Wer sind „die Palästinenser*innen“?(1)
Zur Kritik des anti-leninistischen „Volks“-Diskurses(2)


Offener Brief an die Revolutionäre Internationalistische Organisation (RIO)

 

8/2017

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onlinezeitung

Der Marxismus ist unvereinbar mit dem Nationalismus, mag dieser noch so ‚gerecht’, ‚sauber’, verfeinert und zivilisiert sein.“

LW 20, 19

Die kommunistische Partei [muß …] auch in der nationalen Frage […] ausgehen: […] zweitens von einer klaren Herauslösung der Interessen der unterdrückten Klassen, der Werktätigen, der Ausgebeuteten, aus dem allgemeinen Begriff der Volksinteressen schlechthin, der die Interessen der herrschenden Klasse bedeutet“.

LW 31, 133


Wir hatten bereits im vergangenen Jahr – aus Anlaß eines Interviews mit der Gruppe F.O.R. Palestine – gemeinsam einen LeserInnenbrief an die Revolutionäre Internationalistische Organisation (RIO) bzw. deren Web-Zeitung KLASSEGEGENKLASSE(3) geschrieben (s. Anhang), der leider weder veröffentlicht noch beantwortet wurde. In den letzten Tagen wurden nun auf https://www.klassegegenklasse.org/ zwei weitere Artikel zum Israel/Palästina-Konflikt veröffentlicht.

Wir nehmen dies zum Anlaß unseren damaligen LeserInnenbrief nunmehr selbst zu veröffentlichen und einige zusätzliche kritische Anmerkungen zu machen.

Der erste dieser beiden neuen Artikel beginnt mit der von uns – mehr oder minder – geteilten These: „Unterstützen wir [...] die Hamas? Auf keinen Fall. Denn diese Partei schließt die Hälfte der Bevölkerung vom Kampf aus.“ Mit der „Hälfte der Bevölkerung“ dürften die palästinensischen Frauen gemeint sein; wir möchten hinzufügen, daß die Politik von Hamas auch nicht zum Vorteil der lohnabhängigen und anderer PalästinenserInnen ist. Trotzdem wird Hamas von einem Großteil der PalästinenserInnen unterstützt. Dies ist zwar nicht sonderlich erstaunlich, denn auch hier wählen viele Lohnabhängige AfD, Union und SPD, obwohl deren Politik nicht zum Vorteil der Lohnabhängigen ist; und viele Frauen wählen CDU und SPD, obwohl deren Politik nicht oder nur sehr begrenzt zum Vorteil von Frauen ist.

Erstaunlich ist allerdings, daß Ihr trotzdem so pauschal von „die Palästinenser*innen“ und „dem palästinensischen Volk“ (s. FN 1 und 2) sprecht. Sprecht Ihr genauso pauschal vom deutschen, französischen, russischen oder – in dem Fall: rückblickend – sowjetischen Volk?! Kennt Ihr auf einmal keine Klassen mehr?

Deshalb und da Ihr Euch als LeninistInnen versteht, und wir ebenfalls große Stücke auf Lenin halten, möchten wir im Folgenden an einige grundlegende leninsche Positionen (die wir im übrigen für richtig halten) zur sog. „nationalen Frage“ zu erinnern:

(1.) MarxistInnen sind keine NationalistInnen (s. das erste unserem Text vorangestellte Lenin-Zitat).

(2.) Der Kampf gegen „nationale Unterdrückung […] ist in der Hauptsache eine negative Aufgabe. Weiter aber darf das Proletariat [...] nicht gehen, denn dann beginnt die ‚positive’ (bejahende) Tätigkeit der nach Stärkung des Nationalismus strebenden Bourgeoisie.“ (LW 20, 19 f. – erste Hv. von uns; zweite Hv. i.O.)

(3.) Der „allgemeinen Begriff der Volksinteressen schlechthin [… bedeutet] die Interessen der herrschenden Klasse“ (unsere Hv.); daher sind aus dem Begriff des „Volksinteresse[s]“ die „Interessen der unterdrückten Klassen, der Werktätigen, der Ausgebeuteten“ herauszulösen (s. das zweite unserem Text vorangestellte Lenin-Zitat).

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Nun macht Ihr geltend (4), daß Lenin (trotzdem) von „der unterdrückten und der unterdrückenden Nation“ sprach (LW 22, 149). In der Tat sagte Lenin dies, und er sagte darüber hinaus in dem von uns bereits zitierten Text, daß außer von der Klassenspaltung der Völker auch auszugehen sei, „von einer ebenso klaren Unterscheidung zwischen unterdrückten, abhängigen, nicht gleichberechtigten und unterdrückenden, ausbeutenden, vollberechtigten Nationen“ (LW 31, 133).

Soweit d’accord – mit Euch, mit Eurer Lenin-Lesart – und mit Lenin sowieso. Aber was heißt dies?

Es heißt allein: Weil es „nationale Unterdrückung“ / weil es national „unterdrückte […] Nationen“ gibt, gibt es (kann es geben) demokratische Forderungen gegen „nationale Unterdrückung“ – und diese sind von MarxistInnen zu unterstützen: Es ist „die unbedingte Pflicht“ von MarxistInnen, „auf allen Teilgebieten der nationalen Frage den entschiedensten und konsequentesten Demokratismus zu verfechten“ (LW 20, 19).

Dies hebt aber weder die Klassenspaltung (noch die – von Euch in Eurer Hamas-Kritik zurecht erwähnte – Geschlechterspaltung) der Völker auf, noch ändert es etwas daran, daß die demokratischen Forderungen auf dem Gebiet der sog. „nationalen Frage“ „in der Hauptsache [...] negative[n]“ Charakter haben (LW 20, 19 f. – unsere Hv.): Die „nationale Unterdrückung“ soll aufhören. Damit dies durchgesetzt werden kann, ist im Extremfall die nationale Lostrennung notwendig und dann von MarxistInnen zu unterstützen. Aber: Während LeninistInnen in jedem Fall das Recht auf nationale Lostrennung befürworten, sind sie nicht in jedem Fall für dessen Ausübung.(5) Dies heißt konkret, daß z.B. eine Volksabstimmung über eine Lostrennung stattfinden können soll, aber daß MarxistInnen, wenn diese dann stattfindet, u.U. gegen die Lostrennung stimmen, wenn sich denn die „nationalen Unterdrückung“ auch ohne Lostrennung beenden läßt. Denn:

„Das Ziel des Sozialismus ist nicht nur Aufhebung der Kleinstaaterei und jeder Absonderung von Nationen, nicht nur Annäherung der Nationen, sondern auch ihre Verschmelzung.“ (LW 22, 148),

so heißt es gerade in dem von Euch (!) zitierten Lenin-Text.

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Aus alledem folgt unseres Erachtens:

  • LeninistInnen stellen sich auch in nationalen Konflikten nicht pauschal auf die Seiten von „Völkern“, sondern sie unterstützen demokratische Forderungen gegen „nationale Unterdrückung“.

  • Ein Bündnis kommt für LeninstInnen allenfalls mit der bürgerlichen Demokratie“ (LW 31, 138) in Betracht.

  • Im übrigen besteht „die Notwendigkeit, die Geistlichkeit und sonstige reaktionäre und mittelalterliche Elemente zu bekämpfen, die in den zurückgebliebenen Ländern Einfluß haben; […] die Notwendigkeit, den Panislamismus und ähnliche Strömungen zu bekämpfen, die die Befreiungsbewegung gegen den europäischen und amerikanischen Imperialismus mit einer Stärkung der Positionen der Khane, der Gutsbesitzer, der Mullahs usw. verknüpfen wollen; [...]“ (LW 31, 137).

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Kommen wir nun – nach den grundsätzlichen Erwägungen – zu den ‚Details’:

  • Ihr führt in Eurer Hamas-Kritik folgendes Zitat zustimmend an (und wir teilen es): „Kein einziger fortschrittlicher Palästinenser kann einem israelischen Juden sagen: Du hast kein Recht auf dieses Land.“
     

  • Wie wollt Ihr also das Recht der israelischen Juden und Jüdinnen, dort leben zu bleiben, wo sie im Moment leben, realisieren/durchsetzen, ohne Hamas, die Ihr selbst (in dem fraglichen Text) als „antisemitisch“ bezeichnet (und wir gehen davon aus, daß Ihr Antisemitismus ablehnt), und andere bewaffnete antisemitische Kräfte in der Region nicht nur politisch, sondern auch militärisch in die Schranken zu weisen?

    Wie soll gar eine 1-Staaten-Lösung, gar eine sozialistische 1-Staaten-Lösung, möglich sein, ohne vorher Hamas und andere bewaffnete antisemitische Kräfte in der Region zu zerschlagen? (Ihr sagt Eurem internationalen Manifest: „wir [kämpfen] für die Zerschlagung des Staates Israel [...] und für einen einheitlichen palästinensischen Staat auf dem gesamten historischen Territorium: ein sozialistisches Palästina der ArbeiterInnen, wo AraberInnen und Juden/Jüdinnen in Frieden zusammenleben können.“(6) – Wir möchten daher klipp und klar wissen: Was haltet Ihr von einer Zerschlagung des bürgerlichen Staates Israel, ohne ihn durch einen sozialistischen Staat zu ersetzen? Und außerdem: Haltet Ihr den Umstand, daß sich ein Staat „sozialistisch“ nennt, allein für eine ausreichende Garantie gegen Antisemitismus oder welche [zusätzlichen] Bedingungen müssen realisiert sein, damit ein sich „sozialistisch“ nennender Staat nicht antisemitisch handelt?)
     

  • Mehr noch: Wie ist Eures Erachtens Eure Position,

    „Die einzige wahre und mögliche Lösung, die ein friedliches und geschwisterliches Zusammenleben von Palästinenser*innen und Juden und Jüdinnen ermöglicht, besteht darin, den zionistischen und proimperialistischen Staat Israels auf der Grundlage eines gemeinsamen Kampfes bis auf die Grundmauern zu zerstören.“(7)

    mit dem gerade schon angeführten Zitat, „Kein einziger fortschrittlicher Palästinenser kann einem israelischen Juden sagen: Du hast kein Recht auf dieses Land.“, vereinbar?

    Richtig wäre zwar zu sagen, daß KommunistInnen den bürgerlichen israelischen Staat (wie jeden bürgerlichen Staat) zerschlagen und durch einen sozialistischen Staat ersetzen wollen.(8 Aber dies gilt zum einen genauso auch für die para-staatlichen palästinensischen Strukturen; und zum anderen heben sozialistische Verhältnisse nicht das Recht auf „Selbstbestimmung“ (d.h. Lostrennung/Eigenstaatlichkeit) auf (s. z.B. die Lostrennung Finnlands von Sowjetrußland(9).
     

  • Ihr schreibt (in Eurer Hamas-Kritik): „Wir unterstützen den Kampf der Palästinser*innen gegen die Besatzung bedingungslos.“ (unsere Hv.) – Wir möchten wissen: Was heißt für Euch „bedingungslos“? Und was (Kampf für welche Ziele? Und Einsatz von welchen Kampfmitteln?) fällt für Euch unter „Kampf [...] gegen die Besatzung“? Welche Kampfziele und Kampfformen fallen Eures Erachtens dagegen nicht unter diesen Begriff?
     

  • In dem gleichen Artikel schreibt Ihr außerdem: „Kommunist*innen unterstützen bedingungslos alle Kämpfe gegen Kolonialismus und Besatzung.“ Bei den Wörtern „unterstützen bedingungslos“ verlinkt Ihr zu Lenins Text Ursprünglicher Entwurf der Thesen zur nationalen und kolonialen Frage (LW 31, 132 - 139). In dem Text steht allerdings nichts von „bedingungslos“; vielmehr formuliert Lenin dort ausdrücklich eine Bedingung:

    „Die Kommunistische Internationale darf die bürgerlich-demokratischen nationalen Bewegungen in den Kolonien und zurückgebliebenen Ländern nur unter der Bedingung unterstützen, daß die Elemente der künftigen proletarischen Parteien, die nicht nur dem Namen nach kommunistische Parteien sind, in allen zurückgebliebenen Ländern gesammelt und im Bewußtsein ihrer besonderen Aufgaben, der Aufgaben des Kampfes gegen die bürgerlich-demokratischen Bewegungen innerhalb ihrer Nation, erzogen werden.“ (ebd., 138 – unsere Hv.)

    Auch die schon angeführte Formulierung, „Notwendigkeit, den Panislamismus und ähnliche Strömungen zu bekämpfen“ etc., stammt aus demselben Lenin-Text (ebd., 137).
     

  • Ihr sprecht (immer noch in dem gleichen Artikel) von „israelische[r] Besatzung Palästinas, die seit 69 Jahren anhält“. Der israelische Staat besteht seit 69 Jahren – schon allein deshalb und zumal wegen der schon zitierten Formulierung „Zerschlagung des Staates Israel“ (aus Eurem internationalen Manifest) verstehen wir dies dahin, daß Ihr nicht nur die israelische Grenze von 1967 nicht anerkannt; daß Ihr nicht nur die Grenze, die nach dem Krieg, den die arabischen Staaten gegen das gerade gegründete Israel führten, entstand, nicht anerkennt, sondern daß Ihr nicht einmal die – mit Zustimmung der (wenn auch stalinistischen) Sowjetunion – definierten Grenze bei Staatsgründung nicht anerkennt.

    Wir möchten daher von Euch wissen: Wie rechtfertigt Ihr Eure Position angesichts Eures leninistischen Anspruchs und in Anbetracht dessen,

    ++ daß es seit Jahrtausenden in Israel/Palästina eine – wenn auch (aufgrund von Verfolgung und Vertreibung) zeitweilig sehr geringe – jüdische Bevölkerung gibt,

    und

    ++ in Anbetracht dessen, daß LeninistInnen ein Recht auf Lostrennung (d.h.: Eigenstaatlichkeit) unterdrückter Nationen befürworten?

Wir merken gerade – beim Schreiben –, daß auch diese Fragen alles andere als ‚Details’, sondern sehr grundsätzliche Fragen betreffen – und sparen uns daher die wirklichen Details für spätere Gelegenheit auf und beschränken uns an dieser Stelle darauf, unseren LeserInnenbrief aus dem vergangenen Jahr noch einmal anzufügen

und mit robusten leninistischen Grüßen zu verbleiben

A.Sch. / P.N. / DGSch

Anhang zu: Wer sind „ die Palästinenser*innen“
Unser LeserInnenbrief vom 01. Mai 2016


Fußnoten:

1 „Der zionistische Staat ist gemeinsam mit seinen imperialistischen und reaktionären Verbündeten hauptverantwortlich für die Vertreibung, Unterdrückung, Ausplünderung und Besatzung gegen die Palästinenser*innen.“ (https://www.klassegegenklasse.org/warum-wir-die-niederlage-israels-und-den-sieg-des-palaestinensischen-volkes-unterstuetzen/ – unsere Hv.)

2 „die letzteren [„Hamas und andere Gruppen“] sind trotz ihres Programms ein fundamentaler Bestandteil des legitimen Widerstands des palästinensischen Volkes.“ / „Eine internationale Solidarität hat deshalb die lebenswichtige Aufgabe, die Freilassung aller politischen Gefangenen (inklusive der der Hamas), [...] zu fordern. Sie wird es dem palästinensischen Volk ermöglichen, ihren Widerstand voranzutreiben und den zionistischen Staat zurückzudrängen.“ (https://www.klassegegenklasse.org/warum-wir-die-niederlage-israels-und-den-sieg-des-palaestinensischen-volkes-unterstuetzen/ – jeweils unsere Hv.)

5 Vgl. dazu von DGS: „Die Ausübung des Rechts auf nationale Lostrennung wird für RevolutionärInnen nur unter zwei Voraussetzung7 zur eigenen Losung: [...]“ (http://theoriealspraxis.blogsport.de/2010/07/13/fuer-das-recht-auf-lostrennung-aber-nicht-unbedingt-fuer-dessen-ausuebung/)

7 https://www.klassegegenklasse.org/warum-wir-die-niederlage-israels-und-den-sieg-des-palaestinensischen-volkes-unterstuetzen/. Bei Fb schreibt der Autor des genannten Artikels außerdem: „Ich lehne die Existenzberechtigung Israels ab. Es gibt kein Recht auf einen Staat, der Israel heißt und auf Zion[i]smus basiert.“

„Zionismus“ ist laut Enyclopaedia Britannica die „Jewish nationalist movement that has had as its goal the creation and support of a Jewish national state in Palestine, [...]“ (https://www.britannica.com/topic/Zionism). Warum sollte der jüdische Nationalismus weniger legitim sein als jeder andere Nationalismus?! Das Staatsgründungsrecht von Völkern ist unter vor-kommunistischen Verhältnissen die Form, in der sich das von LeninistInnen befürwortete „Selbstbestimmungsrecht“ realisiert – es sei denn, es entschließen sich mehrere Völker freiwillig, einen gemeinsamen Staat zu bilden.

Wenn in ein- und demselben Gebiet mehrere Völker leben, kann die vor-kommunistische „Selbstbestimmung“ nur in der Weise realisiert werden, daß

8 Weniger mißverständlich wäre vielleicht zu sagen, daß nicht die Staaten, sondern die bürgerlichen Staatsapparate zerschlagen werden sollen. Allerdings finden wird schon einsichtig, daß ein sozialistischer Staat ein anderer Staat ist als ein vorhergehender bürgerlicher Staat mit (grosso modo) dem gleichen Staatsgebiet und den gleichen EinwohnerInnen.

9 „Nach der Februarrevolution in Russland erklärte das finnische Parlament am 6. Dezember 1917 Finnlands Unabhängigkeit. Sie wurde auch nach dem Sieg der Oktoberrevolution im Januar 1918 durch das entstandene bolschewistische Russland und danach durch zahlreiche andere Staaten anerkannt.“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Finnland#Unabh.C3.A4ngigkeit_und_Kriege)

Editorischer Hinweis:

Nach der Veröffentlichung bei "linksunten.indiymedia" und "scharf-links" erhielten wir diesen offenen Brief zur weiteren Veröffentlichung von den Autor*innen.

Leseempfehlung dazu:  die Randbemerkungen von Karl Mueller

Hättet Ihr doch bloß geschwiegen...