Gibt es ein System der Dialektik?
3. Seminar am 31.1.1964

von Robert Havemann

07/2018

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Vorbemerkung: Robert Havemann hielt im Wintersemester 1963/64  eine Vorlesung mit dem Titel "Naturwissenschaftliche Aspekte philosophischer Probleme" in der Berliner Humboldt-Universität. An dieser Vorlesung nahmen 1250 Menschen teil. Die Vorträge wurden auf Band mitgeschnitten und verschriftlich an die Teilnehmer*innen ausgegeben. Im Anschluss führte Havemann drei ergänzende Seminare durch, von denen die Mitschrift des 3. Seminars nachfolgend  - ohne Einleitung - reprinted wird. Als Quelle des HTML-Transkripts diente: Robert Havemann, Dialektik ohne Dogma? Reinbek 1964, S. 160ff

..... Ich will heute die Anfrage eines Hörers beantworten, die sich mit der Dialektik beschäftigt. Die Frage lautet:

«Die Erkenntnisse einer beliebigen empirischen Wissenschaft sind im Prinzip in exakter, systematischer Form darstellbar. Anders ausgedrückt: die Erscheinungen, die studiert werden, sind nur in dem Maße verstan­den, in dem sie durch ein entsprechendes exaktes System, einen Kalkül, beschrieben und erfaßt werden, d. h. jede empirische Wissenschaft steu­ert in der Tendenz auf die Axiomatisierung ihrer Erkenntnisse zu. Eine exakte Formalisierung ihrer Einsichten bildet einen wesentlichen Be­standteil jeder generalisierenden empirischen Wissenschaft. Wenn diese Annahme richtig ist, was ist dann Philosophie, speziell der dialektische Materialismus? Einen systematischen Kalkül der Dialektik gibt es nicht nur noch nicht, es darf ihn nie geben, weil eben dann das Anwendungs­gebiet ein für allemal abgesteckt wäre. Also ist die Dialektik keine Wissenschaft im Sinne der übrigen Erfahrungswissenschaften. Sie ist überhaupt keine Theorie im eigentlichen Sinne; denn eine Theorie muß mindestens in der Tendenz formalisierbar sein — wie es etwa die Kyber­netik in wichtigen Teilen ist. Die Dialektik ist dann etwa ein stets er­weiterbares Arsenal von heuristischen Verfahrensweisen, die sich in Einzelwissenschaften bewährt haben, ohne selbst als Ganzes zur Theo­rie zu tendieren; denn natürlich ist die Philosophie und insbesondere die Dialektik nicht eine Theorie des Denkens. Die würde in den Bereich der Psychologie fallen. Was also ist Dialektik, wenn sie keine Theorie ist? Wie weit kann man exakt sagen, was Dialektik ist? Und in welcher Sprache müßte man es sagen? In einer Sprache, die alle Erkenntnisse aller Wissenschaften auszudrücken erlaubt? Dies erscheint mir als ein Monstrum. Oder in einer Sprache, die die allen Wissenschaften gemein­samen Eigenschaften auszudrücken erlaubt? Aber das ist die mathema­tische Logik. Oder in einer von allen Einzelwissenschaften unabhän­gigen (Sprache) ? Oder kann man nicht exakt sagen, was Dialektik ist?»

Es ist vollkommen richtig, daß alle Wissenschaften danach streben, ihre Erkenntnisse zu axiomatisieren, und daß letzten Endes erst, wenn dies gelungen ist, die betreffenden Gegenstände und Zusammenhänge vollständig wissenschaftlich erfaßt sind. Im Einklang mit der Meinung des Hörers bedeutet dies, daß die Entwicklung der Wissenschaft nicht mit den Axiomen beginnt, sondern bei ihnen endet. Die Theorie in ihrer Vollständigkeit, in ihrer logischen Widerspruchslosigkeit und Einheit­lichkeit, ist das Endergebnis einer länger dauernden Entwicklung. Die Wissenschaft gewinnt immer zuerst eine Anzahl von Einzelerkennt­nissen, Einzelwahrheiten. Es ist dann die Aufgabe der Theoretiker, diese einzelnen Wahrheiten miteinander zu verknüpfen, ihren tieferen Zu­sammenhang zu entdecken und eine einheitliche Theorie daraus aufzu­bauen. Wenn wir dann schließlich eine wohlausgearbeitete Theorie haben, können wir sie nun in der umgekehrten Reihenfolge, wie sie historisch entstanden ist, aus ihren Axiomen logisch entwickeln. Die Axiome sind auf diese Weise indirekt nur durch die Unsumme von Tatsachen, die sie stützen, bewiesen.

Da die Erkenntnis in den Einzelwissenschaften auf diesem Wege voranschreitet, könnte man fragen: Gäbe es dann also für jede Einzel­wissenschaft ein Ende ihrer Entwicklung, nämlich eben die Axiomati­sierung ihrer Erkenntnisse? Sie hätte die Grundaxiome gefunden, die diesen Bereich der Wirklichkeit theoretisch zusammenfassen. Alle wei­tere wissenschaftliche Arbeit bestünde nur noch in Kleinarbeit, nämlich in der logischen Ausarbeitung aller speziellen Schlußfolgerungen, die sich aus der Theorie, auf jeweilige konkrete Gegenstände bezogen, er­geben. Wie wir wissen, verläuft die Entwicklung der Wissenschaft in Wirklichkeit ganz anders. Wenn eine Wissenschaft zu einer Axiomati-sierung ihrer Erkenntnisse gelangt ist, entsteht immer eine merkwür­dige Situation. Zuerst erscheint zwar das System der Axiome mit allen Erfahrungstatsachen in Einklang. Aber sehr schnell werden neue Er­fahrungstatsachen entdeckt, die sich in den Rahmen der Theorie nicht mehr einfügen lassen. Die Naturwissenschaftler sind hierüber keines­wegs unglücklich, sondern hocherfreut. Gerade wenn die allgemeinsten Einsichten in Frage gestellt werden, wissen wir, daß die Wissenschaft wiederum einen neuen großen Fortschritt vor sich hat. Die Axiome er­scheinen also nur als die Zusammenfassung des bisher erfaßten Berei­ches der Wirklichkeit, aber offensichtlich nicht als die Zusammenfas­sung der Gesamtwirklichkeit.

Häufig werden die Axiome sogar als in sich widerspruchsvoll er­kannt. Die Vorstellungen von der Widerspruchlichkeit der Axiome durchlaufen gewöhnlich verschiedene Stadien. Lassen Sie mich dies an einem Beispiel erläutern. Eins der wesentlichen Axiome der klassischen Mechanik, wie sie von Newton ausgearbeitet wurde, heißt: «Ein Körper beharrt im Zustand der Ruhe oder der Bewegung, solange keine äußere Kraft auf ihn einwirkt.» Dies ist ein Grundaxiom der klassischen Me­chanik. Dieses Axiom erschien zu der Zeit, als es formuliert wurde, als äußerst widerspruchsvoll. Es schien doch so, als ob es in Wirklichkeit gerade umgekehrt wäre. Man glaubte nämlich, daß ein Körper sich nur bewegen könne, wenn ihn ständig Kräfte antreiben. Daß ein Körper sich bewegen solle ohne antreibende Kräfte, erschien als widersinnig, als widerspruchsvoll. Die Naturwissenschaft hat im Lauf ihrer Entwicklung begriffen, daß diese Art von Widerspruch nur ein Widerspruch mit alten Vorstellungen war. Daß die Axiome der Newtonschen Mechanik in einem ganz anderen Sinne voller Widerspruch sind, hat man erst viel später entdeckt. Nehmen wir als Beispiel den Begriff der Gleichzeitig­keit. Der klassischen Mechanik liegt die Vorstellung zugrunde, daß es eine absolute Gleichzeitigkeit in der ganzen Welt gibt. Es wird ange­nommen, die Zeit sei ein einheitlicher Parameter für alle Erscheinungen an allen Orten der Welt, so daß man sagen kann, daß der Augenblick der Gegenwart zur gleichen Zeit an allen Orten der Welt «stattfindet». Schon Newton, der tief über die Probleme der Physik nachgedacht hat, war sich darüber im klaren, daß diese Aussage durch keinerlei Erfah­rung verifiziert werden kann, da es nicht möglich ist, zu gleicher Zeit an allen Orten zu sein. Newton wußte, daß auch die Physiker sich im­mer nur an einem bestimmten Ort befinden können und daß Nachrich­ten zwischen ihnen nur mit Mühe ausgetauscht werden können. Wie wir heute wissen, ist dieser Nachrichtenaustausch nicht mit unendlicher Geschwindigkeit möglich, sondern nur mit einer begrenzten, endlichen Geschwindigkeit, nämlich der Lichtgeschwindigkeit. Auf dieser Proble­matik beruht ja die ganze Relativitätstheorie. Newton wußte zwar nichts von der merkwürdigen Eigenschaft des Lichtes, daß seine Geschwindig­keit unabhängig von der Bewegung der Körper und unabhängig von dem System ist, in dem sie gemessen wird. Hätte er diese Kenntnisse besessen, so hätte er die Relativitätstheorie ausarbeiten können. Aber er hat schon erkannt, daß die Vorstellung der Gleichzeitigkeit, wie sie in seiner Theorie als Axiom enthalten ist, keine echte physikalische Er­fahrungstatsache ist. So bemühte er sich, dem Stil seiner Zeit entspre­chend, den Begriff der Gleichzeitigkeit mit der Allmacht des göttlichen Wesens zu erklären. Er meinte, weil das göttliche Wesen in seiner All­macht die Fähigkeit besitzt, gleichzeitig wahrzunehmen, was in beliebi­ger Entfernung voneinander in der Welt geschieht, weil seine Augen überall sind, auch in unendlicher Entfernung voneinander, ist die Gleich­zeitigkeit zwar nicht den Menschen, wohl aber dem Herrn aller Dinge erfahrbar. Damit hat Newton den wesentlichen Punkt, wo in seinem Axiomensystem tatsächlich ein dialektischer Widerspruch enthalten war, schon bei der Ausarbeitung seines Systems entdeckt. Die moderne Ent­wicklung der Wissenschaft führte aber zur Lösung dieses Widerspruchs, nämlich zu der Erkenntnis, daß keine solche absolute Gleichzeitigkeit existiert. Es erwies sich als notwendig, das Problem der Gleichzeitigkeit tiefer zu axiomatisieren, wie es in der allgemeinen Relativitätstheorie schließlich geschehen ist.

Fassen wir also zusammen: Naturwissenschaftliche Theorien und überhaupt alle wissenschaftlichen Theorien streben zweifellos der Axio-matisierung zu. Wenn sie sie erreicht haben, entsteht aber gewöhnlich eine Situation, in der bereits innere dialektische Widersprüche des Axiomensystem sichtbar werden. Ganz sicher folgen bald darauf neue Einsichten der Wissenschaft, die mit dem betreffenden Axiomensystem überhaupt unvereinbar sind und die Wissenschaft dazu zwingen, wei­terzuschreiten und schließlich neu zu axiomatisieren. Dasselbe gilt übri­gens auch von der Entwicklung der Mathematik. Vielfach erscheint die Mathematik als eine Wissenschaft, die von der Erfahrung ganz unab­hängig ist. Es gibt eine komplizierte und schwierige Diskussion unter den Mathematikern über die Frage, in welchem Zusammenhang die Mathematik mit der praktischen Erfahrung steht. Die historische Ent­wicklung zeigt, daß stets zunächst eine große Anzahl mathematischer Sätze «entdeckt» wird, lange bevor die Axiome formuliert werden, aus denen sie hergeleitet werden können. Die Mathematik hat sich also ebenso entwickelt wie die reinen Erfahrungswissenschaften. Das er­scheint sehr merkwürdig, weil ja die Mathematik «durch reines Den­ken» vorangebracht wird. Die Überlegungen der Mathematiker werden oft durch bestimmte praktische Aufgaben angeregt. Bestimmte Probleme aus der Erfahrungswelt der anderen Wissenschaften treten als mathematisierbare Probleme auf. Aber das schließt die Tatsache nicht aus, daß der Mathematiker sich nun vollständig von allen empirischen Fakten freimachen muß. Er muß nun tatsächlich mit reinen Gedanken­dingen operieren. Bei diesem Loslösen des Problems vom konkreten Gegenstand gerät der Verstand in tiefere Gefilde der Abstraktion. So erkennt er schrittweise viele Wahrheiten und viel später erst ihren tie­feren Grund in der Form der Axiome.

Bei der Analyse der axiomatischen Methode ist die mathematische Logik zu den berühmten Goedelschen Sätzen gekommen. Eigentlich handelt es sich um ein uraltes Problem der Logik, daß man nämlich Aussagen machen kann, die den Prinzipien der formellen Logik in kei­nem Punkt widersprechen und die doch in ihrem Wahrheitsgehalt nicht logisch entschieden werden können und nicht einheitlich axiomatisiert werden können. Die Goedelschen Sätze besagen, daß es immer eine große Anzahl von wahren Sätzen im Bereich einer Wissenschaft gibt (auch im Bereich der Mathematik), die sich weder durch eine endliche noch durch eine unendliche Zahl von Axiomen begründen lassen. Es ist sehr erstaunlich, daß mit den Mitteln der mathematischen Logik er­kannt wird, daß jede Axiomatisierung immer nur einen Teil der gesam­ten wahren Erkenntnisse über einen zusammenhängenden Begriffs­bereich zusammenfassen kann. Das Axiomatisieren ist also ein Prozeß, der ständig voranschreiten muß.

Mich erinnert diese Situation an eine merkwürdige Argumentation, mit deren Hilfe die katholische Kirche manchmal die Existenz Gottes wissenschaftlich beweisen wollte. Ich las das kürzlich in dem geistreichen Buch Bertrand Russells «Warum ich kein Christ bin». Daß es einen Gott gibt, will die Kirche damit beweisen, daß es ja für jede Erscheinung eine Ursache geben muß. Es muß also auch eine erste Ursache geben, und diese ist Gott. Bertrand Russell wendet als Logiker dagegen ein, daß sich dann sofort die Frage nach der Ursache Gottes erhebt. Die Ar­gumentation, daß, wenn es für alle Ereignisse immer Ursachen gab, dann eine erste Ursache gegeben haben müsse, ist aber vollständig un­logisch. Denn sie wäre ja die einzige Ursache, die selbst keine hatte. Daß aber alle Erscheinungen eine Ursache hatten, wurde ja vorausgesetzt. Nicht anders ist es, glaube ich, mit den Axiomen. Wenn eine Wissen­schaft axiomatisiert wird, so stellen die Axiome die tieferen Gründe dar für eine große Anzahl von Zusammenhängen und Erscheinungen, die von der Theorie erfaßt werden. Was aber waren die Gründe der Grün­de? Gibt es für diese Axiome keine Gründe? Wenn es diese Axiome ab­solut und unabhängig von allem von sich aus gäbe, wer hätte sie in die Welt gesetzt? Der Glaube an weiter durch nichts zu begründende Axio­me wäre auch nur eine theologische Auffassung der Naturgeschichte. Man könnte dann leicht sagen, daß die Existenz dieser weiter nicht be­gründbaren Axiome beweise, daß ein göttliches Wesen existiert, das sich gerade diese Axiome ausgedacht hat. Dies ist übrigens eine etwas abgewandelte Form eines gleichfalls von der katholischen Kirche ver­tretenen Gottesbeweises. Bertrand Russell meint hierzu, das Merkwür­dige sei, daß trotz der Freiheit Gottes, sich diese Axiome nach eigenem Geschmack auszudenken, diese Welt so alles andere als angenehm und erfreulich ist. Es gäbe zwar Leute, die sagen, daß die Welt nur deswegen so unvollkommen und unerfreulich ist, weil in einem Augenblick, als der liebe Gott nicht aufpaßte, der Teufel die Welt geschaffen hat. Ber­trand Russell meint, man könne aber nicht von ihm verlangen, daß er auch diese Ansicht, für die man viele Argumente vorbringen könne, noch widerlegen müsse.

Der erste Teil der Einwendung des Hörers führt uns also zu dem Er­gebnis, daß wir wohl bestimmte Erscheinungen unter bestimmten Axio­men zusammenfassen können, daß aber der Fortschritt der Erkenntnis niemals hierdurch aufgehalten wird, daß ein Ende der Axiomatisierung unserer Erkenntnis nicht denkbar ist. Das folgt logisch aus den Goedel­schen Sätzen und entspricht auch der Erfahrung. Die Erkenntnis ist ein unendlicher Prozeß. Dies ist aber gerade eine der Aussagen der Dialek­tik. Die Erkenntnis ist aus doppeltem Grunde ein unendlicher Prozeß. Einmal, weil wir mit ihr nie zu Ende kommen, weil wir doch beschei­denerweise zugeben müssen, daß uns das Denken schwerfällt wegen der Schwäche unseres Verstandes. Aber auch die Natur, der Gegenstand unserer Erkenntnis, ist ein unendlicher Prozeß. Sie bringt immer Neues hervor. Die Naturwissenschaft hat in der vielfältigsten Weise den Satz des Heraklit erwiesen, daß wir immer eine andere Welt vor uns haben werden, so daß es nicht genügt, nur von der vergangenen zu wissen, um alle Zukunft vorhersehen zu können. Die Zukunft liegt im Dunkeln. Der Scheinwerfer, mit dem wir diese Dunkelheit zu durchdringen su­chen, reicht nicht weit. Oder anders ausgedrückt: In den wissenschaft­lichen Axiomen, die wir in unseren Theorien schließlich formulieren, kommen bestimmte dialektische Kategorien, manchmal auch mehrere zu merkwürdiger, widersprüchlicher Einheit verknüpft, zum Ausdruck. Der Wissenschaftler sollte sich der Widersprüchlichkeit gerade der in abstrakter Form zusammengefaßten wissenschaftlichen Erkenntnisse stets bewußt sein. Das ist der Übergang zur bewußten Dialektik, die man nicht erst im nachhinein entdeckt, auf die man vielmehr von vorn­herein gefaßt ist, die man sucht. Um die Frage des Hörers zu beant­worten, was Dialektik ist, muß man also zunächst sagen: die Dialektik in unserem Bewußtsein ist die Widerspiegelung der objektiven Dialek­tik, oder wie Engels es formuliert: «Die Dialektik, die sogen, objektive, herrscht in der ganzen Natur, und die sogen, subjektive Dialektik, das dialektische Denken, ist nur der Reflex, der in der Natur sich überall geltend machenden Bewegung in Gegensätzen, die durch ihren fortwährenden Widerstreit und ihr schließliches Aufgehen ineinander, resp. in höhere Formen, eben das Leben der Natur bedingen.»(1) Die objektive Dialektik muß man also in den wirklichen Zusammenhängen entdek-ken. Man kann sie nicht aus dem Kopfe, aus formulierten dialektischen Kategorien, durch Axiomatisierung ableiten. Dialektik ist das Sich-bewußt-Sein und das Sich-bewußt-Machen des dialektischen Charak­ters der Wirklichkeit.

Engels hat gesagt, wenn erst die Wissenschaft bewußt dialektisch operiert, wird «der philosophische Kram überflüssig». Damit dieser Satz nicht mißverstanden wird, will ich einen anderen Satz von Engels zitieren: Der moderne Materialismus, sagt Engels, ist «wesentlich dia­lektisch und braucht keine über den anderen Wissenschaften stehende Philosophie mehr. Sobald an jede einzelne Wissenschaft die Forderung herantritt, über ihre Stellung im Gesamtzusammenhang der Dinge und der Kenntnis von den Dingen sich klarzuwerden, ist jede besondere Wissenschaft vom Gesamtzusammenhang überflüssig. Was von der ganzen bisherigen Philosophie dann noch selbständig bestehenbleibt, ist die Lehre vom Denken und seinen Gesetzen, ist die formelle Logik und die Dialektik. Alles andere geht auf in die positive Wissenschaft von Natur und Geschichte.»(2) Damit wird also ein System der Dialektik, wie es z. B. noch Hegel entwickelt hat, als überflüssig bezeichnet. Das wäre nämlich die Philosophie in der bisherigen Form. Aber auch die for­melle Logik, die nach Engels von der bisherigen Philosophie dann noch übrigbleibt, ist heute auch schon keine Philosophie mehr, sondern ist bereits eine Einzelwissenschaft, eine mathematische Disziplin geworden. Es bleibt die Dialektik, aber nicht als ein axiomatisierbares System, sondern in diesem einzig vernünftigen Sinn, daß die Dialektik der Dinge zu begreifen heißt: über die Grenzen der Einzelwissenschaften hinaus den tiefen inneren Zusammenhang aller Erscheinungen in allen Bereichen der Wirklichkeit zu verstehen. Indem wir die ursprüngliche Einheit der Wissenschaften wiederherstellen, brauchen wir keine be­sondere Wissenschaft von dieser Einheit mehr. Wir brauchen kein be­sonderes System von philosophischen Lehrsätzen und Behauptungen. Wir brauchen nur die positiven Wissenschaften und das Bewußtsein ihres großen inneren Zusammenhangs. Das bedeutet die dialektische Aufhebung der Philosophie, die Negation der Negation des ursprüng­lichen naiven Materialismus, die Aufhebung im modernen Materialis­mus, der positive Wissenschaft und Philosophie wieder zu einer Einheit zusammenschmilzt. Es bedeutet, daß Dialektik losgelöst von der Wirk­lichkeit niemals materialistische Dialektik sein kann. Dialektik «an sich» ist leblos, inhaltslos und rein formal. In Verbindung mit unseren wirklichen Kenntnissen aber ist die Dialektik der moderne Materialis­mus. Die erste Negation des ursprünglichen naiven Materialismus war nach Engels der Idealismus. Die moderne, einheitliche Auffassung von der Welt hat den Idealismus wiederum negiert und auf höhere Stufe gehoben. Da ist der dialektische Materialismus. Weil unsere prak­tische Erfahrung und unser wissenschaftliches Arbeiten uns davon über­zeugt haben, daß der Erkenntnisprozeß immer weiter voranschreitet und nie zu einem Ende gelangt, darum wissen wir, daß es keine end­gültige abschließende Aussage über den Gesamtzusammenhang geben kann. Jede Anmaßung einer solchen endgültigen Aussage ist nicht materialistisch und nicht wissenschaftlich. In diesem Sinne also wird es keine besondere Philosophie mehr geben, sondern nur noch die wissen­schaftliche Ergründung der objektiven Dialektik in allen Bereichen der Wirklichkeit.

Lassen Sie mich an diese Darlegungen noch einige Betrachtungen zu zwei Fragen anschließen, die oft in Diskussionen auftreten. Zunächst die Frage nach der Einheit von Form und Inhalt. Sie hat große Bedeu­tung in der Ästhetik und natürlich auch in vielen anderen Bereichen der Wissenschaft. Es wird oft gesagt, die Einheit von Form und Inhalt be­deute, daß einem bestimmten Inhalt eine bestimmte Form entspricht, daß der Inhalt sich in der Form abbildet und in der Form zum Aus­druck kommt. Danach besteht also ein zwangsläufiges Verhältnis zwi­schen Form und Inhalt. Wenn bei einem Kunstwerk die Form nicht ge­fällt, so soll es am Inhalt liegen. Bei der modernen Kunst wird allerdings oft gesagt, daß Form und Inhalt auseinanderklaffen und daß alles auf primitive Formen reduziert sei, weil es an Inhalt mangele. Ich möchte zunächst zu bedenken geben, daß vom Standpunkt der Dialektik Form und Inhalt eine widersprüchliche Einheit sind. Form und Inhalt bilden keine harmonische Einheit. Das bedeutet aber, daß keineswegs ein be­stimmter Inhalt immer eine bestimmte Form hat. Der gleiche Inhalt kann in vielen Formen und in der gleichen Form können viele Inhalte sein. Der Widerspruch zwischen Form und Inhalt kann dazu führen, daß der Inhalt die Form sprengt. Dieser Fall ist in der marxistischen Theorie oft behandelt worden. Welch ungeheurer Widerspruch entwik-kelt sich oft gerade in der politischen Arena. Revolutionen und große Umwälzungen gehen aus dem Widerspruch von Form und Inhalt her­vor. Der Inhalt sprengt die Form und gewinnt eine neue Form. Es gibt aber auch Formen, die gar keinen Inhalt mehr haben. Man nennt sie Versteinerungen. Sie sind aber doch existent. Der ursprüngliche Inhalt ist vergangen und der neue Inhalt, der mit der Form nichts mehr zu tun hat, hat doch bewirkt, daß die alte Form sich in ihrer Leblosigkeit ver­ewigt. Marx hat gesagt, daß der Feudalismus Chinas und Indiens den Charakter einer Versteinerung besitzt, eines Reliktes, das nicht mehr lebendig, nur noch Form ohne Inhalt ist. Bis auf den heutigen Tag sind wir in unserer Gesellschaft von Versteinerungen umgeben, die gar kei­nen wirklichen Inhalt mehr haben. Diese Tatsache soll man nie aus den Augen verlieren. Es gibt natürlich die Möglichkeit, Versteinerungen zu sammeln. Wenn wir das tun, um uns an ihrem äußeren Erscheinungs­bilde wegen ihrer Merkwürdigkeit zu erfreuen, ist dagegen nichts einzu­wenden. Es ist auch gut, sie in Museen zu bringen, damit sie uns nicht mehr im Wege liegen. Leider gibt es aber gerade im Bereich unserer sittlichen Normen, unserer alltäglichen Gewohnheiten und Vorurteile so manche Versteinerung, Form ohne lebendigen Inhalt, die uns sehr behindern, neue Formen für die neuen Inhalte unserer Zeit zu finden.

Eine zweite Frage aus dem Gebiet der Ästhetik, die mich immer beun­ruhigt hat, betrifft den Begriff des Typischen. Man sagt, Kunstwerke sollen Erkenntnisse über allgemeine Zusammenhänge unserer mensch­lichen Wirklichkeit zum Ausdruck bringen, aber in der Form des Ein­zelnen; also nicht in einer allgemeinen abstrakten theoretischen Form, sondern in der konkreten Form von etwas Bestimmtem, ganz Vereinzel­tem. Man kann aber natürlich das Allgemeine nicht in der Form des konkreten Einzelnen zum Ausdruck bringen, wenn man einfach nur irgendein beliebiges Einzelnes aus der riesigen Flut des Wirklichen nimmt. Was für ein Einzelnes soll also die Kunst ergreifen, um das Allgemeine zum Ausdruck zu bringen? Etwa das Durchschnittliche, das Mittelmäßige, das Häufigste, das Normale? Auf keinen Fall. Es ist nicht das Typische. Es wird aber oft als das Typische angesehen. Das Typische, in dem das Allgemeine zum Ausdruck gebracht werden kann, muß etwas ganz Ungewöhnliches sein, das in der Wirklichkeit gar nicht zu finden ist. Weil ein Kunstwerk das Allgemeine durch das Typische zum Aus­druck bringt, kann es niemals eine direkte Abbildung der Wirklichkeit sein. Es muß etwas Unwirkliches benutzen, um die Gesetze der Wirk­lichkeit darzustellen. Darum darf man bei einem großen Kunstwerk nie danach fragen, ob wirklich geschehen konnte, was in dem Kunstwerk geschah, ob je solch ein Mensch uns begegnet ist, wie ihn das Kunst­werk geschaffen hat, ob es überhaupt irgendwo irgend etwas gibt oder geben könnte, das so ist, wie es im Kunstwerk vor unser Auge tritt. Das sind keine Kunstwerke, in denen passiert, was wirklich geschieht. In einem Kunstwerk muß etwas geschehen, was in der Wirklichkeit überhaupt nicht geschehen kann. Dann erst ist es ein wahres Kunst­werk. Ich möchte diese Stunde mit dem Wort beschließen, daß wir alle, die wir uns wissenschaftlich strebend mühen, in dem Sinne Künstler sind, daß wir etwas verwirklichen möchten, was nicht geschehen kann.

Anmerkungen

1) Friedrich Engels, «Dialektik der Natur», Marx-Engels-Werke, Band 20, S. 481
2) Friedrich Engels, «Anti Dühring», Marx-Engels-Werke, Band 20, S. 24

Ebenfall bei TREND erschienen:

  • Robert Havemann
    Rede auf der Tagung «Die fortschrittlichen Traditionen in der deutschen Naturwissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts», Leipzig, September 1962