hohem Grade dialek­tisches Weltbild; Heraklit jedoch war der erste, bei dem der Begriff der dialektischen Denkweise erscheint und der einen klaren logischen und me­thodologischen Unterschied zwischen Dialektik und Metaphysik machte. Dies ist zweifellos ein bedeutsamer Moment in der Geschichte des Denkens, ein außergewöhnlicher Moment im Kalender des menschlichen Denkens. Des­halb schreibt Hegel: „Hier sehen wir Land; es ist kein Satz des Heraklit, den ich nicht in meine Logik aufgenommen."(68) Die „Wissenschaft der Logik" ist die Explikation der Aphorismen Heraklits, allerdings ohne dessen Ma­terialismus.

Heraklit entdeckte den dialektischen Logos. Was aber bedeutet „logos" bei ihm? Wir finden die Antwort in Fragment 1: „Für der Lehre Sinn (logos) aber, wie er hier vorliegt, gewinnen die Menschen nie ein Verständnis, weder ehe sie ihn vernommen noch sobald sie ihn vernommen. Denn geschieht auch alles nach diesem Sinn, so gleichen sie doch Unerprobten, so oft sie sich er­proben an solchen Worten und Werken, wie ich sie erörtere, nach seiner Na­tur ein jegliches zerlegend und erklärend, wie es sich verhält. Den anderen Menschen aber bleibt unbewußt, was sie nach dem Erwachen tun, so wie sie das Bewußtsein verlieren für das, was sie im Schlafe tun."(69)

In diesem Fragment versteht Heraklit unter „logos" den subjektiven Logos (das dialektische universelle Denken), der den objektiven Logos widerspie­gelt, also einen Logos der Begriffe als Reflexion des Logos des Existierenden. Ursprünglich existiert jedoch der objektive Logos. Er existiert in der Natur, ist ihr Gesetz, weil alles gemäß diesem Logos, dieser Weltvernunft, diesem seinen Grund, diesem seinen Gesetz geschieht. Es ist offensichtlich, daß hier „logos" Vernunft, Grund, Grundlage, Gesetz der Dinge der objektiven Welt bedeutet. „Logos" bedeutet bei Heraklit also sowohl die objektive Dialektik als auch die subjektive Dialektik.

Dieser universelle und dialektische Logos hat eine ewige Existenz, denn er ist objektiv. Wenn Heraklit erklärt, daß „diese Welt ewig ist", meint er, daß die Gesetzmäßigkeit der Welt ewig ist. Aber die Doppelsinnigkeit des Begriffs, der die strukturelle Identität des Objektiven und Subjektiven widerspiegelt, zeigt sich sofort. Wenn Heraklit vom „Logos, demgemäß alles geschieht" spricht, bezieht er sich auf die objektive Dialektik; spricht er jedoch vom „Vernehmen" des Logos, so bezieht er sich auf die subjektive Dialektik, auf das Denken, das die objektive Realität widerspiegelt. Die Bedeutungen überschneiden sich; das wird besonders aus dem Anfang des Fragments deutlich.

Xynos logos erhebt sich zur Universalität, zum Wissen von den objektiven Gesetzen (logos); er konzentriert sich nicht auf die Dinge, die irgendwie nebeneinander existieren, nicht auf ihre isolierten Aspekte und Seiten, son­dern auf die Bewegungsgesetze der Dinge. Das dialektische Denken erhebt sich nicht zum abstrakten, toten, unreinen, unvollständigen Allgemeinen, das nur eine Stufe zur Erkenntnis des Konkreten ist.(70) Das konkrete Allgemeine schließt in sich den Reichtum des Besonderen und Einzelnen ein. Nur da­durch, daß es konkret ist, deckt dieses Allgemeine die Zusammenhänge, Be­ziehungen, Gesetze, die Bewegung, die Dynamik, die Dialektik des Existie­renden auf.

Für die ersten „Weisheitssucher", für die Vorsokratiker im allgemeinen, ist das Subjektive (das die Nabelschnur, die es mit dem Objektiven verbin­det, noch nicht zerrissen hat) nicht wesentlich vom Objektiven unterschieden, es besitzt letzten Endes dieselbe Natur, da alles dem Wesen nach eine Um­wandlung des Feuers ist. Der Geist wird als Form des Feuers betrachtet, und wenn die feurige Seele zu Wasser wird, stirbt sie. Die klare Unterschei­dung zwischen Körper und Geist gehört einer späteren Epoche an. Die Ein­heit von Denken und Existierendem, die Identität beider bei Heraklit -denn Denken ist Feuer - bestätigt, daß das Denken die natürliche Funktion hat, die objektive Realität widerzuspiegeln. Diese Einheit erklärt, weshalb dem Logos eine doppelte Bedeutung zukommt, daß er einerseits die Ver­nunft des Kosmos bedeutet, die sich andererseits in der substantiell identi­schen Vernunft des Menschen reflektiert. Sie erklärt, daß der Terminus „Lo­gos" sowohl einen objektiven als auch einen subjektiven Sinn hat. Diese semantische Symbiose folgt daraus, daß der Logos im Sinne von „Wort" letztlich rationales Wort, nicht einfach epos wurde, daß er Vernunft, Kal­kulation, Proportion, Basis, Grundlage wurde - in derselben Weise wie auch ratio zuerst Entsprechung, Berechnung, Kalkulation bedeutete. Das Wort scheint rational zu sein, wenn es die Logik der Dinge ausdrückt. Die Grie­chen haben schon früh beobachtet, daß in den Dingen eine Logik existiert (Anaximander), ein Logos, den der subjektive Logos nachahmt, indem er so Vernunft, Logik wird. Über die Vorsokratiker kann gesagt werden, daß für sie die Außenwelt par excellence existierte. „Von denjenigen nun, die zuerst philosophiert haben, hielten die meisten die materiellen Prinzipien ausschließlich für die Prinzipien aller Dinge."(71) So betrachteten sie, nach Aristoteles' Zeugnis, nur die Objekte (ta onta) und waren der Meinung, daß nur die Materie existiere. In dieser bewegten Materie beobachteten sie die Existenz einer Ordnung und Logik, und aus dieser objektiven Logik leiteten sie die subjektive Logik ab.

Das „persönliche Denken" deckt die Wahrheit nicht auf, sondern verbirgt sie. Außerdem: „Die Natur (das Wesen) liebt es sich zu verbergen."(72) Des

halb sagt Heraklit auch: „Unsichtbare Fügung ist stärker als sichtbare"(73), weil hinter der Erscheinung die ursprüngliche Natur, der Grund, die Ver­nunft, der Logos der Dinge verborgen ist. Wie Demokrit später sagt: „... denn in der Tiefe liegt die Wahrheit"(74). Die Wahrheit - aletheia - ist das Aufdecken dessen, was sich hinter den Erscheinungen verbirgt. Das Wort „aletheia" hat im Griechischen einen pathetischen Inhalt, der im Lateinischen „vetritas", im Deutschen „Wahrheit" oder im Englischen „truth" nicht zu fin­den ist. Aletheia bezeichnet die mühevolle Anstrengung des Menschen, das verborgene Wesen ans Licht zu bringen; das negierende Alpha negiert das Verbergen und Vergessen (lethe) des Wesens, das es liebt, sich in der Tiefe zu verbergen. Aletheia ist das Ende der Vergessenheit, in die das Wesen, das Gesetz, der Logos gerät. Aletheia verbirgt sich, wie das Gold in der Erde: „(Denn) die Goldsucher graben viel Erde und finden wenig."(75) Es ist das Gold, welches das „universelle Denken" entdeckt; es ist dialektisch.

Worin besteht nach Heraklit die Wahrheit der existierenden Dinge? Was ist der Logos des Existierenden, der durch das dialektische Denken reflek­tiert wird - xynos (dialektikos) logos? Zunächst wird, wie wir oben gesehen haben, die Materialität der Welt durch die Gesetze beherrscht. Von diesen Gesetzen scheint bei Heraklit eines fundamental zu sein, das sie als Quelle der endlosen Bewegung des Universums verallgemeinert. Das ist die Selbst­unterscheidung der Einheit, die sich zur Antinomie der Gegensätze entwickelt.


Anmerkungen

40) Th. Gomperz, Griechische Denker, Bd. 1, Berlin und Leipzig 1922, S. 149.
41) H. Diels, Die Fragmente der Vorsokratikcr, Bd. I, 28, fr. 7. 8.
42)
W. Capelle, Die Vorsokratiker, S. 132, Fußnote 1.
43) H. Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker, Bd. I, 22, fr. 49.

44) Ebenda, Bd. I, 22, fr. 121.
45) Geschichte der Philosophie, Bd. 1, S. 72.

46) Siehe G. Milhaud, Les Philosophes geometres de la Grece, 1933, S. 77.
47) J. Burnet, Die Anfänge der griechischen Philosophie, S. 154.
48) W. Capelle, Die Vorsokratiker, S. 142. Diels übersetzt (fr. 30): „diese Weltordnung,
dieselbige für alle Wesen . . ."; Gomperz: „Diese einheitliche Ordnung aller Dinge
(= die Welt)"; Burnet und Rey: „Diese Welt, die die gleiche für alle ist . . ."; in
einer Fußnote hierzu schreibt Burnet, es „muß hier ,Welt' heißen, nicht einfach .Ord-
nung', denn nur die Welt konnte mit Feuer identifiziert werden" (J. Burnet, Die An-
fänge der griechischen Philosophie, S. 118).
49) W. I. Lenin, Konspekt über Lassalles Buch über die Philosophie des Herakleitos. In: W. I. Lenin, Werke, Bd. 38, S. 331.
50) Ebenda, S. 332.
51) H. Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker, Bd. I, 22, fr. 90.
52) Ebenda, Bd. I, 22, fr. 31.
53) Siehe J. Burnet, Die Anfänge der griechischen Philosophie, S. 131.
54) H. Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker, Bd. I, 22, fr. 36.
55) E. Rohde, Psyche, Bd. 1, Tübingen 1921, S. 3.
56) Siehe ebenda, Bd. 2, S. 143.
5
7) Ebenda, S. 145.
58) Ebenda, S. 146.
58) Ebenda, S. 149.
60) H. Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker, Bd. I, 22, fr. 50.
61) Ebenda, Bd. I, 22, fr. 2.
62) Ebenda, Bd. I, 22, fr. 40.
63) Ebenda, Bd. I, 22, fr. 129, H. Diels rechnet es zu den zweifelhaften. Auf jeden Fall entspricht sein Inhalt den Anschauungen Heraklits.

64)  Ebenda, Bd. I, 22, fr. 41.
65) Ebenda, Bd. I, 22, fr. 50.
66) Ebenda, Bd. I, 22, fr. 80.
67) Platon, Das Gastmahl, 187 A.

68) Siehe W. I. Lenin, Konspekt zu Hegels „Vorlesungen über die Geschichte der Philo­sophie", S. 248.
69) H. Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker, Bd. I, 22, fr. 1.
70) Siehe W. I. Lenin, Konspekt zu Hegels „Vorlesungen über die Geschichte der Philo-
sophie", S. 267.
71) Aristoteles, Metaphysik, A 3. 983b 7-8.
72) H. Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker, Bd. I, 22, fr. 123.
73) Ebenda, Bd. I, 22, fr. 54.
74) Ebenda, Bd. II, 68, fr. 117.
75) Ebenda, Bd. I, 22, fr. 22.



 

Editorische Hinweise

Der Text wurde entnommen aus: Günter Kröber (HG), Wissenschaft und Weltanschauung in der Antike, Berlin 1966, S.28-37
Athanase Joja war damals Mitglied der rumänischen Akademie der Wissenschaften. Der Beitrag ist eine gekürzte Fassung zweier Aufsätze, die 1960/61 in Rumänien veröffentlicht wurden. Die deutsche Übesetzung besorgten Frau G. Richter und Herr Pomerenke.

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Siehe auch: Teil I - Die Ionischen Naturphilosophen und Teil II - Die Anfänge des wissenschaftlichen Denkens bei den Pythagoreern