„Beweise und
Syllogismen allein genügen nicht zur Widerlegung des
Idealismus.
Nicht um theoretische Argumente handelt es
sich hier."
(N. Lenin:
Materialismus und Empiriokritizismus.)
[Lesehinweis: alle Unterstreichungen
sind im Original gesperrt gedruckte Texte / red. trend]
Georg Lukács hat eine
Artikelsammlung unter dem Titel „Geschichte und
Klassenbewußtsein" veröffentlicht. Die grundlegenden
Probleme, die von ihm in diesem Buche behandelt werden,
erfordern, daß man dazu Stellung nimmt.
Diese Stellungnahme ist
aus verschiedenen Gründen überaus schwierig im Rahmen
eines Artikels. Erstens behandelt Lukács die
schwierigsten Probleme des Marxismus, und er ist ein
Mann, der mit der ganzen Rüstung der modernen
Philosophie ans Werk geht. Sowohl diese Tatsache
selbst, wie die Vergangenheit des Gen. Lukács
erforderte eine gründliche Auseinandersetzung. In der
philosophischen Welt Deutschlands genoß Genosse L.,
lange bevor er Kommunist geworden ist, einen
wohlerworbenen Namen als Philosoph, und zwar als
Philosoph, der seine eigenen Wege geht, selbständig
denkt, und nicht nur das nachkaut, was große Denker der
Nachwelt hinterließen. Dann wurde Genosse L. Kommunist.
Als solcher arbeitete er schon vor der ungarischen
proletarischen Revolution illegal für unsere Partei.
In und nach der ungarischen Revolution stand er immer
auf einem exponierten Posten, keine Minute lang
schwankte er, war immer ein erklärter Feind allem
Opportunismus. Kann seine philosophische Vergangenheit
ein leises Mißtrauen erwecken über seine
philosophische Zukunft, so hat er als Kommunist auf den
gefährlichsten Posten, sowohl als Volkskommissar wie
auch als Soldat an der Front, für die proletarische
Revolution gekämpft und sich auch sonst bewährt.
Alles dies sage ich nicht
deshalb, als wollte ich über seine wissenschaftliche
Leistung mit Argumenten kommen, für oder gegen, die
außerhalb des wissenschaftlichen Gebietes liegen. Da
aber die Schriften des Genossen L., nach meiner
Überzeugung, manches enthalten, das ich als Marxist
nicht nur nicht annehme, sondern ganz energisch
zurückweise, so muß ich den Quellen nachgehen, woher
diese — ganz ausdrücklich — Irrtümer stammen, und die
Quelle finde ich in der philosophischen Vergangenheit
L.'s. Diese Vergangenheit liegt — nicht geographisch,
sondern philosophisch — in Heidelberg, wo er dem Kreise
Max Webers, Emil Lasks usw. sehr nahe stand. Max Webers
Soziologie berührt sich aber eng mit Ricken.
Jedem Marxisten ist es wieder bekannt, was die
Rickertsche Richtung bedeutet. Sie ist eine
idealistische, agnostizistische, reaktionäre
Philosophie. Und ich behaupte: hat Gen. L. mit seiner,
sozialen Vergangenheit gründlich gebrochen, so ist
das nicht der Fall mit seiner philosophischen
Vergangenheit. So manche idealistische,
agnostizistische alte Bekannte kann man begrüßen
(besser gesagt: mit Befremdung konstatieren) als
Elemente in der neuesten Schrift des Gen. L. Gelingt es
mir, dies zu zeigen, so wäre es dringend erwünscht, daß
Gen. L. seine Ansichten revidiert, mit seinem jetzigen
philosophischen Gewissen abrechnet Es ist dies eine
schwere, aber nicht unmögliche Sache.
Der Mann und seine
philosophische Herkunft machen also gleicherweise eine
Erledigung von kurzer Hand, im Rahmen eines Artikels,
schwer. Gerade die Rickertsche Richtung ist eine
überaus scharfsinnige, schulgemäße Philosophie. Nicht
Dilettanten auf dem Gebiete der Philosophie, sondern
mit der ganzen Rüstung der modernen Logik und
Erkenntnistheorie wohl bewaffnete Fachmänner stehen
uns gegenüber, die sehr tief schürfen. Sehr oft ist es
schwierig, auf ihre Schliche zu kommen. Und L. ist
außer bei Hegel hauptsächlich bei ihnen in die Schule
gegangen.. Und aus dieser Schule, aus seiner
Vergangenheit brachte er in seine Gegenwart etwas
hinüber, das ich gleich am Anfange zur Sprache bringen
will: die philosophische Diebessprache.
Es sind Probleme, die man
nur fachgemäß behandeln kann und auch soll.
Hauptsächlich ist dies der Fall, wenn man gegen
alteingewurzelte bürgerliche Wissenschaften oder
wichtige bürgerliche Denker auftritt, wenn man gegen
diese eine neue revolutionäre Theorie
korrekt-wissenschaftlich darstellen will, um sich nicht
von vornherein auf einem Nebengebiet, in Fragen
der Terminologie und der
schulgemäßen Behandlung Blößen zu geben. Darum sagt
Marx: „Wirklich populär können wissenschaftliche
Versuche zur Revolutionierung einer Wissenschaft
niemals sein". (Neue Zeit 20. 2. 30.) Dies hat Marx
bewogen, seine Hauptschriften, in denen er seine neue
Gesellschaftstheorie und politische Ökonomie zum
erstenmal darstellte, streng fachmännisch, nach allen
Regeln der philosophischen und ökonomischen Schulen, zu
verfassen. Um von Anderen zu schweigen, verweise ich
aus der neuen kommunistischen Literatur nur auf den
Gen. Bucharin. Er ist bekanntlich einer der größten
Meister der populären, und dabei doch
wissenschaftlichen Literatur. Trotzdem wählte er in
seiner „Ökonomik der Transformationsperiode" und noch
früher in seiner „Pol. Ökonomie des Rentners" eine
„fast mathematische Sprache". Manchmal ist es auch
überaus schwer, tiefgehende Gedanken sofort populär
auszudrücken. Je tiefgehender sie sind, desto
schwerer. Die Fachausdrücke erleichtern die Sache
ungemein. In einem Fachausdruck sind oft kurz
zusammengedrängt ganze Lehrsätze, die ich nicht
wiederholen muß, wende ich die betreffenden
Fachausdrücke an ihrer Statt an.
Und dennoch: die
Terminologie der Philosophie ist zu einer wahren
Diebessprache geworden. Zu einer Diebessprache, die gar
zu oft seitens der Fachphilosophen einzig und allein zu
dem Zwecke verwendet wurde, der uneingeweihten Masse
Sand in die Augen zu streuen. Durch die verwickelte,
künstlich kompliziert gemachte Sprache wird die
Entfremdung der Theorie von den großen Volksmassen
vollzogen, Wissenschaft und Praxis werden gerade durch
sie vollständig auseinandergerissen — jeder Kommunist
hat auch hier die revolutionäre Aufgabe, die Einheit
beider auch in der Form herzustellen, die Massen
und die Wissenschaft einander wieder zu nähern. Und
dies geschieht nicht nur so, daß ich die Kultur der
Massen hebe, diese der Wissenschaft näher bringe (das
kann in großem Maßstabe erst nach einer siegreichen
proletarischen Revolution geschehen), sondern auch so,
daß ich jene, die Wissenschaft, den Massen nähere. Und
das geschieht natürlich durch die Vereinfachung,
Demokratisierung der Sprache der Wissenschaft. Hier hat
Gen. L. eine revolutionäre Pflicht — gelinde gesagt —
vernachlässigt, sich nicht vor Augen gehalten.
Wenn ich mich deshalb in
diesem Artikel dieser Diebessprache nur dort bediene,
wo es unumgänglich notwendig ist, so hoffe ich, daß
dies meinen Argumenten dennoch nicht Abbruch tun wird.
Aus dem Ausgeführten ist
klar, daß ich mich auf einige wenige von den Fragen,
die Gen. L. behandelt, beschränken muß. Ich wählte mir
aus dem umfangreichen Buch seine Polemik mit Engels,
denn hier begeht er die größten und bezeichnendsten
Irrtümer. Auf hier nicht berührte Fragen werde ich
nötigenfalls ein andermal zurückkommen.
I. Was ist orthodoxer
Marxismus?
Fangen wir dort an, wo
Gen. L. selbst anfängt, mit der Frage: was ist
orthodoxer Marxismus? Gen. L. will unbeschränkt und im
strengen Sinne dieses Wortes als ein solcher gelten.
Nicht nur einen eigenen Aufsatz widmet er dieser Frage,
sondern fast das ganze Vorwort,
in dem er das Programm seines ganzen Buches gibt, ist
ihrer Erörterung gewidmet. L. will alle Konsequenzen
dessen ziehen, daß er ein „orthodoxer Marxist" ist, und
polemisiert nicht nur gegen rechts, gegen die
Opportunisten, gegen Kautsky, Bernstein usw., sondern
er sieht sich veranlaßt, den orthodoxen Marxismus
sogar gegen Friedrich Engels selbst zu verteidigen, der
nach L. Überzeugung dessen Standpunkt in einzelnen
Punkten verlassen habe. Er sagt:
„Wenn hier an einigen
Stellen gegen einzelne Aussprüche von Engels
polemisiert wird, so geschieht dies — wie jeder
einsichtsvolle Leser bemerken muß — aus dem Geiste des
Gesamtsystems; von der Auffassung ausgehend . . ., daß
an diesen einzelnen Punkten der Verfasser sogar
gegen Engels den Standpunkt des orthodoxen Marxismus
vertritt."
Jeder wird mit Recht
neugierig sein, wo Engels den Standpunkt des
orthodoxen Marxismus verließ. A priori ist es nicht
ausgeschlossen, daß Engels sich hie und da geirrt hat.
Manchmal schläft sogar Homer. Jeder wird dankbar sein,
wenn man dies zeigt, und in erster Linie wäre es Engels
selbst, wäre er noch am Leben, denn er hat immer sehr
auf die Reinheit und unverfälschte Integrität der
marxistischen Theorie gehalten.
Engels wurde oft
beschuldigt, daß er den Marxismus nicht auf gleicher
Höhe mit Marx gehalten hat. Viele „Stürmer"
(hauptsächlich bürgerliche) erblicken in Engels — den
ersten Vulgärmarxisten. Arturo Labriola, der gewesene
Syndikalist, der Marxverbesserer, der dann nach dem
Weltkriege plötzlich als Arbeitsminister in Giolittis
Kabinett auftauchte, und da seine „revolutionäre"
Laufbahn beendete, beschuldigte sogar Engels, daß er
nicht einmal wußte, was in den nachgelassenen Schriften
von Marx enthalten sei. Engels spreche fortwährend
davon, es sei noch ein vierter Band „Kapital" da, was
aber offenbar nicht wahr ist. Er nennt Engels einen
„spirito oscuro" (obskuren Geist), und natürlich dient
diese Verunglimpfung dazu, auf einem Umwege, über
Engels, Marx selbst zu „korrigieren", aus der
„Verflachung" Engels* zu „retten". Und ich erwähne
Arturo Labriola gerade deshalb, weil er ebenfalls ein
„linker Radikaler" war (im Sinne der Kinderkrankheiten
Lenins!), und zweitens seine Verfahrungsweise typisch
ist. Unter dem Vorwande, Engels verstand Marx nicht,
entstellt man natürlich den Marxismus selbst. Bisher
war das ausnahmslos der Fall.
Später sind die „Theorien
über den Mehrwert" erschienen, was der gute Labriola
natürlich nicht zur Kenntnis zu nehmen verpflichtet
war.
Arturo Labriola war aber
nur der Nachfolger von so vielen anderen, die alle
einen Gegensatz zwischen Marx und Engels konstruieren
wollten.
Die Anklage, Engels hätte
den Standpunkt des orthodoxen Marxismus verlassen, hat
also ihre Geschichte und einen kleinen Beigeschmack.
Dies schließt aber die Möglichkeit des Tatbestandes
selbst natürlich noch nicht aus. Sehen wir also zu, wo
Engels diesen Standpunkt verlasen hat und wie diesen
L. gegen ihn verteidigt.
Die erste Anklage treffen
wir auf Seite 15 des L.schen Buches. Dort heißt es:
„(Engels) beschreibt die
Begriffsbildung der dialektischen Methode im Gegensatz
zur „metaphysischen"; er betont mit großer Schärfe, daß
in der Dialektik die Starrheit der Begriffe (und der
ihnen entsprechenden Gegenstände) aufgelöst wird; daß
die Dialektik ein ständiger Prozeß des fließenden
Übergangs aus einer Bestimmung in die andere, ein
ununterbrochenes Aufheben der Gegensätze, ihr
Ineinanderübergehen ist; daß demzufolge die einseitige
und starre Kausalität von der Wechselwirkung abgelöst
werden muß. Aber die wesentlichste Wechselwirkung:
die dialektische Beziehung des Subjekts und
Objekts im Geschichtsprozeß wird "nicht einmal
erwähnt; geschweige denn in den — ihr zukommenden —
Mittelpunkt der methodischen Betrachtung gerückt.
Jedoch ohne diese Bestimmung hört die dialektische
Methode — trotz aller, freilich letzten Endes doch bloß
scheinbarer Beibehaltung der „fließenden" Begriffe usw.
— auf, eine revolutionäre Methode zu sein."
Eine schwere Anklage
gegen einen Engels, der mit Marx zusammen die
dialektische Methode gerade zu einer revolutionären
Methode entwickelt hat. Und das tat er zu Lebzeiten
Marx, wo Marx so oft Gelegenheit gehabt hätte, gegen
eventuelle Verfälschungen oder Irrtümer seitens Engels
zu protestieren. Was besagt diese Anklage?
Engels soll bei der
Darstellung der Dialektik im „Anti-Dühring" eine
wesendiche Wechselwirkung: die dialektische Beziehung
des Subjekts und Objekts im Geschichtsprozeß nicht
einmal erwähnt haben. Tue man das, noch mehr, rücke man
diese Beziehung nicht in den Mittelpunkt der
Betrachtung, so höre die dialektische Methode auf, eine
revolutionäre Methode zu sein. Und da das Engels getan
habe, so hörte er auf, ein revolutionärer Dialektiker
zu sein. Daran ändert nichts,
daß Engels im genannten Buch „mit großer Schärfe" die
„fließenden" Begriffe beibehalten habe. Diese
Beibehaltung sei „bloß scheinbar". Also: Engels war nur
ein scheinbarer Dialektiker, er bat aus der
revolutionären Methode, die die dialektische Methode
vor seiner Behandlung war, eine unrevolutionäre Theorie
gemacht.
Das ist eine harte
Anklage, und man muß seiner Sache sicher sein, um es zu
wagen, gegen einen Engels diese Sprache zu führen.
„Letzten Endes" steckt doch hinter diesen Worten die
Anklage, Engels habe aus der Dialektik wieder eine
Metaphysik gemacht. Habe er doch die „fließenden"
Begriffe „nur scheinbar" beibehalten!
Woran wir mit dieser
Anklage sind, werden wir später erörtern. Vorerst
wollen wir Anklage Nr. 2 in Augenschein nehmen, und
zwar deshalb, weil die erste darin wiederholt wird, und
von hier aus eine bessere Beleuchtung bekommt.
Auf Seite 17 seines
Buches führt L. aus; daß Marx die Dialektik auf die
historisch-soziale Wirklichkeit beschränkt hat. Er
führt folgendes Marx-Zitat an:
„Wie überhaupt bei
jeder historischen, sozialen Wissenschaft ist bei
dem Gange der ökonomischen Kategorien immer
festzuhalten . . ., daß die Kategorien
Daseinsformen, Existenzbestimmungen ausdrücken."
(Z. Kritik der pol. Ök. XLIII.)
Und er fügt folgende Note
hinzu:
„Diese Beschränkung der
Methode auf die historisch-soziale Wirklichkeit ist
sehr wichtig. Die Mißverständnisse, die aus der Engelschen
Darstellung der Dialektik entstehen, beruhen wesentlich
darauf, daß Engels — dem falschen Beispiel Hegels
folgend — die dialektische Methode auch auf die
Erkenntnis der Natur ausdehnt. Wo doch die
entscheidenden Bestimmungen der Dialektik:
Wechselwirkung von Subjekt und Objekt, Einheit von
Theorie und Praxis, geschichtliche Veränderung des
Substrats der Kategorien als Grundlage ihrer
Veränderung im Denken usw., in der Naturerkenntnis
nicht vorhanden sind." (Von mir gesperrt. L. R.)
Und entschuldigend fügt
noch Gen. L. hinzu:
„Für eine ausführliche
Auseinandersetzung dieser Fragen fehlt hier leider jede
Möglichkeit."
Wir aber sagen: das darf
nicht sein. Diese wenige Zeilen enthalten — wie wir
gleich beweisen werden — eine rein idealistische
Umkehrung der Marxschen Dialektik, eine idealistische
Erkenntnistheorie, eine Verengung der Dialektik —
und das verdiente schon „ausführlicher
auseinandergesetzt" zu werden.
Die erste Frage ist
natürlich die, ob Marx tatsächlich die Dialektik auf
die historisch-soziale Wirklichkeit beschränkt, Engels
aber entgegen Marx sie weiter auf die Natur
ausgedehnt hat? Schon rein historisch-subjektiv
ist das unmöglich!
L. selbst sagt, daß
Engels dem „falschen Beispiel Hegels" gefolgt ist.
Daraus folgt, daß Marx dieses „falsche Beispiel Hegels"
vermieden hat. Ein Denker vom Range Marx tut einen
solchen Schritt, nimmt eine solche Korrektur eines
Denkers vom Range Hegels nicht unbewußt vor. Hat Marx
die Dialektik entgegen Hegel auf die Gesellschaft
beschränkt, so mußte er sich dessen vollauf bewußt
sein. Dies wäre ein viel zu wichtiger Schritt
gewesen, um davon zu schweigen, um das ausdrücklich und
unumwunden, klipp und klar nicht zu erklären. Und noch
unmöglicher wäre es gewesen, stillschweigend zu dulden,
daß sein nächster Freund und Mitarbeiter, Engels,
diesen von Marx, gegenüber Hegel, gewonnenenen neuen
Standpunkt wieder verlasse und wieder auf den alten,
veralteten, überwundenen, von Marx selbst schon
verlassenen Hegelschen
Standpunkt zurückkehre! Hat doch Engels den
„Anti-Dühring" Marx vorgelesen, und er wurde von diesem
gutgeheißen! Oder mutet der Gen. L. einem Marx zu, daß
er vielleicht aus Freundschaft zu Engels oder weil er
die Sache für unwichtig hielt, oder aus welchen Gründen
immer — dazu geschwiegen hätte? Das war nicht Marx
Gewohnheit, nicht einmal, wenn von unwesentlichen
Zügen, noch weniger, wenn von wesentlichen Teilen
seiner Theorie die Rede war. Er hätte Engels gewiß zu
überzeugen gesucht von der Unrichtigkeit seines
Standpunktes. Und Engels war wieder nicht der Mann,
sich durch einen Marx nicht überzeugen zu lassen.
Rein historisch
betrachtet, kann also Gen. L. schon nicht im Rechte
sein. Betrachten wir aber die Sache nicht nur
historisch, betrachten wir sie auch — dialektisch.
Um nicht Zitate zu
häufen, die beweisen sollen, daß Marx die Dialektik
auch in der Natur anerkannte, sehen wir uns nur das
Zitat an, daß Gen. L. selbst an obiger Stelle anführt,
und aus welchem er folgert, daß Marx die Dialektik auf
die Gesellschaft beschränkte. An der in Rede stehenden
Stelle führt Marx aus, daß eine historische
Gesellschaftsform nur dann andere, vorangegangene zu
verstehen im Stande ist, wenn sie sich schon zu
kritisieren anfängt. Bis dahin sieht sie in ihnen nur
„Stufen zu sich selbst". Und dann fährt er fort (ich
zitiere ungekürzt, nicht wie L. gekürzt):
„Wie überhaupt bei jeder
historischen, sozialen Wissenschaft, ist bei dem Gange
der ökonomischen Kategorien immer festzuhalten, daß,
wie in der Wirklichkeit, so im Kopfe, das Subjekt, hier
die moderne bürgerliche Gesellschaft, gegeben ist, und
daß die Kategorien daher Daseinsformen,
Existenzbestimmungen, oft nur einzelne Seiten dieser
bestimmten Gesellschaft, dieses Subjektes,
ausdrücken." (Von mir gesperrt. L. R.)
Wenn etwas klar ist, so
dieses Zitat! Wenn etwas klar ist, so das, daß dieses
Zitat nicht im entferntesten das besagt, was Gen. L.
hinein-, oder aus ihm herausliest: eine Beschränkung
der Dialektik auf die historisch-soziale Wirklichkeit!
Erstens ist hier
von den historisch-sozialen Wissenschaften nicht im
Gegensatz zu den Naturwissenschaften die Rede. Von den
Naturwissenschaften wird kein Sterbenswörtlein gesagt,
weder hier, noch anderswo.
Zweitens ist hier
nicht von den historisch-sozialen Wissenschaften,
sondern von ihrem Gange die Rede, d. h. von
ihrer Entwicklung. „Bei dem Gange der
ökonomischen Kategorien" ist etwas festzuhalten, sagt
Marx. Was ist festzuhalten bei dem Gange der
ökonomischen Kategorien? Daß sie „Daseinsformen,
Existenzbestimmungen, oft nur einzelne Seiten dieser
bestimmten Gesellschaft, dieses Subjekts, ausdrücken".
Warum so? Weil „diese bestimmte Geselbchaft", „dieses
Subjekt", „die moderne bürgerliche Gesellschaft"
gegeben ist, „wie in der Wirklichkeit, so im Kopfe".
Also: Es ist eine Gesellschaft, sagen wir, die moderne
bürgerliche Gesellschaft „gegeben". Diese Gesellschaft
spiegelt sich auch im Kopfe zurück. Die Menschen denken
„bürgerlich". Daher drücken ihre Begriffe
„Daseinsformen, Existenzbestimmungen" dieser
Wirklichkeit, dieser Gesellschaft aus. Wäre eine
andere Gesellschaft gegeben, drückten ihre Begriffe
(Kategorien) eine andere Wirklichkeit aus. Diese
Wirklichkeit nimmt den Kopf so ein, daß die Menschen
sogar vergangene Epochen aus der ihnen gegebenen
Wirklichkeit, also im gegebenen Falle bürgerlich
beurteilen.
Dieses Zitat besagt also
einfach, daß die „Kategorien" der historischen
sozialen' Wissenschaften nicht Verhältnisse des
gesellschaftlichen Seins der Menschen überhaupt,
sondern nur ein konkret, historisch gegebenes
Sein ausdrücken. Das schließt natürlich nicht aus, daß
historisch-soziale Wissenschaften sein können, die
etwas vom gesellschaftlichen Sein überhaupt
aussprechen. So eine ist z. B. der Marxismus. Der Satz:
„Es ist nicht das Bewußtsein des Menschen, das ihr
Sein, sondern umgekehrt, ihr gesellschaftliches Sein,
das ihr Bewußtsein bestimmt", drückt z. B. eine
allgemeine Tatsache des gesellschaftlichen Lebens
überhaupt aus. Aber dieser Satz war, als Marx obiges
Zitat schrieb, noch nicht einmal formuliert, der
Marxismus war im Entstehen begriffen. Marx spricht
daher nur von den bis zu seiner Zeit konkret
gegebenen historisch-sozialen Wissenschaften und
konstatiert, daß sie zwar angeben, allgemeine
„Kategorien" zu enthalten, in Wahrheit aber das nicht
tun, denn sie drücken nur ihre Wirklichkeit, ihre
soziale „Gegebenheit" aus, sogar „oft nur einzelne
Seiten" davon und auch vergangene Geschichtsepochen
drücken sie nur und sind nur fähig auszudrücken aus
dem Standpunkt ihrer Gesellschaft heraus. Dieser
ganze Passus ist also nur eine Vorwegnahme des später
im Vorwort von „Zur Kritik
der pol.
Ökon." knapp und präzis, aber abstrakt —
allgemein ausgedrückten Satzes: „Es ist nicht das
Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern
umgekehrt, ihr gesellschaftliches Sein, das ihr
Bewußtsein bestimmt". Nur wird hier dieser Gedanke
noch nicht abstrakt, sondern konkret, auf die pol.
Ökonomie bezogen, formuliert. Mehr steht in dem
Zitat nicht (was drin steht, ist gerade genug!),
und vollends ist kein Sterbenswörtlein von der
Dialektik, oder ihre Beschränkung auf die Gesellschaft
die Rede. Wer mehr daraus hervorliest, der irrt sich
gewaltig!
Drittens: Ist hier
von keiner allgemeinen Methode die Rede, wie das
Gen. L. behauptet. Noch einmal: es ist vom Gange
der politischen Ökonomie die Rede, von ihrem bis Marx
vollendeten Gange, der natürlich mit dem Gang jeder
historischsozialen Wissenschaft identisch ist. Solche
historisch-soziale Wissenschaft war außer der
politischen Ökonomie z. B. die Geschichte, besonders
die Religionsgeschichte. Und dort konstatiert Marx an
derselben Stelle dieselbe Erscheinung: Sie spiegelte
ebenso die gegebene Gesellschaft zurück wie die pol.
Ökonomie. Ihr Gang war derselbe wie der Gang der pol.
Ökonomie: Das Christentum konnte die Vergangenheit nur
vom Standpunkt der Gegenwart beurteilen, es wurde erst
objektiver, als im Protestantismus usw. schon die
Kritik der Gegenwart eingesetzt hat. Es ist also hier
vom reellen historischen Gang
der Wissenschaften die Rede, und nicht von der Methode
der historisch-sozialen Wissenschaften — im Gegensatz
zu den Naturwissenschaften.
Ich gebe zu, daß diese
Eigentümlichkeit, die hier Marx bespricht, nur den
sozialen Wissenschaften eigen war und die
Naturwissenschaften sich anders entwickelt haben.
(Obzwar L. an einigen Stellen seines Werkes gerade das
Gegenteil behauptet. Er behauptet nämlich, daß die
Naturwissenschaften ebenfalls nur das Produkt der
„Verdinglichung" der kapitalistischen Gesellschaft
sind. Er widerspricht sich also.) Wenn diese Differenz
auch besteht — was hat dies mit der Beschränkung der
Dialektik auf die Gesellschaft zu tun? Ich kann das
nicht einsehen.
Historisch und wörtlich
(„zitatisch") hat also Gen. L. meines Erachtens nicht
recht, vielmehr entschieden unrecht. Trotzdem kann er
materiell recht haben. Es kann sein, daß zwar
Marx (ebenso wie auch Hegel und Engels) die Dialektik
nicht auf die Gesellschaft beschränkt, sondern sie auch
in der Natur gültig anerkannt hat — sie aber
trotzdem nur in der Gesellschaft Gültigkeit hat.
Schauen wir die Sache in diesem Lichte an. Was folgt
daraus?
Daraus folgt erstens:
Ist die Dialektik auf die
Gesellschaft beschränkt, so existieren zwei Welten, mit
zwei gänzlich verschiedenen Gesetzmäßigkeiten: Natur
und Gesellschaft. In der Natur verlaufen die
Erscheinungen undialektisch, in der Gesellschaft
dialektisch.
Schön. Alle großen
Philosophen waren zwar Monisten, das beweist aber noch
nicht, daß sie recht hatten. Nach L. ist die Welt
dualistisch. Vielleicht hat er und nicht seine großen
Vorgänger recht. Nehmen wir es wenigstens für den
Moment an.
Also: Die Natur ist
undialektisch, die Gesellschaft dialektisch.
Dann fragt sich aber
zweitens:
Wie kommt die
Gesellschaft zur Dialektik, die in der Natur nicht
vorhanden war? Sie muß mit der Gesellschaft entstanden
sein. (Diese Konsequenz ist nur dann hinfällig, wenn
die Gesellschaft selbst nicht entstanden ist, sondern
ewig da war. Oder aber, wenn sie früher da war als die
Natur. In diesem Falle entsteht aber die andere Frage,
wie hörte in der Natur, die später entstand als die
Gesellschaft, die Dialektik auf?)
Da ich die Annahme dieser
zweiten Möglichkeit dem Gen. L. nicht zumute, so nehme
ich mit ihm an, die Dialektik hat nicht aufgehört,
sondern sie hat angefangen. In der Natur, die früher da
war als die Gesellschaft, war und ist sie nicht da, in
der Gesellschaft erscheint sie plötzlich, sie fängt an
zu wirken. Wie geht das zu?
Offensichtlich kann die
Ursache nur im Menschen liegen. Die Gesellschaft
unterscheidet sich doch gerade darin von der Natur, daß
sie die Gesellschaft der Menschen ist. Wären keine
Menschen, so wäre auch keine Gesellschaft da.
Daß die Ursache der
Entstehung der Dialektik der Mensch ist, das sagt L.
ausdrücklich. Er zählt in der erwähnten Note
folgende „entscheidende Bestimmungen" der Dialektik
auf:
1. Wechselwirkung von
Subjekt und Objekt. (Die Vernachlässigung dieser
Wechselwirkung wirft er sogar Engels vor.)
2. Einheit von Theorie
und Praxis.
3.
Geschichtliche
Veränderungen des Substrats der Kategorien als
Grundlage ihrer Veränderung im Denken. (Was diese
philosophische Diebessprache bedeutet, ist für uns
vollkommen nebensächlich, denn es genügt zu
entziffern, daß von einer „Veränderung im Denken" die
Rede ist. Denken können nur Menschen. Für unsern
Zweck genügt das vollkommen.)
4.
„Etc." Dieses „etc." ist
leider sehr unangebracht, denn vielleicht gerade
hier kämen auch solche „entscheidenden" Merkmale der
Dialektik zum Vorschein, die nicht vom Menschen
abhängen.
Die unter 1—3
aufgezählten Merkmale beziehen sich aber offenkundig
nur auf Menschen. Praxis und Theorie hat nur der
Mensch, von Subjekt und Objekt kann nur beim Menschen
die Rede sein, ein Denken ist nur beim Menschen
vorhanden. Warum in aller Welt gerade diese drei „die
entstehenden Bestimmungen der Dialektik" sein
sollen, wie das Gen. L. behauptet, und warum nicht auch
die „Flüssigkeit" der Begriffe, die Negation der
Negation, das Umschlagen der Quantität in Qualität usw.
— das weiß ich nicht, ich wage nicht einmal Vermutungen
darüber auszusprechen. Für unsern Zweck ist es auch
nicht notwendig. Es genügt vollauf, wenn auf Grund des
Ausgeführten wir konstatieren können:
Wenn die Dialektik nur in
der Gesellschaft gültig ist, so steht sie in engster
Beziehung mit den Menschen, und daß dies L.
ausdrücklich zugibt.
Daraus folgt aber
drittens:
Die Dialektik ist ein
Werk der Menschen. Denn die Menschen sind das Neue,
das in der Gesellschaft zu der Natur hinzukommt. Das
Neue, das in der Gesetzmäßigkeit der Gesellschaft
gegenüber der Natur auftritt, kann also auch nur ein
Werk dieses Neuen, der Menschen
sein, sonst fiele sie vom Himmel. Entweder ist also die
Dialektik ein Naturgesetz, oder sie ist ein göttliches
oder menschliches Gesetz. Also: Die Dialektik ist das
Werk der Menschen, die Dialektik ist die
Gesetzmäßigkeit der Menschen. Wären keine Menschen, so
auch keine Dialektik.
Daraus folgt endlich:
Die Dialektik ist keine
objektive, also von den Menschen unabhängige
Gesetzmäßigkeit, sondern eine subjektive
Gesetzmäßigkeit der Menschen.
Und das nenne ich und
nennt man: subjektiven Idealismus.
Und zwar ist der
Idealismus, der hier sein Wesen treibt, ein
eigenartiger, mit belastenden Umständen beschwerter
Idealismus, der hinter Hegel zurückgeht. Hegel
nahm an, daß die Natur (und ebenso die Geschichte)
nichts anderes ist als die Verwirklichung der
absoluten, reinen Idee. Die Dialektik, die bei ihm eine
Gesetzmäßigkeit der Idee ist, erstreckt sich gerade
deshalb auf alle Wirklichkeit.
Marx und Engels nahmen
an, daß die Dialektik ein Naturgesetz ist, und weil die
Gesellschaft selber Natur ist, aus der Natur
dialektisch entstanden (die andere, aber keine
andersartigen Gesetze hat wie die Natur), so erstreckt
sich die dialektische Gesetzmäßigkeit ebenfalls auf
alle Wirklichkeit, auf die Gesellschaft ebenso wie auf
die Natur, nur nimmt sie in der ersten besondere Formen
an.
Beide, Marx und Hegel,
sind also konsequent: Der eine ein konsequenter
Idealist, der andere ein konsequenter Materialist.
L. ist aber, ob
Idealist oder Materialist, auf alle Fälle
inkonsequent. Also — ein Eklektiker. Denn bei
ihm ist die Dialektik — ja was soll man sagen, was ist
sie? Sie ist nicht ein Naturgesetz —also kein
materielles Weltgesetz. Sie ist aber auch kein Gesetz
der Idee — also kein ideelles Weltgesetz. Dennoch eher
dieses wie jenes.
Auf Schritt und Tritt
lugt nämlich der Idealismus L.'s offen hervor. Wir
sahen, was der erste Einwand gegen Engels war. Dieser
hätte die wichtigste Wechselwirkung: die Wechselwirkung
von Subjekt und Objekt im Geschichtsprozeß nicht
erwähnt. Und doch ist diese der Mittelpunkt der
Dialektik.
Ob Engels diese
Wechselwirkung erwähnt hat oder nicht, darauf sind
nicht viel Worte zu verlieren. Denn es ist klarer als
die Sonne, daß Engels, wo er in seinem Anti-Dühring die
Dialektik entwickelt, von dieser als von einem
allgemeinen Weltgesetz spricht, diejenigen Merkmale
aufzählt, die gleicherweise in Natur und Gesellschaft
gelten, in allem Sein und auch im Denken, nicht aber
die besonderen Formen, die die Dialektik in der
Gesellschaft annimmt. Nur hier ist eine Wechselwirkung
des Subjekts und Objekts vorhanden. Und nur bei
Behandlung der gesellschaftlichen Dialektik ist von ihr
als von einem, zwar sehr wichtigen, aber doch
Spezialfall, zu reden. Und man soll nachlesen, wie
Engels auf verschiedenen Seiten seines Buches die
gesellschaftliche Dialektik dem guten Dühring einpaukt
— und man wird sehen, daß Engels diese, für den
Marxismus, Binsenwahrheit, daß Objekt und Subjekt im
Geschichtsprozeß in Wechselwirkung stehen, zwar nicht
in leeren Worten „formuliert", wohl
aber durchgeführt, konkret gezeigt hat.
Darauf verlieren wir
also kein Wort weiter. Warum ist aber diese
Wechselwirkung der Mittelpunkt, die entscheidende
Bestimmung der Dialektik im allgemeinen, ohne die die
Dialektik aufhört — nach L. — eine revolutionäre
Methode zu sein?
Deshalb, weil — nach
dem Idealisten L. — die Theorie erst die
Revolution möglich macht.
Er sagt:
Theorie und Praxis
sind „in Einheit". „Das praktische Wesen der Theorie
muß aus ihr (daher aus der Theorie) und ihrer
Beziehung zu ihrem Gegenstande entwickelt werden." (Von
mir gesperrt. L. R.)
Denn sonst könnte es
sein, „daß die Massen von ganz anderen Triebkräften
bewegt, ganz anderen Zielen entgegen handeln —
und die Theorie für ihre Bewegung einen rein zufälligen
Inhalt bedeutet, eine Form, in der sie ihr
gesellschaftlich notwendiges oder zufälliges Handeln
ins Bewußtsein heben, ohne daß dieser Akt des
Bewußtwerdens mit dem Handeln selbst wesentlich und
wirklich verknüpft wäre." Seite 14. (Von mir gesperrt.
L. R.)
Denn nur „eine solche
Beziehung des Bewußtseins zur Wirklichkeit macht erst
eine Einheit von Praxis und Theorie möglich. Erst -wenn
das Bewußtsein den entscheidenden Schritt bedeutet,
den der Geschichtsprozeß seinem
eigenen, sich aus Menschenwillen zusammensetzenden,
aber nicht von menschlicher Willkür abhängigen, nicht
vom menschlichen Geiste erfundenen Ziele entgegentun
muß; wenn die geschichtliche Funktion der Theorie
darin besteht, diesen Schritt praktisch
möglich zu machen;
wenn eine geschichtliche Situation gegeben ist, in der
die richtige Erkenntnis der Gesellschaft für eine
Klasse zur unmittelbaren Bedingung ihrer
Selbstbehauptung im Kampfe wird; wenn für diese Klasse
ihre Selbsterkenntnis zugleich eine richtige Erkenntnis
der ganzen Gesellschaft bedeutet, wenn demzufolge für
eine solche Erkenntnis diese Klasse zugleich Subjekt
und Objekt der Erkenntnis ist, und auf diese Weise
die Theorie unmittelbar und adäquat in den
Umwälzungsprozeß der Gesellschaft eingreift: wird
die Einheit von Theorie und Praxis, die Voraussetzung
der revolutionären Funktion der Theorie möglich."
(Ebenda. Von mir gesperrt. L. R.)
Man verzeihe dieses
lange Zitat. Es mußte herangezogen werden, denn hier
zeigt sich Gen. L. nicht nur in seinen versteckten
Konsequenzen, sondern unverhüllt als Idealist, ein
Idealist, dem die „Theorie" das vertritt, was den
Idealisten alten Schlages — die Idee war.
Denn erstens
ist sein Ausgangspunkt, so oft er auf den
Geschichtsprozeß zu sprechen kommt, immer und
fortwährend die Theorie, nie die Praxis. Das praktische
Wesen der Theorie muß aus der Theorie, nicht aus der
Praxis entwickelt werden. (Beiläufig gesagt: ist das
eine contradictio in adjecto, wenn das praktische
Wesen der Theorie aus der Theorie nicht durch
die Theorie entwickelt werden muß.) Ihre Beziehung zum
Gegenstande und nicht das Umgekehrte ist das
Entscheidende. (Im zweiten Abschnitte dieses Artikels
werden wir sehen, daß Gen. L. die Praxis überhaupt
leugnet, indem er nach Muster aller echten Idealisten
sie einfach in Theorie, noch mehr, in Denken auflöst.)
Diese Theorie ist die Triebfeder der Massen, und nicht
„rein zufällige" andere Faktoren. Werden die Massen von
„andern Triebkräften bewegt" als von denen der Theorie,
„handeln sie andern Zielen entgegen" ab denen der
Theorie, also sagen wir: werden sie von
gesellschaftlichen Gesetzen bewogen, „notwendig oder
zufällig" — dann ist die Theorie nicht „wesentlich und
wirklich" mit den Massen verknüpft.
Zweitens aber
ist das Bewußtsein der entscheidende Schritt,
den der Geschichtsprozeß seinem Ziele entgegentut; die
geschichtliche Funktion der Theorie besteht darin, den
Schritt der Geschichte gegen ihr Ziel „praktisch
möglich" zu machen usw. usw.
Umsonst hat also Marx
das Bewußtsein der Menschen, also ihre Theorie, als vom
gesellschaftlichen Sein abhängig erkannt. Umsonst die
Feststellung, daß „die Menschheit sich nur Aufgaben
stellt, die... nur entspringen, wo die materiellen
Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder
wenigstens im Prozeß ihres Werdens begriffen sind".
Umsonst besagt das soviel, daß die Aufgaben der
Menschen, also die theoretische Erkenntnis der
Erforderungen des materiellen Gesellschaftsprozesses
aus diesen entspringen. Nicht die Theorie macht
nach Marx den praktischen Schritt des
Geschichtsprozesses, sondern umgekehrt, der materielle
Geschichts- und Gesellschaftsprozeß macht die Theorie
erst möglich. Wobei eine Wechselwirkung zwischen Praxis
und Theorie (und nicht eine nuptische Einheit) besteht,
der Ausgangspunkt aber entschieden in der Praxis liegt.
Umsonst. L. setzt Marx wieder in den idealistischen
Jargon zurück. Und nicht nur Idealismus ist das,
sondern auch Mystizismus.
Der „Geschichtsprozeß"
ist hier eine „aparte Person" (Marx* Ausdruck gegen die
Idealisten Bauer), die „entscheidende Schritte" tut.
Und dieser Idealismus
ist zu gleicher Zeit ein Agnostizismus — wie wir sofort
sehen werden.
Als Schlußfolgerung
dieses ersten Abschnittes stelle ich fest: Wenn Gen. L.
behauptet, er polemisiere mit Engels „aus dem Geiste
des Gesamtsystems des Marxismus" heraus: so ist das ein
gewaltiger Irrtum. Ebenso seine Überzeugung, daß er
„gegen Engels den Standpunkt des orthodoxen Marxismus
vertritt". Was er gegen Engels vertritt, das ist ein
unkonsequenter Idealismus. Das steckt — wie ich zu
zeigen versuchte — hinter der Anklage, Engels habe die
Dialektik „auch" auf die Natur ausgedehnt. Und ich
glaube nicht, daß nicht „jeder einsichtsvolle Leser"
bemerken muß, daß erstens: nicht an „einzelnen
Punkten" L. den Marxismus gegen Engels „verteidigt",
sondern den ganzen Geist der materialistischen Lehre
von Marx in eine idealistische „umstülpt", und
zweitens: daß nicht Gen. L., sondern Engels es ist,
der „den Geist des Gesamtsystems", den Standpunkt des
orthodoxen Marxismus vertritt. Denn dieser Geist und
dieser Standpunkt ist: der konsequente Materialismus,
nicht aber ein unkonsequenter Idealismus.
II.
Engels und Kant oder Praxis und Industrie „im
dialektisch-philosophischen Sinne".
Bisher wurde Engels
angeklagt: 1. daß er aus der revolutionären Theorie der
Dialektik eine unrevolutionäre Methaphysik gemacht,
weil er die Wechselwirkung von Subjekt und Objekt nicht
in den ihr gebührenden Mittelpunkt der Betrachtung
gezogen hat; 2. daß er dem falschen Beispiel Hegels
folgend, die Dialektik auch auf die Natur ausgedehnt
hat, was — nach L. — entgegen Marx geschah.
Ich bemühte mich zu
zeigen, daß L. sich irrt, und noch mehr, verirrt — in
einen unkonsequenten Idealismus. Jetzt aber werden wir
sehen, wie L. selbst „dem falschen Beispiel Hegels"
in die Tat folgt, und folgt gerade dort, wo ein
Marxist ihm nicht folgen dürfte, auf dem Gebiete des
obstrusesten Idealismus und Agnostizismus.
Dieser Agnostizismus
kommt in der dritten Anklage gegen Engels zum
Vorschein, die sich auf der 145. Seite des L.schen
Buches befindet.
Da wird folgende
Stelle aus Engels: „L. Feuerbach usw." zitiert (Seite
16):
„Die schlagendste
Widerlegung dieser, wie aller anderen Schrullen ist die
Praxis, nämlich das Experiment und Industrie. Wenn wir
die Richtigkeit unsrer Auffassung eines Naturvorganges
beweisen können, indem wir ihn selbst machen, ihn aus
seinen Bedingungen erzeugen und obendrein unseren
Zwecken dienstbar werden lassen, so ist es mit dem
Kantschen unfaßbaren „Ding an sich" zu Ende. Die im
pflanzlichen und tierischen Körper erzeugten
chemischen Stoffe blieben solche „Dinge an sich", bis
die organische Chemie sie einen nach dem andern
darzustellen anfing; damit wurde das „Ding an sich" ein
Ding für uns, zum Beispiel der Farbstoff des Krapps,
das Alizarin, das wir nicht mehr auf dem Felde in den
Krappwurzeln wachsen lassen, sondern aus Kohlenteer
weit wohlfeiler und einfacher herstellen."
Diese Stelle war von
jeher der Stein des Anstoßes für jeden „Marxisten", der
eine Neigung hatte — in idealistisch-agnostizistischer
Richtung. Darum ist es nicht verwunderlich, daß Gen. L.
ebenfalls gegen diese Stelle polemisiert. In
Verbindung mit dieser Stelle werden nun gegen Engels
drei neue Anklagen erhoben.
1. Engels habe eine
„terminologische Ungenauigkeit" begangen, die „bei dem
Hegelkenner Engels fast unbegreiflich" ist. Er hat —
man staune! — „an sich" und „für uns" als Gegensätze
und nicht als Korrelate gebraucht, wie
Hegel.
„Der Gegensatz des
„für uns" oder „an sich" ist vielmehr das „für sich",
jene Art des Gesetztseins, wo das Gedachtsein des
Gegenstandes zugleich das Bewußtsein des Gegenstandes
über sich selbst bedeutet."
Und um Engels wieder
in Gegensatz zu Marx zu bringen, stellt Gen. L. fest,
daß Marx diese Terminologie richtig benützt hat, im
„Elend der Philosophie", Seite 162, wo er sagt: „So ist
diese Masse bereits eine Klasse gegenüber dem Kapital,
aber noch nicht für sich selbst, in dem Kampf . . .
konstituiert sie sich als Klasse für sich selbst."
Zuerst fällt bei
dieser Anklage die pedantische, philologische
schulmeisterliche Genauigkeit auf, mit der die
„Terminologie" Hegels „richtiggestellt" wird. Aber wäre
das nur Pedanterie! Die Sache hat vielmehr tiefere
Ursachen, denn es ist der Geist Hegels, noch besser:
der Hegels'sche Geist, der hier spricht, der
reinste Idealismus. Nicht orthodoxer Marxist,
sondern orthodoxer Hegelianer ist Gen. L.
Denn es mag sein und
es ist sogar bestimmt, daß bei Hegel „an sich" und „für
uns" keine Gegensätze, sondern Korrelate waren, und der
Gegensatz bei ihm zu beiden viel mehr das „für sich"
war. Bei dem Idealisten Hegel ist das leicht
verständlich. L. selbst verrät es uns weshalb? Weil bei
Hegel ein Gegenstand „für sich" dann da ist, wenn es
gedacht, zugleich sich selbst erkennt. Und da die ganze
Welt aus Ideen besteht, auch das Alizarin eine Idee
ist, so kann auch das Alizarin diesen
„Für-Sich"-Zustand erreichen. Ja, das war konsequent
seitens Hegel, dem die Welt aus Ideen bestand. Es wäre
aber seitens des Materialisten Engels höchst
unkonsequent gewesen, diese idealistische, gerade an
der in Rede stehenden Engels-Stelle einfach sinnlose
Terminologie beizubehalten. Denn für einen
Materialisten gibt es — nach Engels — „Dinge an sich",
d. h. eine äußere Welt, die wir teilweise noch nicht
kennen, und „Dinge für uns", d. h. jenen Teil der Welt,
den wir schon erkannt haben. Und die „Dinge an sich"
verwandeln sich fortwährend in „Dinge für uns" im
Prozeß der Praxis und Erkenntnis selbst. Und wenn Marx
an der zitierten Stelle von „Klasse für sich" spricht,
so ist das ganz in Ordnung und gar nicht im Gegensatz
dazu, wie Engels diese Terminologie benützt, und gar
nicht die Terminologie Hegels oder nur ein schwaches
Echo davon. Denn es ist doch klar, daß eine Klasse,
wenn sie Klassenbewußtsein hat, sich als Klasse, mit
Klasseninteressen, im Gegensatz zu einer ihr
feindlichen Klassefühlt und sich erkennt, eine Klasse
nicht nur „an sich", d. h. objektiv, nach ihren
sozial-ökonomischen Merkmalen, sondern auch „für sich",
in ihrem eigenen Bewußtsein ist. Denn die Klasse
besteht aus mit Bewußtsein begabten Menschen, und
dieses Bewußtsein macht es möglich, daß die Klasse ein
Bewußtsein auch über sich selbst erlangen kann. Was für
einen Sinn hätte es aber bei Dingen, bei dem Farbstoff
des Krapps oder dem Alizarin, die Terminologie „für
sich" im Gegensatz zu „an sich" anzuwenden? Kann
vielleicht das Alizarin auch ein Bewußtsein über sich
selbst erlangen, ein „Ding für sich" werden? Bei Hegel:
ja! Bei Engels und Marx: nie! Bei L. — scheint es —
ebenfalls: ja! Weil er auch ein Idealist ist!
2. Engels hat Kant arg
mißverstanden. Nämlich:
„Dann ist es aber ein
völliges Verkennen der Erkenntnistheorie Kant's,
anzunehmen, als ob das Ding-an-sich-Problem eine
Schranke der Möglichkeit der konkreten Erweiterung
unserer Erkenntnis bedeuten würde. Im Gegenteil.
Kant... nimmt die schrankenlose Erweiterbarkeit
dieser (der Newtonschen) Methode an. Seine „Kritik"
bezieht sich bloß darauf, daß selbst eine vollendete
Erkenntnis sämtlicher Phänomene — eben bloß eine
Erkenntnis der Phänomene (im Gegensatz zu den Dingen an
sich) wäre; daß selbst die vollendete Kenntnis der
Phänomene die struktiven Schranken dieser
Erkenntnis — also nach unserer Formulierung die
Antinomien der Totalität und Inhalte — niemals
überwinden könnte."
Was hier sofort
auffällt, das ist, daß L. mit Kant gleicher Meinung
ist: die Welt ist objektiv nicht erkennbar. Er
kleidet natürlich diese seine Meinung nicht so ein, wie
Kant: die „Dinge an sich" sind sogar von den
Neukantianern längst zum Fenster hinausgeworfen, L.
nennt seinen Agnostizismus — nach Hegel — „Antinomien
der Totalität und Inhalte". Am Wesen der Sache ändert
das natürlich kein Jota: Benennungen — sagt Lenin
kann man erfinden, so viel man nur will, der
Agnostizismus bleibt dennoch Agnostizismus.
Aber abgesehen davon:
ist es wieder befremdend, daß Gen. L. annimmt, der
„Hegelkenner" Engels hätte Kant nicht gekannt. Daß Kant
ein Agnostiker war, das ist — trotzdem Gen. L. es
bestreitet zweifellos:
Nach Kant können wir die Welt „an sich" prinzipiell
nie erkennen. Natürlich hat Gen. L. recht, daß Kant
die vollständige Erkennbarkeit der Welt der
Erscheinungen behauptete. Aber eben darum war Kant ein
Halbmaterialist.
Den Kompromischarakter
der Kant'schen Philosophie haben Plechanow und Lenin
zweifellos festgestellt. Darüber mehr Worte zu
verlieren, ist hier unnütz. Ebenso aber, wie ein Denker
vom Range Marx' die Tragweite dessen immer wußte, was
er sagte oder tat, so auch ein Denker vom Range Kants.
Wenn dieser sagt: „Ich mußte das Wissen aufheben, um
dem Glauben Platz zu bekommen" — so war das bei ihm
keine leere Rede, oder eine Konzession den politischen
Gewalten gegenüber (wie dies jetzt einige Kantanbeter
behaupten), sondern blutiger Emst. An einem einzigen
Punkte war er kein Agnostiker: in seiner Ethik, in dem
Glauben, betreffs der Persönlichkeit, die, gleichzeitig
Erscheinung und „Ding an sich"
darstellend, ein — um mit Hegel-Lukács
zu sprechen — „Ding für sich" war. In allem anderen hob
Kant das Wissen prinzipiell auf: Er war Agnostiker.
Und Engels spricht an
der zitierten Stelle nur von diesem
Agnostizismus. Er sagt: Du, Kant, behauptest — wie alle
Agnostiker — die Welt „an sich", die „Dinge an sich"
seien nicht erkennbar. Jawohl, sie sind erkennbar,
insoweit wir sie machen, unsern Zweck dienlich machen.
Er sagt mit etwas anderen Worten, was Marx in der
zweiten Feuerbach-These sagt:
„Die Frage, ob dem
menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme,
ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische
Frage. In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit, d. h.
die Wirklichkeit und Macht, die Diesseitigkeit seines
Denkens beweisen. Der Streit über die Wirklichkeit oder
Nichtwirklichkeit des Denkens, das sich von der Praxis
isoliert, ist eine rein scholastische Frage."
Dasselbe sagt Engels.
Und Engels spricht kein Sterbenswörtlein davon, daß
Kant die konkrete Erweiterung unserer Kenntnisse nicht
zugegeben hätte. Das wußte Engels ebenso gut, wie
jeder, der in Kant nur hineingeguckt hat. Was aber
Engels Kant gegenüber sagen wollte, ist das, daß diese
(praktische und theoretische) Erweiterung unserer
Erkenntnisse in der Welt der Erscheinungen alles ist
und darüber hinaus nichts zu erkennen gibt. D.
h.: die Welt der Erscheinungen ist alles, und das „Ding
an sich" ist eine reine „Schrulle", wenn wir darunter
nicht solche Dinge verstehen, die wir noch nicht
kennen, aber erkennen können, sondern Dinge, die wir
nicht kennen, aber auch nie erkennen können. Das sagt
Engels, und nichts anderes. Und Gen. L.s Einwand wäre
im besten Falle eine kleinliche Nörgelei, würde diese
Nörgelei nicht die Bestreitung des Agnostizismus Kants,
noch mehr, die Verteidigung des Idealismus und die
„Korrektur" des Materialismus bedeuten!
3. Also wir erkennen
die Dinge in der Praxis, sagt Marx. „Im Experiment und
in der Industrie" — erläutert diesen Gedanken Engels.
Heiligtumsschändung! — schreit Gen. L.
„Das tiefgehendste
Mißverständnis von Engels liegt aber darin, daß er das
Verhalten der Industrie und des Experiments für Praxis
— in dialektisch-philosophischem Sinne — hält."
Es ist gut, daß Gen.
L. die Beschränkung: „In dialektisch-philosophischem
Sinne" zu dieser Behauptung hinzufügt, sonst würde man
sofort sehen, wie es mit seinem „orthodoxen Marxismus"
bestellt ist: Nicht nur alle Marxisten, jeder mit
ungestörtem Verstand begabte Mensch, sogar alle
Idealisten haben bisher Experiment und Industrie —
Praxis genannt. Warum sind sie aber „in
dialektisch-philosophischem Sinne" keine Praxis?
Sehr einfach.
Erstens: Weil
das Experiment „kontemplativ" ist.
„Gerade das Experiment
ist die am reinsten kontemplative Verhaltungsweise.
Der Experimentator schafft ein künstliches, abstraktes
Milieu, um das ungestörte Sichauswirken der zu
beobachtenden Gesetze ungehindert . . . beobachten
zu können. Er ist bestrebt, das materielle Substrat
seiner Beobachtung... auf das rein vernunftgemäß
„Erzeugte", auf die „intelligible Materie" der
Mathematik zu reduzieren."
Würden wir diesen
Einwand bei Nichtmarxisten, bei eingestandenermaßen
Idealisten und Agnostikern lesen, so würden wir uns
nicht wundern. Deshalb sind sie doch — Agnostiker. Als
solche bemühen sie sich, zu beweisen, daß das
Experiment eine rein gedankliche Operation ist.
Dieser Einwand besagt aber im Grunde genommen nichts
mehr, als daß der Experimentator beim Experiment —
seinen Verstand benützt! (Er „beobachtet" — sagt Lukács.)
Kein Materialist hat das je geleugnet und hätte
Ursache das zu leugnen. Ist das Experiment nur deshalb
keine Praxis „im dialektisch-philosophischen Sinne",
weil man das Auswirken der Gesetze ungehindert darin
beobachtet und zu diesem Zwecke — störende Elemente,
Nebenerscheinungen, soweit möglich, ausschaltet? Oder
weil man sie „auf die .intelligible Materie' der
Mathematik reduziert" — menschlich einfach ausgedrückt,
sie meßbar- macht und quantitativ berechnet?
Wo gibt es eine
Praxis, in der man nicht beobachtet? Der einfachste
Schwarzarbeiter beobachtet die Wirkung dessen, was er
tut. Der einfachste Schwarzarbeiter hält — soweit wie
möglich — störende Erscheinungen von seiner Arbeit
fern, und berechnet die Wirkung seiner Arbeit. Verhält
er sich deshalb „am reinsten" kontemplativ? Vielleicht
der idealistisch verklärte Schwarzarbeiterl In der Tat,
alle idealistischen Philosophen bemühten sich krankhaft
darzutun, daß nicht das Experiment unsere Kenntnisse
erweitert, sondern die Ideen, die uns bei dem
Experiment leiten, und die — nach ihnen — nicht aus
vorhergehenden Experimenten herstammen, sondern vom
Himmel herunterfallen, und das Experiment allererst
möglich machen. Und dasselbe steckt auch hinter Gen.
L.s „dialektisch-philosophischem Sinn". Denn er will es
nicht sehen, daß das „künstliche, abstrakte Milieu" des
Experiments sofort aufhört, wenn das Experiment
geglückt ist und dann angewendet wird zur
Herstellung von — sagen wir — Alazarin, was schon in
der lebendigen chemischen Produktion, also nicht in
einem „künstlichen Milieu" geschieht. Er sieht mit
einem Worte die Sachen „von der Praxis isoliert" (wie
Marx in der obigen Feuerbach-These sagt), und verdient
deshalb auch dieselbe Antwort, die Marx auf diese
Verfahrungsweise dort anwendet: eine „rein
scholastische Frage".
Zweitens aber
ist nicht nur das Experiment, sondern auch die
Industrie in „dialektisch-philosophischem Sinne" keine
Praxis. Denn:
„Wenn Engels bei der
Industrie davon spricht, daß das so „Erzeugte unseren
Zwecken" dienstbar wird, so scheint er die
grundlegende Struktur der kapitalistischen
Gesellschaft ... für einen Augenblick vergessen zu
haben."
Man muß sagen, Gen. L.
versteht es, unsere Neugierde aufzustacheln! Jeder
glaubte bisher, die Industrie dient den Zwecken
menschlicher Bedürfnisbefriedigung, also „unseren
Zwecken", wie Engels sagt. Schön, schön. Im
„gewöhnlichen Sinne" mag das schon sein, aber nicht im
„dialektisch-philosophischem Sinne"! Was ist nun die
Industrie in diesem Sinne?
Ah, etwas ganz anderes. Engels vergißt nämlich:
„Daß es sich in der
kapitalistischen Gesellschaft um ,ein Naturgesetz'
handelt, das auf der Bewußtlosigkeit der Beteiligten
beruht."
Gut, daß Gen. L.
gewissenhaft — pedantisch alle seine Zitate sorgfältig
mit Hinweis versieht, woher sie genommen sind, sonst
könnten wir „für einen Augenblick vergessen", daß diese
von L. zitierte schöne Feststellung gerade von
Engels herstammt. Und Engels selbst sollte seine
eigenen Worte vergessen haben? Wo das von Marx
hundertmal wiederholt wird? Kurios!
Dennoch ist es so:
„Die Industrie —
insofern sie .Zwecke' setzt — ist im entscheidenden,
im dialektisch-geschichtlichen Sinn nur Objekt, nicht
Subjekt der gesellschaftlichen Naturgesetze." Marx hat
wiederholt und nachdrücklich den Kapitalisten ... als
bloße Charaktermaske bezeichnet. (Jetzt kommt ein
Zitat vom „Schatzbildner", Kapital I./555, das hier
vollständig nebensächlich ist; und dann fährt Gen. L.
fort.) Daß also die
„Industrie", d. h. der Kapitalist, als
Träger des ökonomischen, technischen usw. Fortschritts,
nicht handelt, sondern gehandelt wird, daß seine
„Tätigkeit" sich in der richtigen Beobachtung und
Kalkulation der objektiven Auswirkung der
gesellschaftlichen Naturgesetze erschöpft, ist im Sinne
des . . . Marxismus eine Selbstverständlichkeit." (Von
mir unterstrichen L. R.)
Also: Engels hat „für
den Augenblick" vergessen, daß der Kapitalist, indem er
produziert, Profit machen will, nicht aber menschliche
Bedürfnisse befriedigen, und dennoch menschliche
Bedürfnisse befriedigt. Denn als „Charaktermaske" will
er Profit, und nur Profit. Und das soll ein Einwand
dagegen sein, daß die Industrie (und nicht der
Kapitalist, von dem Engels gar nicht redet) die „Dinge
an sich" in „Dinge für uns" umwandelt, wovon Engels an
der von L. beanstandeten Stelle spricht!
L. begeht hier einfach
mit „dialektisch-philosophischer" Geistesschärfe zwei
logische Bocksprünge, und zwar solche, die jeder
Anfänger in der Logik vermieden hätte. Er begeht
nämlich (um in seiner geliebten Diebessprache zu reden)
eine Äquivokation und eine Quidproquo.
Die Äquivokation besteht darin, daß er zwei Bedeutungen
des „für uns" miteinander verwechselt, trotzdem
er gerade über diese „Terminologie" früher Engels
belehrt hat. (S. oben.) Engels spricht davon, daß die
Industrie, ob kapitalistisch oder nicht — daß
sie kapitalistisch ist, ist in diesem Falle vollständig
nebensächlich — unbekannte Verfahrungsweisen entdeckt,
auf bisher unbekanntem Felde neue Erfahrungen macht,
mit einem Worte, unbekannte „Dinge an sich" in „für
uns" (also alle Menschen) bekannte Dinge umwandelt.
Für alle Menschen — weil die bisher unbekannten
Dinge den Proletariern ebenfalls nicht nur deshalb
unbekannt bleiben können, weil sie von einer
kapitalistischen Industrie hergestellt wurden. Um so
weniger, da sie selbst im Produktionsprozeß sehr
tätigen Anteil haben. Helfen die Proletarier doch in
der Industrie selbst mit, die bisher unbekannten Dinge
umzuwandeln. Das ist die erste Bedeutung des „für uns"
— jene, in der es von Engels angewendet wird. L.
dagegen spricht davon, daß der Kapitalist, als
er die Industrie, die unter seiner Leitung steht, in
dieser von Engels beschriebenen Weise verfahren läßt,
nicht dieses bezweckt, keine. Ziele „für uns"
verfolgt, sondern nur Ziel für sich selbst, nur als
Charaktermaske handelt, nur Profitmacherei bezweckt,
nicht handelt, sondern „gehandelt wird". Das ist ein
ganz anderes „für sich", und das mit der ersten
Bedeutung zu verwechseln, ist ein arges
Mißverständnis. Ebenso arg ist es, den Kapitalisten
(von dem Engels nicht spricht) mit der Industrie (wovon
Engels spricht) zu verwechseln und zu sagen: „Die
Industrie", d. h. „der Kapitalist", tut das oder jenes.
„Industrie" — wenn sie auch in Anführungszeichen
gesetzt wird und soviel besagen will, als „kapitalistische
Industrie" ist nicht identisch mit „Kapitalist". Das
ist gerade L.s Quidproquo. In dem Sinne, wie Engels
hier von der Industrie spricht, wird eine
kommunistische Industrie ebenso verfahren wie eine
kapitalistische oder welche immer. Sie wird ewig
und immer durch Erfindungen etc. unser Wissen über
bisher unbekannte Dinge dadurch erweitern, daß sie
diese Dinge macht. Daran ändert kein
„dialektisch-philosophischer Sinn", d. h. kein
Grübeln. Denn in diesem Sinne ist die
Industrie ein ewiger Naturprozeß zwischen Mensch und
Natur, in dem der Mensch seinen Stoffwechsel mit der
Natur vermittelt. (Marx. Kapital. I. 140.)
Die unbewußte
Absicht dieses L.'schen Einwandes ist aber in dem
Satze enthalten, wo er dem Kapitalisten vorwirft, daß
„seine Tätigkeit" sich in der richtigen Beobachtung und
Kalkulation der objektiven Auswirkung der
gesellschaftlichen Naturgesetze erschöpft. Daß in
einer kommunistischen Gesellschaft die
gesellschaftlichen Naturgesetze aufhören werden,
unentwirrbare Geheimnisse, blinde „Naturgesetze" zu
sein, ist wahrscheinlich. Was hat aber der objektive
Arbeitsprozeß, von dem Engels spricht, damit zu tun,
daß in der kapitalistischen Gesellschaft dem so ist,
und der Kapitalist gesellschaftlich sich auf die
Beobachtung dieser Gesetze beschränkt? Das Proletariat
beobachtet diese Gesetze ebenfalls, nur ist seine
Kalkulation besser, da sein Blick nicht verfälscht wird
durch den Kapitalisten-Standpunkt. Das hat aber wieder
damit nichts zu tun, daß der Kapitalist, insofern er an
der Produktion teilnimmt und davon eine Ahnung hat
(das ist heute selten der Fall, dann macht es aber
anstatt seiner sein Ingenieur), den Produktionsprozeß
selbst objektiv richtig zu gestalten bestrebt sein muß.
Kein Kapitalist ist so blödsinnig, daß, um
Stiefelwichse zu machen, er Verfahrungsweisen anwenden
lassen wird, die dazu gänzlich ungeeignet sind, und
hier, bei Engels, ist doch fortwährend von der
Industrie als von einem objektiven Produktions
prozeß, Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur,
nicht aber von seiner kapitalistischen Hülle die Rede.
Natürlich merkt das
Gen. L. nicht, weil er, als echter Idealist und
Agnostiker, die Praxis überhaupt nur
geschichtsphilosophisch verklärt anerkennt, und überall
dort „dialektisch-philosophische Schrullen" hat, wo der
gewöhnliche Mensch eine einfache Sache sieht. Als
Idealisten gefällt dem Gen. L. besonders die nüchterne
.Berechnung", Beobachtung, „Kalkulation" nicht. Sie
werden aber dem Proletariat in seinem Befreiungskampfe
mehr nützen, als alle idealistischen „Schrullen" der
Welt, die diesen Kampf nur hindern können!
*
Der Raum verbietet uns
einstweilen, auf weitere Irrtümer des Gen. L.
einzugehen. Viele, viele sind noch in seinem Buche
enthalten.Das Klassenbewußtsein des Proletariats wird
einfach mythologisiert, es wird daraus — nach Art der
Rickert-Max Weberschen Schule — ein
„Zurechnungsproblem" gemacht,
was letzten Endes nichts anderes bedeutet, als die
Leugnung jeder exakten Theorie.
Der historische
Materialismus wird vollständig verfälscht und
mißdeutet. Es wird behauptet, daß er „nur" für die
kapitalistische Epoche vollständig gültig ist, weder
vor, noch nach dieser. Was sowohl den direkten
Aussprüchen von Marx-Engels, wie auch (bezüglich der
Vergangenheit) den durch die historische Forschung
erschlossenen Tatsachen widerspricht.
Aus der
„Fetisch"-Theorie der Waren wird bei Gen. L. unter dem
Namen „Verdinglichung" eine jede objektive Wahrheit Ieugnende Verzerrung gemacht. Die ganze heutige
Wissenschaft, auch die Mathematik, die
Naturwissenschaften, allem Anschein noch sogar der
Marxismus, ist ein Produkt der „Verdinglichung": somit
haben wir überhaupt kein Werkzeug in der Hand, um die
Objektivität einer Wahrheit zu konstatieren
usw., usw.
Vielleicht wird sich
noch Gelegenheit finden, auch auf diese Stellen
einzugehen. Jetzt müssen wir damit schließen, daß wir
feststellen:
Trotz mancher tiefen,
geistreichen, von großer Bildung zeugenden, manchmal
direkt glänzenden und faszinierenden Stellen seines
Buches ist dieses das Buch eines Idealisten,
Agnostikers und Mystikers, nicht aber eines
„orthodoxen Marxisten". Es wäre dringend notwendig, daß
Gen. L. sich den Spruch einprägt: „Man beurteilt ein
Individuum nicht nach dem, was es sich selbst dünkt",
und nach einer strengen Selbstkritik — noch
einmal gesagt — mit seinem jetzigen philosophischen
Gewissen abrechnet (Marx: Z. Kr. d. pol. ök. Vorwort
LVII.), seine philosophische Weltanschauung im
materialistischen Sinne gründlich einer Revison
unterwirft und sobald als möglich ändert. Denn
philosophische Gesinnungen haben, wie das Lenin für
immer gezeigt hat, objektive soziale Wurzeln.
Moskau , den 1. Juni
1924.
(Ein zweiter Artikel
folgt.)
Editorische Hinweise
Erstveröffentlicht in Arbeiterliteratur, Verlag für
Literatur und Politik, Wien 1924, Heft 9, S. 493-517
Ladislaus Rudas
wurde in Sárvár, Ungarn am 21. Februar 1885
geboren. 1903 trat er als Student
der Sozialdemokratische Partei
Ungarns (SDP) bei und
gehörte zum linken Flügel der
Partei. Ab 1905 war er in der
Redaktion der "Volksstimme",
dem offiziellen Organ der ungarischen SDP.
Im
Oktober 1918 stand
Rudas konsequent auf dem linken Flügel
der ungarischen SDP, der für den
bewaffneten Aufstand und die
Errichtung einer Räterepublik
nach dem russischen Vorbild
eintrat, während die Mehrheit
der Sozialisten
eine reformierte Monarchie
in einem von Österreich
unabhängiges Ungarn anstrebten. Im
November 1918 entstand aus dem linken
Flügel der SDP die Kommunistische Partei Ungarns,
deren Zentralkomitee Rudas
angehörte und dort das Zentralorgan der Partei -
"Rote Gazette" leitete. In dieser Zeit
übersetzte Rudas u.a. Lenins
"Staat und Revolution"
ins Ungarische.
Für die ungarische KP war Rudas
Delegierter auf dem
Gründungskongress der Kommunistischen Internationale
(Komintern) im März 1919. Rudas blieb in Moskau für mehrere Monate
und nahm an Sitzungen des Exekutivkomitees der
Kommunistischen Internationale (EKKI) teilnehmen.
Während der
ungarischen Revolution gehörten
Ladislaus Rudas und Georg Lukács der aus Kommunisten
und Sozialisten gebildeten Räteregierung an, bis
diese im August 1919 unter dem Druck tschechischer
und rumänischer Streitkräfte zusammenbrach. Nach
dem Sturz der ungarischen Revolutionsregierung
gehörten Rudas
und Lukács zu den 100.000 Menschen , die aus
dem Land auswandern mussten, um
Hinrichtungen, Folter und Inhaftierungen zu entgehen.
Im März 1922
kehrte Rudas nach Moskau
zurück. Dort wurde er in den
Komintern-Apparat
aufgenommen undl lehrte in
Moskau am Institute
der Roten Professoren , später
an der Lenin-Schule der Komintern.
In den 1930er Jahren arbeitete Rudas am
Marx-Engels-Lenin-Institut in Moskau und
schrieb häufig
für die Zeitschrift "Unter dem Banner
des Marxismus". Rudas
wurde im Zusammenhang mit den
"Moskauer Prozessen" 1938 verhaftet, aber
später freigelassen. Er wurde 1941 in den ersten Tagen
der deutschen Invasion nochmals
verhaftet; kam aber ebenso wie Lukács
wieder frei, der auch
verhaftet worden war.
Nach dem Ende des
Zweiten Weltkrieges kehrte Rudas nach Ungarn
zurück, wo er Leiter der Zentralen
Parteihochschule der Kommunistischen Partei Ungarns
sowie Mitglied der wurde Ungarischen Akademie
der Wissenschaften wurde.
Dem
ungarischen Parlament gehörte
er von 1945 bis 1950
an.
László Rudas starb in Budapest am 29. April 1950.
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