Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts
und im Verlaufe unseres Jahrhunderts traten in den
Naturwissenschaften einige außerordentlich schwierige Probleme
auf, von denen viele bis heute nur teilweise und manche überhaupt
noch nicht gelöst sind. Meine Frage lautet ganz allgemein: Hat
Philosophie bei der Lösung dieser Probleme geholfen? — ich denke
dabei an jede Art von Philosophie, nicht an eine bestimmte, an
Philosophieren überhaupt und jedwede Hinwendung zu
philosophischen Ideen der Vergangenheit und Gegenwart.Allem
voran will ich ein Wort von Friedrich Engels aus der «Dialektik
der Natur» zitieren, ohne daß ich deshalb in den Verdacht kommen
möchte, ich hielte Zitate für Beweise. Engels befaßt sich an
dieser Stelle seines Buches mit der Frage der Beziehung der
Philosophie zu den Naturwissenschaftlern: «Die Naturforscher
glauben sich von der Philosophie zu befreien, indem sie sie
ignorieren oder über sie schimpfen. Da sie aber ohne Denken nicht
vorankommen und zum Denken Denkbestimmungen nötig haben, diese
Kategorien aber unbesehen aus dem von den Resten längst
vergangener Philosophien beherrschten gemeinen Bewußtsein der
sogenannten Gebildeten oder aus dem bißchen auf der Universität
zwangsmäßig gehörter Philosophie oder aus unkritischer und
unsystematischer Lektüre philosophischer Schriftsteller aller
Arten nehmen, so stehen sie nicht minder in der Knechtschaft der
Philosophie, meist aber leider der schlechtesten, und die, die am
meisten auf die Philosophie schimpfen, sind Sklaven gerade der
schlechtesten, vulgarisierten Reste der schlechtesten
Philosophie.»(1)
Nun - welches waren diese schlechtesten vulgarisierten Reste
der schlechtesten Philosophien, in deren Knechtschaft sich die
Naturwissenschaftler befanden, als sie vor große, neue,
schwierige Probleme gelangten? Diese schlechtesten vulgarisierten
Reste waren die Ideen und die Denkweise des mechanischen
Materialismus. Dies ist eine Philosophie, von der schon Engels
sagte, daß sie mit einem Fuße in der Theologie steckt. Mit der
Bezeichnung Materialismus konnte sie überhaupt nur während der
Zeitspanne «geehrt» werden, in der sie materialistisch wirkte.
Tatsächlich ist das, was wir den mechanischen Materialismus
nennen, kein wirklicher Materialismus. Es ist eine philosophische
Konzeption, die sich hauptsächlich aus der klassischen Physik
ergeben hat. Sie offenbart schon dadurch ihren
objektiv-idealistischen Charakter, daß in ihr Materie und
Gesetzmäßigkeit voneinander getrennt werden. Nach dieser Lehre
steht ein System unabänderlicher allgemeiner Naturgesetze als
herrschendes Prinzip über der von ihnen beherrschten Materie.
Deshalb ist der objektive Idealismus für Naturwissenschaftler,
die auf dem Boden des mechanischen Materialismus stehen, eine
sehr sympathische Philosophie. Hier stimmt doch scheinbar alles
mit der Methodik der Naturwissenschaft bestens überein. Man hat
die objektive Realität vor sich, die von keinem objektiven
Idealisten angezweifelt wird; man hat mehr oder weniger unklare
Bilder von den Erscheinungen und vermutet dann hinter ihnen die
Ideen, die sie beherrschen, nämlich die allgemeinen Gesetze und
Gesetzmäßigkeiten. Dadurch gelangt man in Kontakt mit dem
höheren, geistigen Wesen der Welt. Der Naturforscher, der gerade
von den Vertretern des Geistes so oft beschimpft wird, weil er
sich mit dem Dreck der Materie beschäftigt, muß geradezu ein
Wohlgefühl dabei empfinden, wenn er auf diese Weise nun doch mit
dem «Höheren» in Verbindung gelangt. Darum ist der mechanische
Materialismus eine geistige Einstellung, die ihm nicht nur sehr
angenehm ist und all seinen schlechten Charaktereigenschaften
freundlich entgegenkommt, sondern dieser mechanische
Materialismus ist in der Periode, die jetzt hinter uns liegt und
deren Ende wir noch nicht ganz erreicht haben, zum schwersten
philosophischen Hindernis für die Lösung der neuen Probleme
geworden. Er ist die platteste und zugleich intellektuell
unehrlichste Form eines metaphysischen objektiven Idealismus. Er
ist für die Fragen, die in der Wissenschaft heute zur
Entscheidung herangereift sind, im Sinne von Engels die
schlechteste und vulgärste aller Philosophien.
Es fragt sich nun: Welches war die Philosophie, welches waren
die philosophischen Konzeptionen, die dem Naturwissenschaftler
bei der Überwindung dieser mechanisch-materialistischen
Auffassungen geholfen haben? Waren es die Gedanken von Kant,
Hegel und Mach? Kant muß man erwähnen, weil er durch seine
skeptische Einstellung die Naturwissenschaftler davor gewarnt
hat, alles so zu nehmen, wie es sich in der Natur ihrem Blicke
darbietet und dazu beigetragen hat, ihrem eigenen Denken
gegenüber kritisch zu werden. Mit Kant und mit seinen Vorläufern
Hume, Berkeley, Locke u. a. kam in den Geist der
Naturwissenschaftler etwas hinein, was der wissenschaftlichen
Problematik förderlich war - eine gewisse Bedenklichkeit, eine
Vorsicht in der Ausdeutung von Ergebnissen, der Zweifel am
einfachen materiellen Wirklichen. Philosophisch führt dies zwar
auch nicht zum Ziele. Dennoch wirkten Kant und die
Empiriokritizisten als Elemente der Auflockerung. Der große
Einfluß, den Mach später auf viele Naturwissenschaftler
ausübte, beruhte gleichfalls auf dieser Wirkung. Es heißt nicht,
daß Einstein und andere, die sich auf Mach beriefen, wirklich
dessen philosophische Ansichten konsequent übernahmen; aber es
gefiel ihnen daran die Bereitschaft, mit überkommenen Ansichten
aufzuräumen und die Naivität aufzugeben, die man nicht gebrauchen
kann, wenn man große Probleme lösen will.
Hegel, der Philosoph, der die Dialektik in einzigartiger Weise
dargestellt und ausgearbeitet hat, hätte sicherlich den
Naturforschern im Laufe dieses Jahrhunderts in verschiedenen
Fällen von größtem Wert sein können. Wenn man aber Hegel einmal
gelesen hat und die Schriften studiert hat, die für den
Naturwissenschaftler wichtig sind, hauptsächlich die
«Wissenschaft der Logik», dann versteht man, warum die
Naturwissenschaftler schließlich doch mit Hegel gar nichts
anzufangen wußten. Nachträglich kann man zwar feststellen, daß
einige theoretische Konzeptionen, zu welchen u. a. die
Quantenmechanik gelangt ist, sich in Hegels Logik wie vorgeahnt
vorfinden. Viele dialektische Kategorien von größter Tragweite
für bestimmte moderne Probleme hat Hegel in geradezu seherischer
Weise bereits so dargestellt, daß man seine Analysen jetzt, wo
die wissenschaftliche Theorie vorliegt, wie eine Vorwegnahme
kommender Erkenntnis empfindet. Tatsache aber ist, daß der
einzige wirklich dialektische bürgerliche Philosoph fast gar
keinen Einfluß auf Naturwissenschaftler ausgeübt hat. Er wurde
von ihnen abgelehnt. Seine Gedanken wurden als intellektuelle
Spielereien und höchst schrullige und abwegige Ideen ad acta
gelegt.
Übergehend von der bürgerlichen Philosophie jener Zeit zur
dialektisch-materialistischen Philosophie kann man sagen, daß es
eigentlich nur wenige Schriften gibt, die überhaupt die
Entwicklung der Naturwissenschaften beeinflussen und den
Naturwissenschaftlern bei der Bewältigung ihrer theoretischen
Probleme helfen konnten: der «Anti Dühring» und die «Dialektik
der Natur» von Engels und «Materialismus und Empiriokritizismus»
von Lenin. Diese drei Schriften haben sich aber aus historischen
Gründen überhaupt nicht ausgewirkt. Die «Dialektik der Natur»
wurde nicht publiziert. Erst im Jahre 1925 erschien eine sehr
mangelhafte erste deutsche Ausgabe in der Sowjetunion, und es
dauerte bis 1952, bis im Dietz-Verlag zum erstenmal dieses Buch
in Deutschland erschien und einer größeren Zahl von Lesern
zugänglich wurde. Ferner ist die «Dialektik der Natur» nur ein
Fragment, das von Fachleuten abgelehnt wurde; es ist gerade für
den Naturforscher mühevoll zu lesen - es sind lange Strecken
darin, in denen, vom Standpunkt des Physikers gesehen, teilweise
naive, jeden-aüs altertümliche Dinge abgehandelt werden. Wie uns
das Buch vorliegt, ist es überhaupt nicht
für einen Menschen lesbar, der erst an die marxistische
Philosophie herangeführt werden soll, der ihr noch
skeptisch, mißtrauisch und ablehnend
gegenübersteht. So ist denn die-
ses Buch bei Naturwissenschaftlern nahezu unbekannt geblieben.
In der DDR mag es einige Naturwissenschaftler geben, die
gelegentlich die Nase hineingesteckt haben; aber in der übrigen
Welt, einschließlich der Sowjetunion, bin ich nur wenigen
Naturforschern begegnet, die Engels «Dialektik der Natur»
kannten.
Der «Anti Dühring» ist eine Streitschrift, deren Streitobjekt
Eugen Dühring außerhalb der Arbeiterbewegung keinerlei
Attraktionen ausübte. Sie war deshalb für die meisten Leute, die
sich mit solchen Sachen nicht befassen wollten, ein Greuel.
Ähnlich schwierig verhält es sich mit Lenins «Materialismus und
Empiriokritizismus». Auch dieses Buch wurde erst sehr spät in
Deutschland zugänglich und blieb außerhalb der russischen
Arbeiterbewegung weitgehend unbekannt. Es wandte sich ja auch
nicht an naturwissenschaftliche Theoretiker, Physiker, Biologen
usw.
Alle drei Bücher waren gar nicht darauf angelegt, eine Wirkung
auf die moderne Naturwissenschaft auszuüben. Sie dienten der
Klärung wichtiger ideologischer Fragen innerhalb der
Arbeiterbewegung. Aber vielleicht hätten sie im Laufe der Zeit
die Naturwissenschaft beeinflussen können, und zwar in dem Maße,
in dem die Sowjetunion sich entwik-kelte und in dem dort die
Philosophie des dialektischen Materialismus zur Wirkung gelangte.
Tatsächlich aber setzte in der Zeit, die dann kam, ein
fortschreitender Verfall der Lehren des dialektischen
Materialismus ein. Immer mehr verarmten und verblaßten die
ursprünglichen Ideen, immer mehr schwächte sich die Kraft der
marxistischen Philosophie. Die Herren, die von den Kathedern der
Sowjetunion den dialektischen Materialismus lehrten, kehrten zu
den Positionen des Vulgär-Materialismus und des mechanischen
Materialismus zurück. Alle Dialektik in ihren Worten war nur noch
als verschämtes Alibi vor den Klassikern zu werten. Manchen mag
diese Behauptung nicht akzeptabel erscheinen - aber wie soll man
sich sonst all das erklären, was im Laufe der Jahre von den
offiziellen Vertretern des dialektischen Materialismus der
Sowjetunion und ebenso von kommunistischen philosophischen
Fachleuten in aller Welt zu den verschiedensten neuen Problemen
der Naturwissenschaft und zu deren Lösungen gesagt worden ist?
Wenn auch vielleicht nicht einheitlich, aber doch mit erheblicher
staatlicher und parteimäßiger Förderung, wurden sehr viele
entscheidende Aussagen und Konsequenzen der Relativitätstheorie,
der Quantenmechanik, der Genetik, der Kosmologie, eigentlich fast
aller neuer theoretischer Systeme und Ideen verurteilt. Es war
möglich, daß solche unwissenschaftlichen und philosophisch
unzulänglichen Schriften wie die von Viktor Stern hier in der DDR
ernsthaft als Werke des dialektischen Materialismus diskutiert
wurden. Wer kein Naturwissenschaftler ist, wird diese Tatsache in
ihrer vollen Bedeutung kaum ermessen können. Wie peinlich war es
schon, von derlei Schriften überhaupt
Kenntnis nehmen zu müssen. Unsere Zeitschrift für
Philosophie veranstaltete eine endlose Diskussion über Sterns
Buch. Ich habe mich aus purer Höflichkeit auch daran beteiligt;
das ist im Grunde verkehrt gewesen, und man hätte es eigentlich
ablehnen müssen. Sachliche Unkenntnis und philosophische
Unzulänglichkeit kennzeichnen viele philosophische Schriften, die
noch im Laufe der letzten Jahre bei uns in der DDR zu Problemen
der Naturwissenschaften veröffentlicht wurden. Es fragt sich, ob
man diesen Autoren zugute halten darf, daß sie sich oft nach
sowjetischen Vorbildern orientierten. Was R. Gropp in seinem
Büchlein(2) über den II. Hauptsatz der
Thermodynamik und die Wärmetodtheorie geschrieben hat, dürfte
jedoch kaum von einem sowjetischen Autor entlehnt worden sein.
Mit der Berufung auf sowjetische Autoren wurde bei uns schon
manches wissenschaftlich legalisiert, wovon sich in der
Sowjetunion niemand etwas träumen ließ. Auch mit Sterns Buch war
es ähnhch. Seine Veröffentlichung in der DDR war nicht mehr
aufzuhalten, nachdem Woprossi filosofii einen Sternschen
Artikel abgedruckt hatte, der den später in seinem Buch
breitgetretenen Unsinn in konzentrierter Form enthielt. Noch
heute erscheinen in der DDR Bücher, die von der Mehrheit der
sowjetischen Physiker längst als unzulänglich und unbrauchbar
abgelehnt worden sind, beispielsweise das Buch von Omeljanowski
über Quantenmechanik, dessen deutsche Übersetzung gerade in
diesen Tagen erschienen ist. Dies Buch ist ohne jede Bedeutung
und wird dem Problem in keiner Weise gerecht. Eine Reihe von
Philosophen in der Sowjetunion sind auch dieser Meinung, ebenso
alle Physiker, die das Buch gelesen haben.
Und was wurde sonst alles unter Berufung auf die Lehren des
dialektischen Materialismus diffamiert. Welcher Kampf wurde gegen
Linus Pauling wegen der Resonanztheorie in der Chemie geführt.
Die Veröffentlichung der Übersetzung eines Buches des
international berühmten Leningrader Fotochemikers Terenin, von
dem schon die Druckfahnen beim Verlag Technik (Berlin) vorlagen,
wurde in letzter Minute verhindert, weil Terenin sich in einigen
Punkten auf Paulings Resonanztheorie stützte. Ich hörte vor
einigen Monaten folgende Geschichte: Linus Pauling war von der
Zeitschrift Woprossi filosofii zu einer Unterhaltung
eingeladen worden. Er war gerade in Moskau. Die Genossen von
Woprossi filosofii sagten zu ihm: «Ach, lieber Herr Pauling,
Sie sind ja ein so wunderbarer Mann usw. usw., wir wollen Ihnen
nichts mehr übernehmen von dem, was Sie früher alles vertreten
haben.» Daraufhin sagte Linus Pauling zu ihnen: «Wissen Sie, ich
glaube, Sie haben da wohl nicht ganz den richtigen Standpunkt;
denn ich habe ihnen schon die ganze vergangene Zeit nichts
übelgenommen, weil ich eine so hohe
Achtung vor der Sowjetunion habe.» Diese Erklärung Paulings
möchte ich angesichts der enormen Leistungen der sowjetischen
Naturwissenschaft und Technik Wort für Wort unterschreiben.
Oder denken wir an die Kybernetik. Welchen schonungslosen
Angriffen waren die Kybernetik und Norbert Wiener ausgesetzt!
Welcher Unsinn ist darüber geschrieben worden. Heute noch gibt es
Leute, die sich unter Berufung auf den dialektischen
Materialismus dagegen wehren, Kybernetik überhaupt als eine
wissenschaftliche Disziplin anzuerkennen. Wäre es nach diesen
Vertretern des dialektischen Materialismus gegangen, dann hätte
die Sowjetunion keine Sputniks! Sie hat sie, aber doch nur, weil
die Naturwissenschaftler und Physiker trotz aller Einsprüche der
Philosophen weiterarbeiteten. Sie arbeiteten weiter, trotzdem
einigen, z. B. Landau und Lifschitz, der Lehrstuhl entzogen
wurde.
Ich erinnere mich an eine Unterhaltung, die ich vor vier
Jahren mit dem damaligen Inhaber des Lehrstuhls für dialektischen
Materialismus an der naturwissenschaftlichen Abteilung der
Moskauer Lomonossow-Universität, Fatalijew, hatte. Es ging um die
Frage, ob die Welt ein endliches Volumen haben könnte und ob dies
mit dem dialektischen Materialismus vereinbar sei. Fatalijew
meinte, der Gedanke, daß der Kosmos ein Volumen von endlicher
Größe haben könnte, sei weder mit dem dialektischen Materialismus
noch mit der einfachen Logik in Einklang zu bringen. Er sagte
mir: «Sie geben doch zu, daß bei diesen Theorien von einem Radius
der Welt gesprochen wird.» Ich sagte: «Natürlich! Man kann die
Größe mit Hilfe eines Radius angeben.» Darauf fragte er: «Und was
ist außerhalb dieses Radius?» Ich meine, damit war die
Unterhaltung an einem Punkt angelangt, an dem es nicht mehr
möglich war, sie fortzusetzen und wo unter Naturwissenschaftlern
und Kennern der Materie nur noch ein peinliches Gefühl der
Verzweiflung entstehen kann. Denn man bedenke, daß dieser Mann
(ein sehr ehrenwerter, sympathischer und lustiger Mensch)
tatsächlich vom Katheder der Lomonossow-Universität den
dialektischen Materialismus vertrat, und zwar gegenüber
Naturwissenschaftlern, die ihr Fach studieren und die bereit
sind, auch der Philosophie jede Achtung entgegenzubringen.
Verschiedene Diskussionen zwischen Philosophen und
Naturwissenschaftlern, die inzwischen in der Sowjetunion
durchgeführt wurden, haben dort wohl schon einen Wandel
angebahnt. Aber der Inhaber des philosophischen Lehrstuhls an der
Karl-Marx-Universität Leipzig, Zweiling, vertritt noch heute den
gleichen Standpunkt wie Fatalijew. Und der Ordinarius für
Philosophie der Naturwissenschaften an der Berliner
Humboldt-Universität, Ley, hat erst kürzlich erklärt, daß
Theorien, nach denen die Zeit einen Anfang t = O hatte, im Falle
ihrer Richtigkeit die Erschaffung der Welt durch Gott beweisen
würden und daher mit dem dialektischen Materialismus unvereinbar
seien.
Quintessenz all des Gesagten ist: In einer langen,
entscheidenden h die als die Stalinsche Epoche nur ungefähr
abgegrenzt werden °C hat der dialektische Materialismus in- und
außerhalb der Sowjet-ton den Naturwissenschaftlern bei der Lösung
ihrer Probleme nicht "Tnicht geholfen, sondern noch dazu
beigetragen, ihnen dies zu erschweren -
wobei ich nicht den wirklichen dialektischen Materialismus Sinne
habe, sondern das, was als dialektischer Materialismus verkündet
und gelehrt wurde. Was da auf den amtlichen philosophischen
Kathedern gelehrt wurde, hatte sich in einem historischen Prozeß
in vulgären Materialismus und mechanischen Materialismus
zurückverwandelt, in alles andere also, als wirklich auf der Höhe
der Zeit stehenden Materialismus. Ein so intelligenter Physiker
wie Blochinzew wurde dazu verleitet zu behaupten, die
Quantenmechanik wäre eine Theorie von Teilchenensembles. Wie ich
ihn einschätze, behauptete er das im guten Willen und in der
Hoffnung, seine physikalischen Kollegen möchten es ihm nicht
verübeln, weil es in der Physik doch nicht weiter ins Gewicht
fallen könnte. Tatsächlich hat er sich aber bei ernsthaften
Physikern um seinen Kredit gebracht, nur weil er sich einigen
Herren auf philosophischen Lehrstühlen zuliebe, um ihnen ihre
Theorie von der absoluten Determiniertheit aller Erscheinungen zu
retten, diese Geschichte mit den Ensembles ausgedacht und sogar
in ein Lehrbuch hineingeschrieben hat. Aus diesem Buch wird es
nun eifrig und heute noch von Leuten abgeschrieben, die von den
anderen Teilen des Lehrbuches natürlich gar nichts verstehen!
Etwas Furchtbares ist geschehen: Der dialektische
Materialismus ist jahrzehntelang durch seine offiziellen
Vertreter bei allen Naturwissenschaftlern der Welt einschließlich
der führenden Naturwissenschaftler der Sowjetunion in zunehmendem
Maße diskreditiert worden. Max Born bezeichnet ihn als reine
Scholastik; Einstein hat sich ähnlich geäußert. Als Ergebnis
finden wir heute eine entschiedene Ablehnung und Verurteilung
jeglicher Philosophie bei Naturwissenschaftlern, außer bei denen,
die philosophischen Lehren der bürgerlichen Klasse anhängen.
Diese Art Naturwissenschaftler fühlt sich unter Umständen sogar
sehr wohl in den weichen Betten, in denen man sich nach
Herzenslust nach allen Richtungen ausdehnen kann; unsere
Philosophie hat den Herren leider die Bequemlichkeit nicht
geboten und bietet sie auch nicht. Ich hatte in Moskau eine
Unterhaltung mit Landau und Lifschitz darüber. Landau sagte mir
sarkastisch, er sei von Natur «unphilosophisch», so wie andere
Leute unmusikalisch sind. Lifschitz meinte, er sähe am Himmel der
sowjetischen Philosophie nur einen Stern, nämlich Kolman, die
anderen seien wohl dunkle Sonnen, die man gar nicht sehen kann.
Kolman lehrt jetzt in Prag! Die Geschichte der Schwierigkeiten
seines Lebens ist ein endloser Beweis für das, was ich gesagt
habe.
Eine interessante Erklärung für den Rückfall unserer
Philosophen in das metaphysische und undialektische Denken gab
mir Werner Heisen-berg in einem Gespräch. Er sagte etwa: «Die
Natur offenbart uns immer mehr ihren dialektischen Charakter,
gerade im Bereich der Elementarteilchen. Aber die meisten
Menschen können die Dialektik nicht vertragen - auch die
Regierenden können das nicht. Dialektik schafft Unruhe und
Unordnung. Die Menschen wollen eindeutige und konfektionierte
Ansichten zur Verfügung haben. In New York setzen alle Leute an
einem bestimmten Tage einen Strohhut auf. Bei uns wollen sie
klare Anweisungen erhalten, was sie zu denken haben.» Wenn man
sich vorstellt, wie dialektisch Heisenberg denkt und wie nahe im
Grunde viele der größten Wissenschaftler heute unserer
Weltanschauung sind, sieht man, wie unermeßlich der von solcher
Art Philosophen angerichtete Schaden ist. Es wird schwer sein,
ihn zu beheben.
Die Situation, in der wir uns befinden, kann und darf nicht
beschönigt werden, wenn nicht weiterer Schaden gestiftet werden
soll. Wer nicht kapitulieren will, muß die Frage beantworten: Wie
kann die Philosophie des dialektischen Materialismus der
Naturwissenschaft wirklich helfen?
Rufen wir uns doch einmal ins Gedächtnis, was die Klassiker
dazu gesagt haben! Sie haben immer wieder betont, daß das
Hauptproblem für die Naturwissenschaften wie für alle
Wissenschaften darin besteht, von dem mechanischen,
metaphysischen Denken hinweg zu einem mehr und mehr bewußten
dialektischen Denken zu gelangen. Dafür ist es sehr nützlich,
sich mit der Philosophie zu beschäftigen, mit der Geschichte der
Philosophie, mit aller Philosophie der Vergangenheit, mit
idealistischer Philosophie und materialistischer Philosophie, mit
nichtdialektischer Philosophie und dialektischer Philosophie, mit
den Vorsokrati-kern, mit Laotse und mit Hegel, mit Spinoza und
Kant und mit Marx und besonders mit Engels! Profunde
philosophische Kenntnisse sollten zur Allgemeinbildung unserer
führenden Naturwissenschaftler gehören. Ist das erreicht, dann
wird sich das dialektische Denken nicht mehr spontan und
sporadisch, ständig schwankend und zögernd in den Köpfen
entfalten, sondern es wird immer mehr zu der bewußten Methode
werden, mit deren Hilfe die großen Probleme der Wissenschaft
unserer Zeit zu lösen sind. Keinesfalls aber kann die Lösung
sein, daß jemand ein Lehrbuch mit dem Titel «Der dialektische
Materialismus» schreibt, in dem sich dann alles befindet, was
«der» dialektische Materialismus sagt. Man lese dieses Buch nur
gründlich durch, lerne eifrig, was da über alle Kategorien der
Dialektik steht - eine Art materialistisch umgearbeiteter
Hegelscher Logik -, und alle naturwissenschaftlichen Probleme
lösen sich von selbst! Nein, so geht es nicht!
Naturwissenschaftliche Probleme kann man nicht lösen, indem man
irgendwelche allgemeinen philosophischen Lehrsätze herbeizerrt
und etwa sagt: «Nun, ich will einmal
versuchen, wie der Satz vom Sprung der Quantität in die Qualität
oder sonst eine dialektische Kategorie sich bei meinen Problemen
anwenden läßt.» Das ist eine naive und unsinnige Vorstellung von
der Hilfe der Philosophie bei der Lösung wissenschaftlicher
Probleme.
Man muß von der Sache selbst ausgehen, man muß die Natur
selbst studieren, man muß konkret ihre Dialektik in ihrer
Besonderheit entdecken, noch nicht in ihrer Allgemeinheit. Ihre
Allgemeinheit kann man erst verstehen, nachdem man ihre
Besonderheit erfaßt hat. Man muß in das Problem der
wissenschaftlichen Fragestellung ganz direkt eingedrungen sein,
nicht aber von der Philosophie her. Nur von der empirischen
Wissenschaft her kann man zu der Dialektik kommen, die in den
Dingen selbst steckt und die in der Theorie widergespiegelt
werden kann. Aber mit einem dialektischen Hilfskompendium kann
man nicht an die Lösung wissenschaftlicher Fragen herangehen.
Wäre das möglich, wäre diese Methode eine richtige, wirksame und
gute, so hätten sich die Wissenschaftler längst dieser bequemen
Hilfsmittel bedient. Da ist z. B. das Problem der Theorie der
Elementarteilchen, das Physiker in aller Welt aufs ernsteste
beschäftigt. Kein Philosoph kann sagen, wie die Theorie der
Elementarteilchen auf der Grundlage der Dialektik aufzustellen
ist. Aber man wird die Theorie der Elementarteilchen nicht ohne
dialektisches Denken entwickeln können, und man wird die
errungene Erkenntnis in ihrer ganzen Tiefe erst verstehen können,
wenn man sich das dialektische Denken zueigen gemacht hat. Es ist
eben so, wie Engels anschließend an das von mir vorhin angeführte
Zitat sagt: «Die Naturforscher mögen sich stellen, wie sie
wollen, sie werden von der Philosophie beherrscht. Es fragt sich
nur, ob sie von einer schlechten Modephilosophie beherrscht
werden wollen oder von einer Form des theoretischen Denkens, die
auf der Bekanntschaft mit der Geschichte des Denkens und deren
Errungenschaften beruht. Die Naturforscher fristen der
Philosophie noch ein Scheinleben, indem sie sich mit den Abfällen
der alten Metaphysik behelfen. Erst wenn Natur- und
Geschichtswissenschaft die Dialektik in sich auf genommen, wird
all der philosophische Kram - außer der reinen Lehre vom Denken -
überflüssig, verschwindet in der positiven Wissenschaft.»(3)
Ich bringe auch dieses Zitat nicht, um Engels als Kronzeugen
und Beweismittel für meine Ansichten anzuführen, sondern um meine
Gedanken zu illustrieren und zu interpretieren. Engels hat
sicherlich auch Dinge gesagt, die andere Leute für sich ins Feld
führen können. Ich führe Engels an, weil er in so wunderbarer
Klarheit und kräftiger Sprache sagt, was heute die Zustimmung
eines Naturwissenschaftlers, wie ich es bin, finden kann. Auch im
«Anti Dühring» findet sich eine Stelle,
die deutlich macht, wie ich in dieser Frage denke: «Wenn wir den
Weltschematismus nicht aus dem Kopf, sondern bloß vermittelst des
Kopfes aus der wirklichen Welt, die Grundsätze des Seins aus dem,
was ist, ableiten, so brauchen wir dazu keine Philosophie,
sondern positive Kenntnisse von der Welt und was in ihr vorgeht;
und was dabei herauskommt, ist ebenfalls keine Philosophie,
sondern positive Wissenschaft. Ferner: wenn keine Philosophie als
solche mehr nötig, dann auch kein System, selbst kein natürliches
System der Philosophie mehr. Die Einsicht, daß die Gesamtheit der
Naturvorgänge in einem systematischen Zusammenhang steht, treibt
die Wissenschaft dahin, diesen systematischen Zusammenhang
überall im einzelnen wie im ganzen nachzuweisen. Aber eine
entsprechende, erschöpfende, wissenschaftliche Darstellung dieses
Zusammenhanges, die Abfassung eines exakten Gedankenabbildes des
Weltsystems, in dem wir leben, bleibt für uns sowohl wie für alle
Zeiten eine Unmöglichkeit. Würde an irgendeinem Zeitpunkt der
Menschheitsentwicklung ein solches, endgültig abschließendes
System der Weltzusammenhänge, physischer wie geistiger und
geschichtlicher, fertiggebracht, so wäre damit das Reich der
menschlichen Erkenntnis abgeschlossen und die zukünftige
geschichtliche Fortentwicklung abgeschnitten von dem Augenblick
an, wo die Gesellschaft im Einklang mit jenem System eingerichtet
ist - was eine Absurdität, ein reiner Widersinn wäre. Die
Menschen finden sich also vor den Widerspruch gestellt:
einerseits das Weltsystem erschöpfend in seinem
Gesamtzüsammenhang zu erkennen und andererseits, sowohl ihrer
eignen wie der Natur des Weltsystems nach, diese Aufgabe nie
vollständig lösen zu können. Aber dieser Widerspruch liegt nicht
nur in der Natur der beiden Faktoren: Welt und Menschen, sondern
er ist auch der Haupthebel des gesamten intellektuellen
Fortschritts und löst sich tagtäglich und fortwährend in der
unendlichen progressiven Entwicklung der Menschheit.»(4)
Ferner sagt Friedrich Engels: «Die antike Philosophie war
ursprünglicher, naturwüchsiger Materialismus. Als solcher war sie
unfähig, mit dem Verhältnis des Denkens zur Materie ins reine zu
kommen. Die Notwendigkeit aber, hierüber klarzuwerden, führte zur
Lehre von einer vom Körper trennbaren Seele, endlich zum
Monotheismus. Der alte Materialismus wurde also negiert durch den
Idealismus. Aber in der weiteren Entwicklung der Philosophie
wurde auch der Idealismus unhaltbar und negiert durch den
modernen Materialismus. Dieser, die Negation der Negation, ist
nicht die bloße Wiedereinsetzung des alten, sondern fügt zu den
bleibenden Grundlagen desselben noch den ganzen Gedankeninhalt
einer zweitausendjährigen Entwicklung der Philosophie
und Naturwissenschaft sowie dieser zweitausendjährigen Geschichte
selbst. Er ist überhaupt keine Philosophie mehr, sondern eine
einfache Weltanschauung, die sich nicht in einer aparten
Wissenschaftswissenschaft, sondern in den wirklichen
Wissenschaften zu bewähren und zu betätigen hat. Die Philosophie
ist hier also <aufgehoben>, d. h. sowohl überwunden als
aufbewahrt; überwunden ihrer Form, aufbewahrt ihrem wirklichen
Inhalt nach.»(5)
In all diesem kommt zum Ausdruck: Der dialektische
Materialismus ist keine Philosophie im Sinne irgendwelcher
früherer philosophischer Systeme und Lehren. Er ist eine
Weltanschauung, eine geistige Grundhaltung und Denkmethode, die
die Welt in ihrer unauflöslichen Widersprüchlichkeit doch als
Einheit begreift. Aber er ist kein philosophischer Katechismus,
zusammengefügt aus allgemeinen Sätzen und Behauptungen über den
Weltzusammenhang, die unabänderlich, ewig und bindend sind. Wenn
es heißt: die Materie und ihre Bewegung sind ewig und
unzerstörbar, so heißt das nicht, daß physikalische Theorien, in
denen die Zeit einen Anfang t = O hatte, vom Standpunkt unserer
Philosophie aus falsch sein müssen. Diese Theorien können
entwickelt, belegt, bewiesen, widerlegt oder bestätigt werden;
aber die dialektische materialistische Philosophie ist keine
Instanz, die über solche Fragen eine Entscheidung fällt, bevor
sie wissenschaftlich entschieden sind. Die Welt kann ein
endliches Volumen haben! Unsere dialektisch-materialistische
Weltanschauung wird dadurch nicht aus den Angeln gehoben, im
Gegenteil: jede neue, tiefere Erkenntnis offenbart uns nur mehr
von der Dialektik allen Seins. Diejenigen, die sagen, daß
Theorien, in denen die Welt ein endliches Volumen und eine
endliche Lebensdauer hat, unvereinbar mit der materialistischen
Dialektik seien, verfälschen den dialektischen Materialismus und
diskreditieren uns in der Welt.
Überhaupt soll man die Bedeutung sehr allgemeiner Lehrsätze
nicht überschätzen: man kann immer feststellen, daß ihr Inhalt
oder das, was die Menschen jeweils darunter verstehen, bestimmt
wird durch das, was sie wissen, und nicht durch das, was sie noch
nicht wissen. Der Wahrheitsgehalt sehr weitgetriebener
Verallgemeinerungen ist immer nur relativ. Als Endergebnis eines
langen Abstraktionsprozesses sind solche Verallgemeinerungen
stets retrospektiv; ein neuer Fortschritt der Erkenntnis
annulliert sie zwar nicht, deckt aber ihre Beschränktheit und
Einseitigkeit auf und sichert ihren wirklichen Wahrheitsgehalt
gerade dadurch, daß er ihre Allgemeingültigkeit aufhebt. Unsere
Philosophie darf aber nicht durch das festgelegt werden, was wir
bereits wissen, sondern sie soll der Schlüssel sein zu neuer
Erkenntnis.
Mit der materialistischen Dialektik wird das
Knechtschaftsverhältnis zwischen Wissenschaft und
Philosophie aufgehoben. Weder hat die Wissenschaft die Aufgabe,
die Sätze der Philosophie zu bestätigen, noch ist die Philosophie
der geistige und ideologische Wächter über die Irrungen und
Wirrungen der Wissenschaft.
Wir werden die Engherzigkeit und Unfruchtbarkeit im Bereich der
Philosophie überwinden, sobald auch unsere Philosophen es als das
größte Glück empfinden werden, wenn in der Wirklichkeit etwas
entdeckt wird, das unvereinbar ist mit ihren bisherigen
Ansichten.