Lukácsdebatte
Lukács und seine Kritik des Marxismus

von Abram Deborin

08/2016

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Kommunismus ist praktischer Materialismus,      
   Materialismus ist theoretischer Kommunismus.

I.

Genosse Lukács tritt in seinem Buch Geschichte und Klassen­bewußtsein (1923) in der Rolle des philosophischen Kritikers des Marxismus auf. Man muß es dem Verfasser lassen: er versteht es, seine idealistischen und sogar mystischen Tendenzen geschickt zu verschleiern. Aber es fällt ihm trotz seiner feinen Diplomatie doch nicht gar so leicht, die idealistischen Ohren unter die Tarnkappe zu stecken. Jeder nur ein wenig geschulte Marxist wird bei etwas Nachdenken leicht diese idealistischen Tendenzen erkennen, die aus einem Meer krauser Phrasen an die Oberfläche treten.

Man kann nicht sagen, daß die Methode, die Genosse Lukács anwendet, indem er Marx gegen Engels ausspielt, eine beson­ders gelungene oder originelle wäre. Zu dieser Methode haben schon öfter die verschiedensten Kritiker des Marxismus, sowohl aus dem Lager der Bourgeoisie als auch Kritiker von der Gattung der Revisionisten, Zuflucht genommen. Ein Teil von ihnen bewies, daß Engels zum Materialismus entgleist sei, während sich Marx dieser Sünde niemals schuldig gemacht habe. Ein anderer Teil wieder bewies das Gegenteil. Anderer­seits hielten alle »Kritiker« Dialektik und Materialismus für miteinander unvereinbar und beschuldigten beide Begründer des Marxismus der schreiendsten Alogik. Die Dialektik, sagen sie, ist nur anwendbar auf geistigem Gebiet, auf dem Gebiet der Erkenntnis, die mit Begriffen operiert. Aber von welcher Dialektik kann denn in bezug auf die materielle Welt ge­sprochen werden? Sie hatten mit einem Ohr gehört, daß der Dialektiker Hegel Idealist war, daß der Grund alles Seins seiner Anschauung nach die Erkenntnis, der Geist sei; deshalb, so folgerten sie, läßt sich die Dialektik nur mit dem Idealismus vereinbaren. Die materialistische Dialektik dagegen oder den dialektischen Materialismus erklärten sie als logischen Unsinn. Ein verspäteter Kritiker dieser letzten Gattung ist N. Weendorf(1), der den alten Unsinn von der Unanwendbarkeit der Dialektik in bezug auf die empirische Wirklichkeit wiederholt. Es ist nicht schwer zu verstehen, warum die bürgerlichen Kri­tiker des Marxismus eine so verächtliche Stellung zum Mate­rialismus einnehmen und so »unduldsam« der materialistischen Dialektik gegenüber sind. Ihre »Unduldsamkeit« erklärt sich daraus, daß sie, wie sich Plechanow ausdrückte, keinerlei Revo­lution und keinerlei Diktatur »dulden« können.

Die Ansichten Weendorfs teilt auch Werner Sombart, der in seinem letzten Artikel »Der Begriff der Gesetzmäßigkeit bei Marx«(2) die Anwendung der Hegelschen Dialektik in bezug auf die empirische Wirklichkeit als »ungeheuerliche« Verirrung be­zeichnet. Werner Sombart zitiert verständnisvoll jene Stelle aus dem Buche des Genossen Lukács, wo dieser bei der Kritik von Engels eine angebliche Meinungsverschiedenheit mit Marx in der Frage der Anwendbarkeit der Dialektik in bezug auf die Natur aufdeckt. »Die neue Anschauung über das Wesen der dialektischen Methode von Marx« - schreibt Sombart -»verteidigt jetzt Lukács in seinem Buch Geschichte und Klassen­bewußtsein.« Seiner Meinung nach hat Engels die Lehren seines Freundes ganz und gar nicht verstanden. Im Gegensatz zu Engels ist die Anwendung der dialektischen Methode unbedingt zu begrenzen auf die sozialhistorische Wirklichkeit(3). Weiter führt Sombart die von Lukács gegebene Erklärung der Dialektik an.

Also, Genosse Lukács tritt mit einer neuen Anschauung über das Wesen der Dialektik hervor. In einem sehr wichtigen und wesentlichen Punkt besteht zwischen Lukács, Weendorf und Sombart vollkommene Übereinstimmung: und zwar in der Frage von der Anwendbarkeit der Dialektik in bezug auf die Natur. Leider geizt Genosse Lukács besonders dort mit seinen Argumenten, wo er seine Gedanken bis zu Ende entwickeln müßte. Er schweigt hartnäckig gerade dort, wo er sprechen müßte. Man hat deshalb nach der Lektüre seiner Schrift den peinlichen Eindruck der Zweideutigkeit.

In Wirklichkeit ist die Frage der Anwendbarkeit oder Nicht-anwendbarkeit der Dialektik in bezug auf die Natur untrenn­bar verknüpft mit der Frage der Weltanschauung überhaupt. Genosse Lukács stellt sich auf den Boden jener, die so oder anders den historischen Materialismus anerkennen, den philo­sophischen Materialismus dagegen verwerfen. Und wieder in voller Ubereinstimmung mit den bürgerlichen Kritikern des Marxismus sprechen Genosse Lukács und seine Anhänger mit Verachtung von der »naturalistischen Metaphysik« von Engels und Plechanow. »Naturalistische Metaphysik« ist ein Pseu­donym für den Materialismus. Angesteckt von den Vorurteilen der bürgerlichen Philosophen, hat sich Genosse Lukács sowohl ihren Jargon als auch ihr ablehnendes Verhalten dem Mate­rialismus gegenüber zueigen gemacht. Allerdings hält sich Lukács von einer eingehenden Darlegung seiner Zweifel in dieser Frage zurück. Wir befinden uns deshalb in voller Un­kenntnis über jene philosophischen Betrachtungen, die ihn ver­anlassen, den philosophischen Standpunkt zu verwerfen. Eines jedoch ist uns ganz klar: Lukács lehnt sowohl den Materialis­mus als auch die Dialektik in ihrer Anwendbarkeit in bezug auf die Natur ab. Diese Schlußfolgerung ist überaus wichtig, und wir beschränken uns vorderhand darauf, diesen Umstand zu fixieren. Aus dieser Schlußfolgerung könnte man weiter schlie­ßen, daß unser Verfasser Dualist ist: Idealist - insoweit es sich um die Natur handelt, und dialektischer Materialist - in bezug auf die sozialhistorische Wirklichkeit. Aber diese Schlußfol­gerung kann nur als lächerlich bezeichnet werden, da wir aus dem weiteren ersehen werden, daß wir es in Wirklichkeit zu tun haben mit einer neuen Auffassung der dialektischen Me­thode, d. h. mit einer Auffassung, die in Widerspruch steht mit dem Marxismus, mit dem dialektischen Materialismus. Wir werden uns mit anderen Worten davon überzeugen, daß Lukács auch in bezug auf die sozialhistorische Wirklichkeit vollständig auf idealistischem Boden steht, da er namentlich in der Kategorie der Erkenntnis im gewissen Sinne die Substanz oder die Wahrheit der Wirklichkeit sieht. In dieser Beziehung erinnert Lukács sehr stark an Bruno Bauer und seine »Philo­sophische Selbsterkenntnis«, die von Marx so bitter verspottet wurde. I-m allgemeinen sind die Ansichten von Lukács ein bunter Mischmasch der Ideen des orthodoxen Hegelianertums, schmackhaft gemacht durch Beimengung der Ideen von Laskl, Bergson, Weber, Rickert . . . Marx und Lenin. Man kann nach dem Gesagten a priori behaupten, daß wir in der Person des Genossen Lukács tatsächlich einen Neuerer vor uns haben.

II.

Lukács hat bereits seine Jünger und ist im gewissen Sinne der führende Kopf einer ganzen Richtung, der unter anderem angehören: die Genossen Korsch(4), Fogarasi, Reway u. a. Bei einer solchen Lage der Dinge ist es unmöglich, sie einfach zu ignorieren. Wir müssen zumindest die Grundprinzipien dieser »neuen Strömung« im Marxismus einer Kritik unterziehen. Das Buch von Lukács beginnt mit einer Kritik von Engels. Bereits im Vorwort erklärt der Verfasser, daß er gewillt sei, den orthodoxen Marxismus sogar gegen Engels zu verteidigen. Ferner unterstreicht der Verfasser im Vorwort, daß er beab­sichtige, die Lehre von Marx zu revidieren und zu verbessern und den Marxismus nur im Geiste von Marx zu interpretieren. Eine sehr ehrenwerte Aufgabe also! Aber eine solche Frage­stellung ist dazu angetan, einen Zweifel an ihrer Richtigkeit hervorzurufen, besonders, wenn man sich erinnert, daß Engels vierzig Jahre lang in engster kameradschaftlicher Verbindung mit Marx zusammen gearbeitet hat, und daß die grundlegende philosophische Arbeit von Engels unter unmittelbarer Beteili­gung von Marx selbst geschrieben wurde. Indessen, diese Arbeit - es handelt sich hier um den »Anti-Dühring« - befriedigt Lukács und seine Jünger nicht. Welchen Sinn hat es aber dann, sich hinter dem breiten Rücken von Marx zu verstecken, um so geschützt Engels eine Nase zu drehen? Man kann behaupten, daß Engels, solange Marx lebte, keine Zeile geschrieben hat, die nicht von diesem gebilligt worden wäre. Im Vorwort zur zweiten Auflage des »Anti-Dühring« schreibt Engels über dieses Zusammenarbeiten folgendes: »Ich bemerke nebenbei: Da hier die entwickelte Anschauungsweise zum weitaus größten Teil von Marx begründet und entwickelt worden, und nur zum geringsten Teil von mir, so verstand es sich unter uns von selbst, daß diese meine Darstellung nicht ohne seine Kenntnis erfolgte. Ich habe ihm das ganze Manuskript vor dem Druck vorgelesen, und das zehnte Kapitel des Abschnitts über Öko­nomie (»Aus der >kritischen Geschichte<«) ist von Marx ge­schrieben und mußte nur, äußerlicher Rücksichten halber, von mir leider etwas verkürzt werden. Es war eben von jeher unser Brauch, uns in Spezialfächern gegenseitig auszuhelfen.« (Vor­wort zu Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, S. XII [MEW Bd. 20 S. 9].) Man sollte glauben, daß dieses Zeugnis von Engels den »kritischen« Eifer der Reformatoren ein wenig abkühlen müßte. Jedenfalls haben die geehrten »Kritiker« keinen Grund, Marx zu schonen, der den »Anti-Dühring« im Manuskript gelesen hat. Ja, noch mehr! Die von Engels dargelegte Weltanschauung wurde von Marx begründet und entwickelt...

Lukács behauptet, daß sich Engels von Marx entfernte und die Ansichten seines Freundes verdrehe. Marx habe die Anwend­barkeit der dialektischen Methode auf die sozialhistorische Wirklichkeit beschränkt, während Engels die Dialektik auch in bezug auf die Natur anwendet. Aber wie wir bereits bewiesen haben, entbehrt diese Behauptung jeder Grundlage.

Marx und Engels sind in gleicher Weise »schuldig« der An­wendung der Dialektik in bezug auf die Natur. Die Begründer des Marxismus waren keine Eklektiker wie Lukács, sondern außergewöhnliche Denker. Aber es ist nur natürlich, wenn sich jeder Mensch für einen »Maßstab der Dinge« hält und andere nach sich selbst beurteilt. Lukács wünscht, daß Marx mit ihm sei, und deshalb schreibt er ihm seine Gedanken, seine Ideen, seine Auffassung der Dialektik zu. Und so gelangen wir zu dem Resultat, daß nicht Engels, sondern Lukács selbst die Lehren von Marx verdreht.

Lukács stimmt mit Marx und Engels nicht nur in der Frage von der Anwendbarkeit der Dialektik in bezug auf die Natur nicht überein, sondern auch in der Auffassung des Wesens der Dia­lektik selbst. Man sollte glauben, daß Engels auch hier eine große Verwirrung angerichtet hat, indem er das Wesentlichste außer acht gelassen und seine Aufmerksamkeit auf weniger wichtige Momente der Dialektik konzentriert hat. Lukács behauptet, daß auch in dieser Frage Marx auf seiner Seite stehe, und er hält sich deshalb für den berufenen Verteidiger von Marx gegen Engels.

Beide Beschuldigungen gegen Engels formuliert Lukács in einer kurzen Anmerkung, die wir wörtlich wiedergeben: »Diese Beschränkung der Methode auf die historisch-soziale Wirklich­keit ist sehr wichtig«, sagt unser Autor. - »Die Mißverständ­nisse, die aus der Engelsschen Darstellung der Dialektik ent­stehen, beruhen wesentlich darauf, daß Engels - dem falschen Beispiel Hegels folgend - die dialektische Methode auch auf die Erkenntnis der Natur ausdehnt. Wo doch die entscheidenden Bestimmungen der Dialektik: Wechselwirkung von Subjekt und Objekt, Einheit von Theorie und Praxis, geschichtliche Ver­änderung des Substrats der Kategorien als Grundlage ihrer Veränderung im Denken usw. in der Naturerkenntnis nicht vorhanden sind.« (Georg Lukács, Geschichte und Klassenbe­wußtsein, Berlin 1923, S. 17.

Auch hier beeilt sich der Verfasser, die Einschränkung zu machen, daß es ihm leider ganz unmöglich sei, auf diese Frage näher einzugehen. Warum es ihm ganz unmöglich sei, das Aus­einandergehen seiner Ansichten mit denen von Engels zu er­klären, können wir allerdings nicht begreifen. Man sollte glauben, daß er irgendwelche Beweise für seine ernsten Be­schuldigungen vorbringen müßte. Aber wo nichts ist, hat auch der Kaiser sein Recht verloren. Wir sehen also bei Lukács eine neue Auffassung der Dialektik oder, besser gesagt, eine Be­schränkung, eine Verengung der Dialektik auf die angeführten drei Erklärungen. Aber damit würden sich weder Marx noch Hegel einverstanden erklären, die der Verfasser so nachdrück­lich zitiert, um damit die Richtigkeit seiner Ansichten und seine Übereinstimmung mit ihnen zu beweisen.

Aber hören wir zuerst, was Lukács sagt! Im ersten Kapitel seines Buches (»Was ist orthodoxer Marxismus?«) beweist, oder besser gesagt, verweist der Verfasser auf die Bedeutung der Methode des Marxismus. Die Methode ist zweifellos von außerordentlicher Bedeutung; die dialektische Methode bildet nach den Worten von Hegel die Seele jeder wissenschaftlichen Erkenntnis. Nichtsdestoweniger muß man aber der Behauptung von Lukács widersprechen, daß vom orthodoxen Marxisten nur die Anerkennung der Methode zu fordern sei. Wir stimmen selbstverständlich Lukács vollständig zu, daß im dialektischen Materialismus die richtige Untersuchungsmethode gefunden ist, und daß diese Methode im Sinne ihrer Begründer ausgearbeitet, vertieft und entwickelt werden muß. Aber wir sind nicht ein­verstanden mit der Erklärung des Verfassers, daß der Inhalt der Lehre nur eine Bedeutung zweiten Grades hat. Man kann zugeben - sagt er -, daß die neuesten Untersuchungen die Un­richtigkeit »sämtlicher einzelner« Urteile von Marx beweisen werden. In diesem Falle könnte natürlich jeder ernste »ortho­doxe« Marxist die neuesten Resultate anerkennen, »sämtliche einzelne« Richtlinien von Marx ablehnen und gleichzeitig orthodoxer Marxist bleiben; denn der orthodoxe Marxismus bedeutet nicht die Anerkennung der Resultate der Marxschen Untersuchungen auf guten Glauben, nicht den »Glauben« an diese oder jene Richtlinien, nicht diese oder jene Auslegung des »heiligen« Buches. Der Leser muß zugeben, daß diese Erklä­rung überaus zweideutig gehalten ist. Was bedeuten denn die Worte: »sämtliche einzelnen« Richtlinien? Jede Lehre besteht aus einer Summe einzelner Richtlinien. Wenn wir somit alle einzelnen Richtlinien einer Lehre ablehnen, dann ist doch ganz klar, daß wir damit die Lehre selbst ablehnen. Aber hier zieht es Lukács vor, sich »diplomatisch« und gewunden auszu­drücken. In seinem Kapital deckt Marx unter Anwendung der dialektischen Methode den inneren Mechanismus der kapitali­stischen Gesellschaft auf. Der Sozialismus wurde - nach den Worten von Engels - zur Wissenschaft dank der Entdeckung der materialistischen Geschichtsauffassung und dank der Ent­hüllung der auf dem Mehrwert basierenden kapitalistischen Produktionsweise, Entdeckungen, die wir Marx zu verdanken haben. Wer will es leugnen, daß das Kapital zu ganz bestimm­ten »Resultaten« gelangt? Nach der Ansicht von Lukács kommt diesen Resultaten an sich keine Bedeutung zu, und sie können leicht widerlegt werden durch neue Untersuchungen, wovon der Marxismus nicht im geringsten Schaden leiden wird, da er bei seiner Methode verbleiben wird. Wir danken Ihnen ganz ergebenst, Genosse Lukács, für Ihre Liebenswürdigkeit, aber einen solchen idealistischen Standpunkt kann kein Marxist anerkennen! Für uns sind die Resultate ebenso wichtig wie die Methode. Der von Lukács in bezug auf seine Orthodoxie ange­zweifelte Friedrich Engels hat den »Resultaten« eine sehr große Bedeutung beigemessen. Betreffs der Dühringschen Kritik des Kapitals bemerkt Engels, daß er zunächst imstande war, »die Methode von den durch sie erzielten Resultaten zu unter­scheiden und zu begreifen, daß besonders letztere keineswegs dadurch widerlegt werden, weil die Methode überhaupt kriti­siert wurde«. Wie wir sehen, schätzt Engels die Untersuchungs­resultate des Kapitals sehr hoch ein. Der »orthodoxe« Marxist Lukács ist bereit, die Untersuchungs-»Resultate« des Kapitals zu opfern, womit man sich selbstverständlich keinesfalls einver­standen erklären kann. Aber welche Bedeutung kann die Methode an sich haben, wenn ihre Richtigkeit nicht bestätigt wird durch die Praxis, wenn die »Resultate« der Untersuchung mit der Praxis in Widerspruch stehen?

Es ist klar, daß der Methode eine sich selbst genügende Be­deutung nicht zukommt, daß sie kein rein logisches Schema darstellt, das nur auf dem Gebiete des reinen Denkens an­wendbar ist. Wenn wir die Methode nicht vom idealistischen, sondern vom materialistischen und dialektischen Standpunkt betrachten, so muß man zugeben, daß sie untrennbar verknüpft ist mit dem Inhalt, mit den »Resultaten«, und daß bei richtiger Methode kein Widerspruch zwischen ihr und ihrem Inhalt bestehen kann. Für Lukács hat dieser Umstand keine Bedeu­tung, denn er ist Idealist vom Scheitel bis zur Sohle. Für ihn besitzt die Theorie, die Methode irgendeine absolute Bedeu­tung, und wenn sich die Wirklichkeit darin nicht unterbringen läßt - »um so schlimmer für die Tatsachen«. Eine solche Frage­stellung ergibt sich jedoch bei Lukács infolge seiner eigen­artigen idealistischen Auffassung von der Erkenntnis und somit auch von der Theorie, die der Wirklichkeit gegenüberstehen oder sie sogar - richtiger gesagt - in sich einschließen. .Die einzig richtige materialistische Auffassung der Dinge - sagt Engels - besteht darin, daß »die Prinzipien nicht Ausgangs­punkt der Untersuchung, sondern Endresultat derselben sind; sie werden nicht angewendet in bezug auf die Natur und die Geschichte der Menschheit, sondern werden von dieser und jener abstrahiert; nicht die Natur und die menschliche Welt bewegen sich nach Prinzipien, sondern die Prinzipien sind nur so weit richtig, soweit sie mit der Natur und der Geschichte übereinstimmen.« Die dialektischen Kategorien, die den Inhalt der Methode ausmachen, haben keine selbständige Existenz, sondern sind gegeben zusammen mit dem Objekt und dem Gegenstand der Untersuchung. Es fragt sich, wie man auf die Untersuchungsergebnisse verzichten und doch bei der Methode bleiben kann? Im Gegenteil, die Methode wird um so mehr bekräftigt, je mehr sie den Resultaten und dem Inhalt der untersuchten Wirklichkeit »entspricht«. Die Methode ist vor allem das Mittel oder das Werkzeug zur Auffindung neuer Resultate. Die Dialektik hat dieselbe Aufgabe, aber gleich­zeitig »enthält sie die Anfänge einer breiteren Weltanschauung, da sie« - wie sich Engels ausdrückt - »den engen Horizont der formalen Logik durchbricht«. Wenn der historische Prozeß dem dialektischen Prozeß widersprechen würde, wie dies Lukács zuläßt, dann wäre damit die Unbrauchbarkeit der dialektischen Methode erwiesen. Der dialektische Prozeß kann nicht getrennt vom historischen existieren.

III.

Indem sich Lukács der Erklärung des Wesens der Dialektik zuwendet, unterstreicht er, daß die Einheitlichkeit von Theorie und Praxis Voraussetzung der revolutionären Funktionen der Theorie sei. Die Theorie ist der gedankliche Ausdruck des revolutionären Prozesses selbst, aber dieser Bedeutung der Theorie sei sich Engels nicht klar bewußt geworden. In seiner Darlegung der Dialektik fehle das wichtigste Moment. Engels beschreibt, so sagt Lukács, die dialektische Auffassung im Ge­gensatz zur metaphysischen; er unterstreicht, daß die Dialektik die Unbeweglichkeit der Begriffe und der ihnen entsprechenden Gegenstände nicht kennt, daß die Dialektik ein ununterbro­chener Prozeß ist, ein ununterbrochenes Aufheben der Gegen­sätze, die einer in den anderen übergehen. Aber das wesent­lichste, und zwar die dialektische gegenseitige Einwirkung von Subjekt und Objekt im historischen Prozeß, würde von Engels in seiner Darlegung der Dialektik gar nicht erwähnt, und doch gebühre dieser gegenseitigen Einwirkung der erste Platz, denn ohne sie hört die dialektische Methode trotz der »Flüssigkeit« der Begriffe auf, eine revolutionäre Methode zu sein. Denn das wichtigste Problem für die dialektische Methode ist ja die Änderung der Wirklichkeit. Wenn die wichtigste Funktion der Theorie weiter nicht beachtet wird, fährt Lukács fort, dann wird der Vorzug der dialektischen Methode, die sich mit »flie­ßenden« Begriffen befaßt, ein sehr problematischer und hat nur 198 einen »rein wissenschaftlichen« Charakter. Die Methode an und für sich - es handelt sich selbstverständlich um die dialektische Methode - kann in Abhängigkeit von der Entwicklung der Wissenschaft anerkannt oder abgelehnt werden, ohne daß sich deshalb irgendetwas in Wirklichkeit ändern würde. »Ja, noch mehr, die Undurchdringlichkeit, der fatalistisch-unveränderliche Charakter der Wirklichkeit, ihre >Gesetzmäßigkeit< im Sinne des bürgerlichen, betrachtenden Materialismus und der inner­lich mit ihm verknüpften klassischen Ökonomie kann sich in noch höherem Maße verstärken, als wir dies bei den Machisten unter den Nachfolgern von Marx gesehen haben.« Ferner unterstreicht Lukács, daß auch der Machismus einen »Volun­tarismus«, aber einen bürgerlichen Voluntarismus, erzeugen kann. Denn Fatalismus und Voluntarismus schließen einander vom Standpunkt der Dialektik nicht aus, sondern ergänzen einander; sie sind nur dialektische Gegensätze, in Wechselbe­ziehung stehende Begriffe.

Alle diese Erörterungen sind im höchsten Grade nebelhaft und zweideutig; aus ihnen folgt, daß Engels, der das Problem über die Beziehungen von Subjekt und Objekt im historischen Prozeß nicht zum Mittelpunkt seiner methodologischen Unter­suchung gemacht hat, zum bürgerlichen betrachtenden Mate­rialismus, zum Machismus, zum Fatalismus usw. entgleist ist. Und Lukács hält Engels vor, daß das Zentralproblem der dialektischen Methode die Veränderung der Wirklichkeit ist, als ob nicht Marx und Engels als erste diese Richtlinien nicht nur aufgestellt, sondern sich auch in allen Einzelheiten streng an sie gehalten hätten, als ob nicht sie als die ersten den Kommunismus als den praktischen Materialismus formuliert hätten. Wenn der Materialismus (Marx und Engels) theoretischer Kommunismus, und der Kommunismus - praktischer Materialismus ist, so ist klar, daß in dieser Formel die Einheit­lichkeit von Theorie und Praxis und die »revolutionäre Funk­tion der Theorie« - um die Worte Lukács' zu gebrauchen - in einer Weise dialektisch ausgedrückt ist, wie es besser nicht geschehen kann. Es drängt sich die Frage auf, was denn Lukács noch will, was dieser Reformator erstrebt. Das erkennen wir aus dem Folgenden. Im voraus können wir bereits jetzt sagen, daß die Theorie und also auch die Erkenntnis für ihn selb­ständige, von der »Materie«, von der Wirklichkeit unabhängige Bedeutung haben, daß er die Praxis ebenso idealistisch begreift wie die Theorie, und daß seine Auffassung von der Dialektik von der Auffassung von Marx und Engels abweicht.

Als überaus eigenartig muß die Identifizierung von Gesetz­mäßigkeit und Fatalismus, Praxis und Voluntarismus bezeich­net werden, wobei Lukács das Wort Gesetzmäßigkeit in Gänse­füßchen setzt und als »bourgeoise Kategorie« bezeichnet. Wenn sich Lukács dem Machismus gegenüber ablehnend verhält, so scheint es uns, daß der Grund darin liegt, daß seiner Meinung nach der Machismus nicht idealistisch genug ist, daß er eine Abart des bürgerlichen betrachtenden Materialismus ist. Übri­gens, von was für einem modernen bürgerlichen Materialismus spricht Lukács? Ist es nicht allbekannt, daß sich die Bourgeoisie jedem Materialismus gegenüber, sowohl dem betrachtenden als auch dem naturwissenschaftlichen, ablehnend verhält?

Was den Machismus betrifft, so ist er durch und durch subjektiv; die physikalische Gesetzmäßigkeit wird von ihm überhaupt geleugnet. Die Notwendigkeit und die Gesetzmäßigkeit be­ziehen sich doch - wie Mach und seine Jünger sagen - nicht auf die äußere Welt, sondern auf die Welt der Begriffe. Der Machismus enthält tatsächlich viel, zuviel »Voluntarismus«. Aber was ist das für ein Voluntarismus, den Lukács »diplo­matisch« dem Voluntarismus des Marxismus gegenüberstellt? Der machistische Voluntarismus stützt sich einerseits - wie ich das bereits an anderer Stelle gezeigt habe - auf die Metaphysik des Willens und nähert sich in dieser Beziehung Schopenhauers(5), hat aber selbstverständlich nichts gemein mit dem Marxismus.

Andererseits gehen gerade bei den Machisten Praxis und Theo­rie stark auseinander. Ist es nicht Mach, der verkündet, »wer in der Theorie den äußersten Determinismus verteidigt, muß in der Praxis unbedingt Indeterminist sein«; derselbe Mach sagt ferner: »Die Richtigkeit der Position des Determinismus und des Indeterminismus kann nicht bewiesen werden.« Also, der Voluntarismus von Mach läuft hinaus auf die Anerkennung der Existenz einer Welt des Willens, d. h. er führt zu einem Idealismus des Willens, wozu auch bei Lukács eine gewisse Neigung besteht. Der Voluntarismus bedeutet den Machisten nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis, wie Lenin richtig gesagt hat, »die subjektive Methode in der So­ziologie«. Der Machismus hat sogar nichts gemein mit dem naturwissenschaftlichen, bürgerlichen oder betrachtenden Ma­terialismus, wie dies Lukács glaubt.

Der Leser sieht, mit welchem Geschick Lukács die einfachsten Dinge verwirrt und den Verstand des Lesers auf Irrwege führt. Wir haben bereits gehört, daß Engels nach den Worten von Lukács das Wesen der materialistischen Methode nicht dar­legte oder nicht begriff und sich deshalb dem bürgerlichen Materialismus in die Arme warf. Aber plötzlich kommt Lukács zur Besinnung und erklärt auf derselben Seite seines Buches das Gegenteil, was ihn jedoch nicht hindert, einige Zeilen weiter seine erste Beschuldigung zu wiederholen. So schreibt er: »Dar­um führt jeder Versuch, die dialektische Methode >kritisch< zu vertiefen, notwendig zu einer Verflachung. Denn der metho­dologische (bei ihm heißt es >methodisch<, A. D.) Ausgangs­punkt einer jeden >kritischen< Stellungnahme ist eben die Trennung von Methode und Wirklichkeit, von Denken und Sein. ... Es muß aber festgestellt werden, daß sie sich nicht in der Richtung, die das innerste Wesen der dialektischen Methode ausmacht, bewegt. Marx und Engels haben sich darüber in einer schwer zu mißdeutenden Weise geäußert.« (Lukács, ebenda, S. 16.) Unmittelbar darauf führt Lukács Zitate von Engels und Marx an. Das Zitat von Engels lautet:

»Damit reduzierte sich die Dialektik auf die Wissenschaft von den allgemeinen Gesetzen der Bewegung, sowohl der äußeren Welt wie des menschlichen Denkens - zwei Reihen von Gesetzen, die der Sache nach identisch, dem Ausdruck nach aber insofern verschieden sind, alsder menschliche Kopf sie mit Bewußtsein anwenden kann, während sie in der Natur und bis jetzt auch großenteils in der Menschenge­schichte sich in unbewußter Weise, in der Form der äußeren Notwen­digkeit, inmitten einer endlosen Reihe scheinbarer Zufälligkeiten durchsetzen. Damit aber wurde die Begriffsdialektik selbst nur der bewußte Reflex der dialektischen Bewegung der wirklichen Welt, und damit wurde die Hegeische Dialektik auf den Kopf, oder vielmehr vom Kopf, auf dem sie stand, wieder auf die Füße gestellt.« (Engels, Ludwig Feuerbach, 1922, S. 38 [MEW, Bd. 21, S. 293]).

Leider unterbricht Lukács dieses Zitat - wohl nicht ohne Ab­sicht - bereits bei den Worten: ». . . die der Sache nach iden­tisch«. Das andere Zitat von Marx lautet im Original folgen­dermaßen:

»Wie überhaupt bei jeder historischen, sozialen Wissenschaft, ist bei dem Gange der ökonomischen Kategorien immer festzuhalten, daß, wie in der Wirklichkeit, so im Kopf, das Subjekt, hier die moderne bürgerliche Gesellschaft, gegeben ist, und daß die Kategorien daher Daseinsformen, Existenzbestimmungen, oft nur einzelne Seiten dieser bestimmten Gesellschaft, dieses Subjekts, ausdrücken . . .« (Marx, [Einleitung] Zur Kritik der politischen Ökonomie, 1922, XLIII [MEW, Bd. 13, S. 637].)

Gestützt auf diese zwei Zitate, gelangt nun unser feiner Dia­lektiker zu folgenden Schlußfolgerungen: Erstens: Hier ist - auch bei Engels - ein bestimmter Inhalt der dialektischen Methode ausgedrückt. Zweitens: Marx beschränkt die Anwend­barkeit der dialektischen Methode auf die sozialhistorische Wirklichkeit. Drittens: Aus der Gegenüberstellung der beiden Zitate folgt das angebliche Auseinandergehen der Ansichten von Marx und Engels in der Frage von der Anwendbarkeit der Dialektik in bezug auf die Natur. Aber Lukács bemerkt nicht, in welche Widersprüche er sich verwickelt, wenn er in Über­einstimmung mit Engels sagt, daß die Dialektik die Wissen­schaft von den allgemeinen Bewegungsgesetzen in der äußeren Welt und im menschlichen Denken ist, und zugleich die Dia­lektik »in der Erkenntnis der Natur« ablehnt. Andererseits ergibt sich keinesfalls aus dem von ihm angeführten Zitat von Marx, wo speziell von den ökonomischen Kategorien die Rede ist, daß Marx die Anwendbarkeit der Dialektik in bezug auf  die Natur bestritt. Ferner unterstreicht Lukács, daß das Wesen der Dialektik in der Einheitlichkeit von Denken und Sein, von Methode und Wirklichkeit besteht. In der Tat sprechen sowohl Engels als auch Marx ganz bestimmt von Kategorien als von den Formen des Seins, von den Existenzbedingungen des betreffenden Subjekts, das sowohl in der Wirklichkeit als auch in unserem Kopf existiert.

Genosse Reway, ein Jünger von Lukács, sagt direkt, daß Engels und Plechanow die Frage der Beziehungen des Seins und des Denkens nicht im Geiste der Dialektik, sondern im Geiste der naturalistischen Metaphysik gelöst haben. Sie verdrehen die Anschauungen Hegels, der die Identität von Subjekt und Ob­jekt, vom Sein und Denken betonte. Aber sie verdrehen nicht nur die Ansichten von Hegel, sondern auch die von Marx, der angeblich ebenfalls diesen Standpunkt vertrat. Was Plechanow betrifft - schreibt Reway -, so hat er sich sogar dahin verstiegen, zu erklären, daß er es für möglich hält, die Wurzel der Psy­chologie in der Physiologie des Nervensystems zu suchen. Engels, Plechanow und ihre Anhänger - sagt weiter Reway, dieser treue Schüler von Lukács - stehen auf dem Standpunkt einer »unbegreiflichen Verherrlichung« der naturwissenschaft­lichen Erkenntnis. Was unsere Neuerer damit sagen wollen, weiß Allah allein. Aber jedenfalls, richtig ist das eine, daß Marx und Engels, Plechanow, Lenin und ihre Schüler sich wirklich erkühnten, »den philosophischen Marxismus mit dem naturalistischen Materialismus zu verknüpfen«, wie sich unsere Kritiker großartig ausdrücken und worüber sie so in Entsetzen geraten. Alle diese orthodoxen Marxisten waren bemüht, »die Natur dialektisch zu machen«. (Dieser bemerkenswerte Ge­dankensalto wird vom Genossen Reway ausgeführt.) Irgend­einen Sinn enthalten diese Worte natürlich nicht. Niemand hat je versucht, die Natur dialektisch zu machen. So können sich nur subjektive Idealisten ausdrücken, die mit Verachtung auf den »naturalistischen Materialismus« herabsehen. Vom Stand­punkt des dialektischen Materialismus ist die Natur an sich dialektisch. Und nur so weit ist auch unsere  Erkenntnis von der Natur dialektisch. Aber unsere Idealisten sind scheinbar gar nicht imstande, den objektiven Charakter des dialektischen Prozesses in der Natur und in der Geschichte zu begreifen. Der Leser sieht, welche idealistischen Zickzackwege der Marxist einschlagen muß, wenn er den philosophischen Materialismus ablehnt. In ihrem Bestreben, die Natur dialektisch »zu machen«, machten die orthodoxen Marxisten die Dialektik naturalistisch - sagen unsere strengen Kritiker. Denn der Ver­such, die Natur dialektisch zu sehen, führt dazu, daß die histo­rische Dialektik vernachlässigt wird. Das Bestreben, die Ge­schichte unter die Herrschaft der Natur zu bringen, führt die Verzerrung der dialektischen Struktur der Geschichte nach sich. Es ist deshalb kein Zufall, so folgern unsere Neuerer, daß unsere politisch-revolutionären Orthodoxen dem dogmatischen »bürgerlichen« Materialismus naiv-sorglos gegenüberstehen, während sie gleichzeitig in den Lehren von Kant, Mach usw. eine unmittelbare politische Gefahr erblicken. Es ist wohl auch kein Zufall, daß die Dialektik, als theoretisches Werkzeug, von jenen Marxisten so vollkommen beherrscht wird, bei denen sie angeblich in ihrer philosophischen Bedeutung verzerrt und nur äußerlich angewendet wurde, während jene Marxisten, die den primitiven Materialismus kritisch überwanden, die Dia­lektik nicht nur auf dem Gebiete der Philosophie, sondern auch auf dem Gebiete der politischen Theorie ablehnten. Das ist das Liedchen der Anhänger von Lukács. Sie verhalten sich scharf ablehnend zum »dogmatischen«, bürgerlichen Mate­rialismus, aber sie sind liebenswürdig-herablassend zum Ma­chismus und Kantianismus, die den primitiven Materialismus »kritisch« überwunden haben. Sie können es nicht begreifen, wie diese orthodoxen Marxisten sich so »sorglos« dem »bürger­lichen« Materialismus gegenüber verhalten und gleichzeitig gegen Machisten und Kantianer vorgehen. Indessen ist das gar nicht so schwer zu verstehen. Die orthodoxen Marxisten »zer­störten« und werden »zerstören« (dieser Ausdruck stammt von den Anhängern Lukács', die darüber Tränen vergießen) den Machismus und den Kantianismus deshalb, weil sie idea­listische und nicht materialistische Systeme sind. Für den Ma­terialismus treten sie deshalb ein, weil sie Marxisten, d. h. Materialisten sind. Sogar der französische, d. h. der bürgerliche Materialismus »geriet nach den Worten von Marx direkt in den Sozialismus und Kommunismus«. Derselbe Marx, den unser lieber Lukács und seine Anhänger jetzt vergebens in einen Idealisten umkrempeln wollen, war der Meinung, daß »nicht viel Verstand dazu nötig sei, um die Verbindung zu begreifen, die zwischen den Lehren des französischen Materia­lismus und dem Kommunismus bestehe. . .« Er sah ganz richtig im Materialismus sozialistische Strömungen, das logische Fun­dament des Kommunismus. Aber der alte französische Mate­rialismus war gekennzeichnet durch seinen metaphysischen und mechanischen Charakter. Das große Verdienst von Marx und Engels besteht darin, daß sie daraus den dialektischen Mate­rialismus formten. Lukács und seine Anhänger stehen mit ihren Zweifeln vor einer ihnen unbegreiflichen Tatsache. Wie konnte es geschehen, daß materialistische Marxisten(6), die allerdings die philosophische Natur der Dialektik »verdrehten« und sie nur äußerlich anwandten, diese Dialektik doch beherrschten und sich in der Politik auf den Boden des revolutionären Marxismus stellten, während Machisten und Kantianer, die den naiven Materialismus »kritisch« überwanden, die Dialektik über Bord warfen und sich als die vulgärsten Revisionisten erwiesen? Diese Tatsache zu erklären, sind sie nicht imstande, obwohl sie sie »nicht für zufällig« halten.

IV.

Also Engels und seine Anhänger lösen das Problem von den Beziehungen zwischen Denken und Sein, Subjekt und Objekt im Sinne der »naturalistischen Metaphysik«, d. h. im Sinne des Materialismus, was unseren Reformatoren sehr mißfällt. Sie verwerfen, als wahre »Orthodoxe« im Gegensatz zu irgend­einem Engels, den »naiven« Materialismus und vertreten die Identität von Subjekt und Objekt, von Denken und Sein. Hier­bei berufen sie sich, wie wir bereits gesehen haben, auf Marx, dessen Lehren von Engels verdreht oder nicht verstanden wur­den. Wir haben uns bereits überzeugt, inwieweit dies zutrifft. Die ganz unbegründete Gegenüberstellung von Engels und Marx muß entschieden zurückgewiesen werden. Niemals stand Marx auf dem Standpunkt der Identität von Subjekt und Ob-jekt, von Denken und Sein. Das ist reinster Idealismus, der von rechtgläubigen Hegelianern in der Art eines Lukács und seiner Anhänger verkündet werden kann, der aber Marx vollkommen fremd war. Lenin hat ganz richtig gegen eine solche Fragestel­lung durch A. Bogdanow, mit welchem Lukdcs überhaupt sehr vieles gemein hat, protestiert. Über die Identität von Sein und Erkenntnis schrieb Lenin:

»Das gesellschaftliche Sein und das gesellschaftliche Bewußtsein sind nicht identisch, ebensowenig, wie Sein überhaupt und Bewußtsein überhaupt identisch sind. Daraus, daß die Menschen als bewußte We­sen in gesellschaftlichen Verkehr treten, folgt keineswegs, daß das gesellschaftliche Bewußtsein mit dem gesellschaftlichen Sein identisch ist. Wenn die Menschen miteinander in Verkehr treten, sind sie sich in allen einigermaßen komplizierten Gesellschaftsformationen - und insbesondere in der kapitalistischen Gesellschaftsformation - nicht be­wußt, was für gesellschaftliche Verhältnisse sich daraus bilden, nach welchen Gesetzen sie sich entwickeln usw. . . . Das gesellschaftliche Bewußtsein widerspiegelt das gesellschaftliche Sein - darin besteht die Lehre von Marx. Die Widerspiegelung kann eine annähernd rich­tige Kopie des Widergespiegelten sein, aber es ist unsinnig, hier von Identität zu sprechen. Das Bewußtsein widerspiegelt überhaupt das Sein - das ist eine allgemeine These des gesamten Materialismus.«(7)

Alle orthodoxen Marxisten stehen auf folgendem von Lenin vertretenen Standpunkt: Sein und Denken sind nicht identisch sondern voneinander verschieden. Das Sein existiert unabhängig von der Erkenntnis als eine Art objektive Realität. Die Erkenntnis oder das Denken widerspiegeln nur das Sein. Wegen dieser Gleichsetzung von Sein und Denken griff Lenin die Ma­chisten mit ganzer Schärfe an. Bei Lukács und seinen Anhängern hat die Fragestellung von der Identität von Denken und Sein, von Subjekt und Objekt einen noch mehr idealistischen Charak­ter als bei den Machisten. Es ist uns nicht möglich, in dem Rah­men unserer Abhandlung ausführlicher bei diesem Problem zu verweilen. Wir wollen nur, um Mißverständnissen vorzubeu­gen, bemerken, daß man den Unterschied von Sein und Denken nicht metaphysisch, sondern dialektisch verstehen muß. Zwi­schen Sein und Denken besteht kein absoluter Abgrund, aber es besteht auch nicht die idealistische Identität, von der Lukács spricht. Die grundlegende historisch-materialistische Richtlinie, nach welcher die Erkenntnis durch das Sein bestimmt wird, er­fährt durch die Philosophie der Identität von Erkenntnis und Sein eine vollkommene Verzerrung. Das zeigt sich namentlich darin, wie Lukács das »Problem« des Proletariats behandelt. Die Anhänger von Lukács befriedigt nicht die von Marx, En­gels und Plechanow gefundene materialistische Entscheidung der Frage von den Beziehungen zwischen Denken und Sein. Be­trachten wir einmal, etwa an einem Beispiel von Plechanow, wie die Materialisten dieses Problem auslegen.

»Ich bin >Ich< für mich selbst und zugleich >Du< für den anderen. Ich bin Subjekt und gleichzeitig Objekt. Es muß hier außerdem bemerkt werden, daß Ich nicht das abstrakte Wesen ist, mit welchem die idea­listische Philosophie operiert. Ich ist ein wirkliebes Wesen; mein Kör­per gehört zu meinem Wesen, ja, noch mehr - mein Körper als Ganzes ist mein Ich, mein wirkliches Wesen. Nicht das abstrakte Wesen denkt, sondern gerade dieses wirkliche Wesen, dieser Körper. Also im Gegensatz zu dem, was die Idealisten behaupten, ist das wirklich materielle Wesen Subjekt, und das Denken Prädikat. Darin besteht auch die einzig mögliche Lösung dieses Widerspruches zwischen Sein und Denken, den der Idealismus so vergeblich zu lösen versucht. Hier wird nicht ein einziges Element der Widersprüche beseitigt, beide werden bewahrt und zeigen ihre wirkliche Ein­heitlichkeit.«(8)

Uns scheint, daß das die einzig richtige dialektische Lösung der Frage ist. Hier wird nicht nur das Moment der Einheitlichkeit, sondern auch das Moment der Gegensatzmäßigkeit unterstri­chen. Es fragt sich, warum diese materialistische und gleichzeitig dialektische Fragestellung Lukács und seine Anhänger nicht zufriedenstellt. Eine vernünftige Antwort auf diese Frage geben sie nicht. Wir würden aber sehr gerne wissen, wodurch sie die­sen »naturalistischen Materialismus« ersetzen wollen, j Indem die Anhänger von Lukács gegen die »Übertragung« der Dialektik auf die Natur protestieren, stellen sie wirklich lächer­liche Ansichten auf. Einesteils behaupten sie, daß die materiali­stisch gesehene Natur undurchdringlich ist; sie bleibt ein dem Subjekt metaphysisch gegenübergestelltes Objekt, das sozusagen für das Subjekt unsichtbar ist. Wie ist diese Behauptung zu ver­stehen? Kann man es leugnen, daß der Mensch durch seine Tätigkeit die Natur ändert? Oder ist die Natur der mensch­lichen Erkenntnis unzugänglich? Wenn dem aber nicht so ist, dann ist es dumm, von der »Undurchdringlichkeit« der Natur zu sprechen. Eine andere tiefsinnige Erklärung läuft darauf hinaus, daß wir die Natur durch das »Hineintragen« der Dia­lektik »historisieren«, daß eine solche »Historisierung« oder Dialektisierung der Natur unbedingt zur Naturalisierung der Historie (oder Dialektik) führt. Was soll man zu einer solchen tiefsinnigen Argumentation sagen? Augenscheinlich sind unsere orthodoxen Hegelianer geneigt, in der Natur irgendetwas Stein-Gewordenes zu sehen, das den Gesetzen der historischen Ent­wicklung nicht unterworfen ist. Aber die Behauptung solcher Dummheiten in unseren Tagen ist unverzeihlich. Niemand an­deres als Marx, auf dessen Autorität die Lukács-Anhänger sich so gerne berufen, hat gesagt, daß es im Grunde genommen nur eine Wissenschaft gibt - die Geschichte, die sich teilt in die Ge­schichte der Natur und in die Geschichte der Menschen(9). Das schließt selbstverständlich nicht aus, daß die Geschichte der Natur von ganz anderen Gesetzen gelenkt wird als die Gechichte der Menschen. Was bleibt also von der Behauptung Lukács übrig, daß Marx die Dialektik aus der Natur verjagt habe? Auch nicht ein Jota - denn diese Behauptung hat sich Lukács aus den Fingern gesogen. Wir haben bereits gehört, daß der »Anti-Dühring«, in welchen nach den Worten von Lukács eine Verdrehung des Marxismus festzustellen ist, eine Vorredigierung durch Marx selbst erfuhr; das heißt also, daß Marx seine eigenen Lehren selbst verdreht hat. \ Wer den Briefwechsel zwischen Marx und Engels kennt, der weiß, daß sie während eines Zeitraums von 40 Jahren in allen wichtigen Fragen der Theorie und Praxis des Marxismus und besonders in der Frage der Dialektik in der Natur ihre Mei­nungen ausgetauscht haben. Dieser Briefwechsel beweist uns noch einmal, daß zwischen Marx und Engels eine vollkommene Ubereinstimmung in allen kritischen Fragen herrschte. Engels befaßte sich speziell mit Fragen der Naturwissenschaft, wäh­rend Marx sich vollständig dem Studium der Gesetze der gesell­schaftlichen Entwicklung widmete. Aber diese Arbeitsteilung war begleitet von einem gegenseitigen Gedankenaustausch, einer sozusagen gegenseitigen Kontrolle. Marx informierte En­gels aufs eingehendste über alle seine Arbeiten, und Engels be­riet sich in allen Fragen mit Marx. Besonders die Frage von der Dialektik in der Natur wird von Engels in seinen Briefen öfters angeschnitten. In den Antworten von Marx finden wir immer seine volle Übereinstimmung mit Engels. Es ist doch klar, daß Marx, wenn er die Ansichten von Engels betreffs der »Dialek­tik in der Natur« nicht geteilt hätte, dies seinem Freund irgend­wie zu verstehen gegeben hätte. Wir finden gerade das Gegen­teil. So erwähnt z. B. Engels in einem Briefe vom 16. Juni 1867 die neue Molekulartheorie, die er Hoffmann zuschreibt: »Das Molekül als kleinster selbständiger Existenz fähigster Teil der Materie ist eine ganz rationelle Kategorie, ein >Knoten<, wie Hegel sagt, in der unendlichen Reihe der Teilungen, der sie nicht abschließt, aber einen qualitativen Unterschied setzt.« (Der Briefwechsel zwischen Friedrich Engels und Karl Marx, 1921, III. Band, S. 381 [MEW Bd. 31, S. 304].) Als Antwort auf diesen Brief schreibt Marx am 22. Juni 1867: »Mit Hoff­mann hast Du ganz recht. Du wirst übrigens aus dem Schluß meines Kapitels III, wo die Verwandlung des Handwerksmei­sters in Kapitalist - infolge bloß quantitativer Änderungen -angedeutet wird, ersehen, daß ich dort im Text Hegels Entdek-kung über das Gesetz des Umschlags der bloß quantitativen Änderung in qualitative zitiere als gleich bewährt in Geschichte und Naturwissenschaft« [S. 306] (10). Marx spricht also ganz be­stimmt von einem dialektischen Gesetz, das sowohl durch die Geschichte als auch durch die Natur bekräftigt wird.. Man könnte noch eine ganze Reihe anderer Tatsachen anführen als Beweis dafür, daß zwischen Marx und Engels in der Frage von der Dialektik in der Natur vollkommene Übereinstimmung herrschte. Wir glauben aber, daß dies überflüssig und jedem Marxisten auch ohne besondere Zitate klar ist.

V.

Wir müssen noch einige Worte über die Dialektik im allge­meinen sagen, weil Genosse Lukács da mit seiner besonderen Auffassung hervortritt, daß die orthodoxen marxistischen Ma­terialisten mit Engels an der Spitze nicht nur Marx, sondern Hegel »verdreht« haben. Lukács fühlt sich berufen, nicht nur den echten Marx, sondern auch den echten Hegel wieder von den »Verdrehungen« der Orthodoxen zu reinigen. Worin be­steht das Wesen der Dialektik? Auf diese Frage gibt Lukács fol­gende Antwort: Die Grundlage der Dialektik ist die gegensei­tige Einwirkung von Subjekt und Objekt, die Einheitlichkeit von Theorie und Praxis, und die historische Veränderung des Substrats der Kategorien, als Grundlage ihrer Änderung im Denken. Stimmt das? Nein, das stimmt nicht. Sehen wir einmal nach, was Hegel unter der Dialektik versteht. Hegel sagt in seiner Enzyklopädie (§ 81), daß die wirkliche Dialektik der innere und fortschreitende Übergang einer Erklärung in eine andere ist, in welcher zutage tritt, daß diese Erklärungen des Verstandes einseitig und eng begrenzt sind, d. h. eine Negierung ihrer selbst enthalten. Seinen besonderen Charakter bekommt das alles dadurch, daß es sich selbst aufhebt. Ferner sagt Hegel im ersten Zusatz zu diesem Paragraphen, es sei von höchster Wichtigkeit, »das Dialektische gehörig aufzufassen und zu erkennen«.

»Es ist dasselbe überhaupt das Prinzip aller Bewegung, alles Lebens und aller Betätigung in der Wirklichkeit. Ebenso ist das Dialektische auch die Seele alles wahrhaft wissenschaftlichen Erkennens. In unse­rem gewöhnlichen Bewußtsein erscheint das Nicht-Stehenbleiben bei den abstrakten Verstandesbestimmungen als bloße Billigkeit, nach dem Sprichwort: >leben und leben lassen», so daß das eine gilt und auch das andere. Das Nähere aber ist, daß das Endliche nicht bloß von außen beschränkt wird, sondern durch seine eigene Natur sich aufhebt und durch sich selbst in sein Gegenteil übergeht . . . Wie sehr nun auch der Verstand sich gegen die Dialektik zu sträuben pflegt, so ist dieselbe doch gleichwohl keineswegs als bloß für das philoso­phische Bewußtsein vorhanden zu betrachten, sondern es findet sich vielmehr dasjenige, um was es sich hierbei handelt, auch schon in allem sonstigen Bewußtsein und in der allgemeinen Erfahrung. Alles, was uns umgibt, kann als Beispiel des Dialektischen betrachtet werden. Wir wissen, daß alles Endliche, anstatt ein Festes und Letztes zu sein, vielmehr veränderlich und vergänglich ist, und dies ist nichts anderes als die Dialektik des Endlichen, wodurch dasselbe, als an sich das Andere seiner selbst, auch über das, was es unmittelbar ist, hinausge­trieben wird und in sein Entgegengesetztes umschlägt.«

Die Dialektik ist also nach der Lehre von Hegel (und selbst­verständlich auch nach der Lehre des orthodoxen Marxismus) nicht etwas Äußerliches in bezug auf den Gegenstand, keine Bewegung unseres subjektiven Gedankens, kein mechanischer Kampf sich in entgegengesetzten Richtungen bewegender Kräf­te, wie es Dühring annimmt, sondern das innere Leben der Gegensätze selbst, der dem Gegenstande immanente Prozeß der Veränderung und Vernichtung. Deshalb sagt Hegel, daß die Veränderung und die Vernichtung des Gegenstandes seine Dia­lektik ist. In dem gleichen Sinne spricht Engels von dem Gegensatz, der objektiv in den Dingen und Erscheinungen selbst vor­handen ist(11).

In Zusatz 2 zum § 81 verweist Hegel weiter auf die positiven Resultate der Dialektik. Die Philosophie verweilt nicht bei dem negativen Resultat der Dialektik. Das Resultat der Dialek­tik ist die Negierung, aber diese Negierung ist zugleich eine Be­jahung, weil sie in sich das als aufgehoben enthält, von dem sie hervorgegangen ist, und getrennt davon nicht existiert. Diese Einheit der beiden einander gegensätzlichen Erklärungen bildet das höhere, sogenannte positiv-vernünftige Moment, zum Un­terschied von den zwei niederen Momenten der Idee: der ab­strakten und der speziell dialektischen oder negativ-vernünfti­gen(12)

Dieselben Gedanken entwickelt Hegel auch in der Wissenschaft der Logik (und in der Phänomenologie des Geistes). In dem Schlußkapitel »Die absolute Idee« entwickelt Hegel wieder den Gedanken, daß das Wesen der Dialektik auf der Voraussetzung und der Beseitigung der den Begriffen (und auch den Dingen) eigenen Widersprüche beruht. Die Vorwärtsbewegung vollzieht sich über drei Momente und zwei Verneinungen: Voraussetzung des Begriffes, Gegensatz und Lösung des Gegensatzes - weshalb Hegel die Dialektik auch Methode der absoluten Vernei­nung nennt. »Das Unmittelbare ist nach dieser negativen Seite in dem Andern untergegangen, aber das Andere ist wesentlich nicht das leere Negative, das Nichts, das als das gewöhnliche Resultat der Dialektik genommen wird, sondern es ist das Andere des Ersten, das Negative des Unmittelbaren; also ist es bestimmt als das Vermittelte, - enthält überhaupt die Be­stimmung des Ersten in sich. Das Erste ist somit wesentlich auch im Andern aufbewahrt und erhalten.« (Hegel, Wissenschaft der Logik, II. Teil, S. 494, Ausg. Lasson, 1923.)

Engels erklärt ganz im Sinne von Hegel, daß die Dialektik in nichts anderem bestehe als in der Anschauung, daß man die Welt nicht betrachten dürfe als einen Komplex fertiger Dinge, son­dern als einen Komplex von Prozessen; die scheinbar unverän­derlichen Dinge erfahren ebenso wie ihre gedanklichen Reflexe - die Begriffe - ununterbrochene Veränderungen, entstehen und verschwinden beständig, und die weitere Entwicklung bahnt sich schließlich bei aller scheinbaren Zufälligkeit und trotz zeit­weiliger Rückströmungen ihren Weg. Und in voller Uberein­stimmung mit Hegel lehrt Engels, daß das innere Stimulans oder Prinzip jeder Entwicklung - der anfängliche Gegensatz ist. In dieser Frage besteht also zwischen Hegel einerseits und Marx und Engels andererseits volle Übereinstimmung.

Sie sehen die Welt - die Natur und die Geschichte - als dialek­tischen Entwicklungsprozeß, in dessen Verlauf alles Endliche entsteht, sich ändert und sich vernichtet, dank der ihm eigenen inneren Gegensätze. Das ist das Wesen der Dialektik. Jetzt taucht die Frage auf von dem Zusammenhang der Kategorien im System der Dialektik, von der relativen Bedeutung jeder einzelnen Kategorie, und besonders die Frage von der Stellung der Kategorien des Subjekts und Objekts, der Theorie und der Praxis. Diese Kategorien sind von Hegel auch in dem letzten Teil der Logik entwickelt. Gerade diese Kategorien hat Lukács als die wesentlichsten herausgegriffen. Leider ist es uns diesmal nicht möglich, uns mit der Analyse und der relativen Bewer­tung der verschiedenen Kategorien bei Hegel und im System des Marxismus zu befassen. Wir möchten nur unterstreichen, daß Hegel stets den Entwicklungsprozeß in allen seinen Momenten in Betracht gezogen hat, daß er, den Gipfel der absoluten Idee erklimmend, zugleich zeigte, daß der gesamte Entwicklungs­prozeß ihren Inhalt bildet. Die Vorwärtsbewegung beginnt von abstrakten und einfachen Begriffen oder Kategorien und geht in die nächsten Begriffe über, die immer reicher und kon­kreter werden. Hegel sagt, daß auf jeder Stufe des erweiterten bestimmten Begriffes die ganze Masse seines früheren Inhalts auftaucht, von welchem bei der dialektischen Entwicklung nicht nur nichts verloren geht, sondern der alles neu Erworbene mit sich trägt und sich in sich bereichert und verdichtet. Das ist auch im großen und ganzen der Standpunkt von Marx. »Die einfa­chen Kategorien (sind) Ausdruck von Verhältnissen, in denen das unentwickelte Konkrete sich realisiert haben mag«; die konkrete Kategorie ist nach den Worten von Marx der geistige Ausdruck des vielseitigeren Verhältnisses. Das entwickeltere Konkrete bewahrt die einfache Kategorie »als ein untergeord­netes Verhältnis«. [MEW,Bd. 13,S. 633.] Es würde uns zu weit führen, wenn wir die von Marx in den angeführten Worten geäußerten Gedanken eingehend analysieren wollten; wir müs­sen nur unterstreichen, daß man vom Standpunkt der dialekti­schen Methode die Resultate nicht von dem gesamten Entwick­lungsprinzip trennen darf, dessen Ausdruck ja das Resultat ist. Deshalb werden alle »niedrigen« Kategorien auf den höheren Entwicklungsstufen bewahrt und nicht verändert, wie das offenbar Lukács glaubt, wenn er im gesellschaftlich-historischen Leben »der gegenseitigen Einwirkung von Subjekt und Objekt«, der Einheit von Theorie und Praxis entscheidende Bedeutung beimißt, ganz zu schweigen davon, daß diese letzten dialekti­schen Gegensätze von ihm falsch verstanden werden. Nach Lukács wird die »Praxis« überwunden nur durch die Theorie, nur durch die Erkenntnis, und nicht durch die Selbstentwicklung der Wirklichkeit, von der die Erkenntnis ja ein Teil ist. Was die »gegenseitigen Beziehungen von Subjekt und Objekt« be­trifft, so nehmen sie bei ihm in voller Übereinstimmung mit seiner ganzen idealistischen Konzeption identische Bedeutung an. Es ist aber bemerkenswert, daß selbst der absolute Idealist Hegel, bei dem manchmal die Dialektik über den Idealismus triumphiert, vor der metaphysischen Auffassung der Einheit­lichkeit von Subjekt und Objekt warnte. So sagt er an einer Stelle der Enzyklopädie, daß die Erklärung »das Absolute ist die Einheit des Subjektiven und des Objektiven« richtig ist, aber nicht vollständig, weil hier nur die Einheit betont wird, während das Subjektive und das Objektive nicht nur miteinan­der identisch, sondern auch voneinander verschieden sind. (Zu­satz zu § 82.) Wir haben bereits gesehen, wie die Materialisten die Einheit von Subjekt und Objekt, von Denken und Sein auf­fassen. In den oben angeführten Zitaten von Marx und Engels glaubt Lukács, den Beweis dafür gefunden zu haben, daß die Begründer des Marxismus Denken und Sein miteinander identi­fizieren. Wie ist aber diese »Identität« zu verstehen? Unserer Meinung nach ist sie so zu verstehen, daß unsere Idee der Wirk­lichkeit, und unser subjektives Denken dem objektiven Sein entspricht. In seinem Brief an Conrad Schmidt vom 12. März 1895 schreibt Engels:

»Die Identität von Denken und Sein, um mich hegelsch auszudrücken, deckt sich überall mit Ihrem Beispiel von Kreis und Polygon. Oder die beiden, der Begriff einer Sache und ihre Wirklichkeit, laufen ne­beneinander wie zwei Asymptoten, sich stets einander nähernd und doch nie zusammentreffend. Dieser Unterschied beider ist eben der Unterschied, der es macht, daß der Begriff nicht ohne weiteres, un­mittelbar, schon die Realität, und die Realität nicht unmittelbar ihr eigner Begriff ist.« [MEW Bd. 39, S. 431].

Der Begriff fällt nicht unmittelbar mit der Wirklichkeit zusam­men, aber er folgt aus ihr; die Wirklichkeit entspricht den Re­sultaten des Denkens; der Begriff entspricht der Wirklichkeit, indem er sich ihr asymptotisch nähert, wie sich Engels ausdrückt. Denselben Gedanken entwickelt, wie wir gesehen haben, auch Lenin. Wenn also Lukács das Wesen der Dialektik in der Iden­tität von Sein und Denken sieht, dann begeht er einen groben Fehler und beruft sich hierbei vergebens auf Marx und Engels. Im Hegeischen System bilden die Erkenntnis sowie die Idee des Guten objektive Stufen in der Entwicklung der absoluten Idee. Sie hat sich selbst zum Gegenstand. Die Einheitlichkeit des Subjektiven und Objektiven bildet eigentlich die Idee. Die Erkenntnis ist die theoretische Tätigkeit der Idee; die Forderung, das Gute zu verwirklichen, ist die praktische Tätigkeit der Idee. Die absolute Idee ist die Einheit von theoretischer und praktischer Idee. Gestützt auf Hegel, stellt Lukács als höhere Kategorie des gesellschaftlich-historischen Lebens die »Einheit­lichkeit von Subjekt und Objekt«, d. h. die Erkenntnis oder die Idee auf. Lukács entwickelt seinen Gedanken nicht bis ans Ende, aber er ist trotzdem nicht schwer zu erraten. Seine Auffassung von den gegenseitigen Beziehungen zwischen Theorie und Pra­xis - oder, wie sich Hegel ausdrückt, von der Einheit von Er­kenntnis und Leben - erinnert an die Hegeische absolute Idee, die eben die Einheitlichkeit der theoretischen und praktischen Idee bildet, denn Lukács faßt diese gegenseitigen Beziehungen nicht materialistisch, sondern, wie Hegel, idealistisch auf. Bei Lukács bildet also die Erkenntnis und die Idee die Basis für die sozialhistorische Dialektik. Nachdem er mit seiner Umkremp-lung des Marxismus im idealistischen Geist fertiggeworden ist, schlägt er hilflos die Hände zusammen und fragt: Wie konnte es geschehen, daß Engels gerade das Wichtigste in der Dialektik nicht bemerkte, daß er sie nicht krönte mit der »Einheit von Subjekt und Objekt«? Jetzt verstehen wir auch, warum Lukács die Dialektik in der Natur verwirft. Da sie nun einmal zur »ge­genseitigen Einwirkung von Subjekt und Objekt«, zum Er­kenntnisprozeß führt, gibt es für sie natürlich keinen Platz in der Natur(13).

Man könnte uns entgegenhalten, daß Lukács unter »gegen­seitiger Einwirkung von Subjekt und Objekt« nicht den Prozeß der Erkenntnis, sondern etwas ganz anderes versteht. Darauf können wir antworten, daß der einzige materialistische Sinn dieser »gegenseitigen Einwirkung« nur sein kann: ihre Auf­fassung als Prozeß der Arbeit, als Prozeß der Produktion, als Tätigkeit, als Kampf der Gesellschaft mit der Natur. Der Mensch ändert nicht nur die Form dessen, was durch die Natur geschaffen ist; in dem Erzeugnis der Natur verwirklicht er zugleich auch sein bewußtes Ziel, das wie ein Gesetz die Me­thode und den Charakter seiner Handlungen bestimmt und dem er seinen Willen unterordnen muß - sagt Marx. Die Geschichte ist nichts anderes als eine ununterbrochene Veränderung der menschlichen Natur. Indem der Mensch auf die äußere Natur einwirkt, ändert er im Prozeß dieser Einwirkung seine eigene Natur. Die Produktion der Idee und der Begriffe befindei-sich in engster Abhängigkeit und im Zusammenhang mit der materiellen Tätigkeit der Menschen und mit ihren materiellen Beziehungen. Das Sein der Menschen ist der wirkliche Prozeß ihres Lebens. Die Erkenntnis kann nichts anderes sein als die Erkenntnis des Seins. Der Zusammenhang, (Subjekt) mit der Natur (Objekt), die Einheit beider, ist die Voraussetzung der Erkenntnistheorie; der Zusammenhang der menschlichen Gesellschaft mit der Natur - und djeser Zusam­menhang wird verwirklicht durch die Produktion des materiel­len Lebens - bildet die Grundlage und den Ausgangspunkt jedes historischen Prozesses. Unter solchen Umständen bedeutet »ge­genseitige Einwirkung von Subjekt und Objekt« - menschliche Tätigkeit, Arbeit, Produktionsprozeß. Wir können deshalb ganz bestimmt sagen, daß die »Kategorie« der Produktivkräfte, der Produktion, eine wirkliche »Einheit« von Subjekt und Objekt des historischen Prozesses bildet, denn in diesen »Kate­gorien« ist der unmittelbare Zusammenhang von Subjekt (Ge­sellschaft) und Objekt (Natur), ihre wirkliche materielle Einheit gegeben. Die Einseitigkeiten des Subjekts und des Objekts wer­den durch den realen Prozeß, durch die menschlich-empfindende Tätigkeit, durch die Praxis, aufgehoben. Welches ist die Praxis des gesellschaftlichen Menschen? Der Produktionsprozeß. »Die Produktion«, sagt Marx, »produziert nicht nur einen Gegenstand für das Subjekt, sondern auch ein Subjekt für den Gegenstand.« [MEW Bd. 13, S. 624.] Wenn wir den Ausdruck »gegenseitige Einwirkung von Subjekt und Objekt« im erweiterten Sinn nehmen, so ist es klar, daß er die zentrale »Kategorie« des gesamten Marxismus vorstellt, daß die Produktion die konkrete Einheit des gesamten gesellschaftlich-historischen Prozesses ist. Wenn das aber zutrifft, wie kann man dann, so wie Lukács, mit der kategorischen Erklärung kommen, daß die »gegenseitige Einwirkung von Subjekt und Objekt« im historischen Prozeß bei Engels nicht nur nicht das wichtigste Problem der Dialektik bildet, sondern daß der arme Engels diese Frage sogar nirgends berührt habe, weshalb er auch von Lukács so streng gerügt wird. Offenbar versteht Genosse Lukács unter dieser »gegensei­tigen Einwirkung« wieder etwas ganz besonderes.

Eine weitere Sünde begeht Engels - wenn man Lukács glauben darf - dadurch, daß er die »Einheit von Theorie und Praxis« nicht begriffen hat. Und Lukács belehrt Engels über die außer­ordentliche Wichtigkeit dieser Einheit. Was ist aber unter der Einheit von Theorie und Praxis zu verstehen? Jeder Student weiß, daß Marx und Engels gelehrt haben, daß sich ihr Mate­rialismus nicht beschränkt auf die Erklärung der Welt, sondern sich die Aufgabe stellt, die Welt zu verändern; daß die revo­lutionäre Theorie aufs engste verbunden ist oder verbunden sein muß mit der revolutionären Praxis. Entsprechend einer solchen Auffassung der Einheit von Theorie und Praxis bezeichneten sie den Kommunismus als praktischen Materialismus und sahen in ihrer eigenen Theorie das unmittelbare Resultat der revolutio­nären Bewegung. Die wirkliche Einheit von Theorie und Praxis wird verwirklicht durch die praktische Veränderung der Wirk­lichkeit, durch die revolutionäre Bewegung, die sich auf die theoretisch entdeckten Entwicklungsgesetze der Wirklichkeit stützt. Es ist dumm und lächerlich, Engels dieses ABC erst bei­bringen zu wollen. Aber wenn zwei dasselbe tun, ist es nicht immer dasselbe! Lukács behauptet, daß Engels diese Frage nicht einmal berührt habe, das heißt also, daß Lukács unter »Einheit von Theorie und Praxis« wieder etwas ganz besonderes ver­steht. Die Einheit von Subjekt und Objekt versteht er als idealistische Identität so, daß das Objekt von dem Subjekt verschlungen wird. Die Einheit von Theorie und Praxis interpretiert er so, daß sich die Praxis in der Theorie auflöst und von ihr überwunden wird. Es ist selbstverständlich, daß weder Marx noch Engels jemals diesen idealistischen Standpunkt eingenommen haben.

Mit unseren, in aller Eile dargelegten Bemerkungen haben wir nur einige der wichtigsten Probleme berührt und behalten uns vor, auf das Buch des Genossen Lukács bei anderer Gelegen­heit zurückzukommen.

Anmerkungen

1) H. Weendorf, Dialektik und materialistische Geschichtsauffassung, Historische Vierteljahrsschrift, XXI. Jahrg. 2. H.
2) Werner Sombart, Der Begriff der Gesetzmäßigkeit bei Marx, Schmollers Jahrbuch, 47. Jahrg. 1924.
3) Ibidem, S. 30.

4) Siehe sein Buch Marxismus und Philosophie [1923].
5) Siehe auch Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, 1923, S. 158 (russisch) [Kap. III, § 6]
6) Wir denken hier natürlich nicht an E. Bernstein, den Lukács infolge ir­gendeines wunderlichen Mißverständnisses zu den Materialisten zählt. Tut er dies vielleicht deshalb, um die Materialisten zu kompromittieren?
7) N. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, 1923, S. 273 (russisch) [Dietz, Berlin 1967, S. 326].
8) G. Plechanow, Grundfragen des Marxismus (Ausgabe von Rjasanow, 1922, S. 19, russisch) [Die Grundprobleme des Marxismus, Wien 1929, S. 19 f.].
9) Siehe Marx- und Engels-Archiv, red. v. D. Rjasanow, Bd. I (Marx und Engels, »Über Feuerbach«).
10) »Hier, wie in der Naturwissenschaft, bewährt sich die Richtigkeit des von Hegel in seiner Logik entdeckten Gesetzes, daß bloß quantitative Ver­änderungen auf einem gewissen Punkt in qualitative Unterschiede umschla­gen.« (K. Marx, Kapital, 1920, S. 285 [Dietz, Berlin 1953, Bd. I, S. 323].
11) Engels, Anti-Dühring.
12) Siehe auch Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Ausgabe Lasson, 1911: »Die höhere Dialektik des Begriffes ist, die Bestimmung nicht bloß als Schranke und Gegenteil, sondern aus ihr den positiven Inhalt und Resultat hervorzubringen und aufzufassen, als wodurch sie allein Entwickelung und immanentes Fortschreiten ist. Diese Dialektik ist dann nicht äuße­res Tun eines subjektiven Denkens, sondern die eigene Seele des Inhalts, die organisch ihre Zweige und Früchte hervortreibt. Dieser Entwicklung der Idee als eigener Tätigkeit ihrer Vernunft sieht das Denken als subjektives, ohne seinerseits eine Zutat hinzuzufügen, nur zu. Etwas vernünftig betrach­ten heißt, nicht an den Gegenstand von außen her eine Vernunft hinzu­bringen und ihn dadurch bearbeiten, sondern der Gegenstand ist für sich selbst vernünftig; ... die Wissenschaft hat nur das Geschäft, diese eigene Arbeit der Vernunft der Sache zum Bewußtsein zu bringen.« (§ 31, S. 44 [ed. Hoffmeister, 195$, S. 47])
13) ». . . die >Gegensätze in Natur und Geschientes als ob das zwei voneinander getrennte >Dinge< seien, der Mensch nicht immer eine geschichtliche Natur und eine natürliche Geschichte vor sich habe . . .«, sagt Marx. Siehe Marx und Engels, »Über L. Feuerbach« K. Marx- und F. Engels-Archiv, red. von D. Rjasanow, Bd. I, S. 217 (russisch) [= Die deutsche Ideologie, Stuttgart 1953, S. 61].

Editorische Hinweise:

Erstveröffentlichung in: Arbeiterliteratur, Wien 1924, Heft 10, S.91-116; dort gesperrt gedruckter Text wird hier kursiv dargestellt.

Dazu siehe auch:

Orthodoxer Marxismus
Lukács-Kritik von Ladislaus Rudas, erschienen 1924 in ARBEITERLITERATUR Heft 9

Die Klassenbewußtseinstheorie von Lukács (Teil 1)
Lukács-Kritik von Ladislaus Rudas, erschienen 1924 in ARBEITERLITERATUR Heft 10
Die Klassenbewußtseinstheorie von Lukács (Teil 2)
Lukács-Kritik von Ladislaus Rudas, erschienen 1924 in ARBEITERLITERATUR Heft 10