Was ist marxistische Erkenntnistheorie?
Teil 6: Die Erkenntnis als Kraftquell im Leben der menschlichen Gesellschaft
von M. Rosental07/2015
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Die menschliche Erkenntnis hat in ihrer Entwicklung gewaltige Erfolge erzielt.
Am Anfang stand der Mensch der Natur ohnmächtig gegenüber. Er begriff sie nicht und fürchtete sich vor vielen Naturerscheinungen. Die Angst vor den zerstörenden Kräften der Natur rief religiöse Vorstellungen hervor. Der Mensch glaubte, hinter jeder Naturerscheinung - dem Blitz, dem Wind - stehe ein lebendes Wesen, das ihn bedrohe. Himmelserscheinungen wie Sonnen- und Mondfinsternisse ängstigten ihn ebenfalls, weil er vermutete, es gebe eine Art Verknüpfung zwischen ihnen und seinem Leben, so daß er sie als böse und bedrohliche „Zeichen" werten müsse.
Solche und ähnliche Vorurteile und abergläubische Vorstellungen haben im Bewußtsein des Menschen festen Fuß gefaßt und sind auch heute noch nicht völlig überwunden. Die Arbeitstätigkeit jedoch und die auf ihrer Grundlage fortschreitende Erkenntnis taten sicher und beharrlich das Ihre und halfen dem Menschen, die Naturgesetze zu entdecken.Teil 1
Vermögen wir unsere Umwelt richtig zu erkennen? Teil 2
Die Erkenntnis als Widerspiegelung der Außenwelt im Gehirn des MenschenTeil 3
Wie verläuft der Erkenntnisprozeß?Teil 4
Kann die Wahrheit sofort erkannt und als endgültig angesehen werden?Teil 5
Vermag die menschliche Erkenntnis die Zukunft vorauszusehen?
Er hat nicht nur begriffen, daß der Blitz eine elektrische Entladung ist, sondern hat auch gelernt, diese Naturgewalt zu meistern, hat selber Elektrizität erzeugt und sie gezwungen, ihm zu dienen, ihm Licht und Wärme zu liefern und seine Maschinen anzutreiben.
Von der Steinaxt zur großartigen modernen Technik, vermöge deren der Mensch in kurzer Zeit die Ozeane überquert, Erdteile überfliegt, gewaltige Produktionsstätten errichtet - das ist der Weg, den die Menschheit dank der Arbeit und der Erkenntnis zurückgelegt hat.
Unter unseren Augen macht die Wissenschaft neue, gewaltige Entdeckungen, die der Menschheit noch größere Möglichkeiten bei der Produktion von lebensnotwendigen Gütern eröffnen. Welch riesige, noch gar nicht abschätzbare Bedeutung hat zum Beispiel die Entdeckung der Atomenergie! Ein Kilogramm Uran liefert soviel Elektroenergie wie mehrere Eisenbahnzüge voll Kohle. Gegenwärtig braucht man für den Betrieb eines Kraftwerks mit einer Leistung von 100 000 Kilowatt, das den Bedarf einer Industriestadt deckt, jeden Tag einen Güterzug voll bester Kohle. In Zukunft wird ein solches Kraftwerk bei Ausnutzung der Atomenergie nur 250 Gramm Uran benötigen, eine Menge, die in einer Streichholzschachtel Platz hat. Die Erkenntnis dient jedoch nicht nur dazu, dem Menschen die Naturkräfte Untertan zu machen. Wenn die Verbesserung der Lebensweise des Menschen nur von der Unterwerfung der Naturkräfte abhinge, würden schon längst auf der ganzen Erde alle Menschen ein freies, wohlhabendes Leben führen, würde es kein Elend, keinen Hunger, keine Arbeitslosigkeit, keine Kriege geben, diese unvermeidlichen Begleiterscheinungen des Kapitalismus. Indessen müssen trotz der gewaltigen Erfolge in der wissenschaftlichen und technischen Entwicklung, trotz der ungeheuren, durch die menschliche Arbeit geschaffenen Reichtümer Millionen von Werktätigen unsagbares Leid erdulden. Die Imperialistenbereiten sich vor, die Atomenergie nicht zu friedlichen, sondern zu militärischen Zwecken zu verwenden. Die amerikanischen Kapitalisten träumen davon, mit Hilfe von Atombomben die Weltherrschaft zu erringen.
Was besagt das alles? Es besagt, daß die Lebensweise des Menschen nicht nur davon abhängt, mit welchem Erfolg er vermöge seiner Arbeit materielle Güter schafft. Der Mensch vermag unzählige Reichtümer zu erzeugen. Wenn aber die Kapitalisten den Löwenanteil dieser Reichtümer an sich reißen und denen, deren Hände diese Reichtümer schufen, nur einen verschwindend geringen Teil überlassen, kann die Arbeit kein Quell der Freude sein, sondern wird zum Fluch. Somit hängt alles auch von den gesellschaftlichen Verhältnissen ab, wie sie in diesem oder jenem Lande bestehen. Um aber erfolgreich gegen die kapitalistische Ordnung, die Ordnung der Sklaverei und Unterdrückung zu kämpfen, muß man die Gesetze des gesellschaftlichen Lebens kennen.
Die bürgerlichen Ideologen bemühen sich aus Leibeskräften, der Erkenntnis jeden Zugang in das Gebiet des gesellschaftlichen Lebens zu verschließen. Ihre Bemühungen sind jedoch vergeblich. Auch hier, auf einem für das Leben des Menschen entscheidenden Gebiet, hat die Erkenntnis gewaltige Fortschritte zu verzeichnen. Die Lehre des Marxismus-Leninismus hat die wissenschaftliche Erklärung dafür geliefert, wie die menschliche Gesellschaft lebt und auf welchem Wege sie sich entwickelt, hat gezeigt, wie und auf welchem Wege sich ein neues, glückliches Leben erkämpfen läßt. Seitdem diese großen Entdeckungen gemacht worden sind, tappen die Arbeiter und alle Werktätigen nicht mehr im Dunkel. Ihren Weg zum neuen Leben hat die Kenntnis der Gesetze vom Leben der Gesellschaft mit hellem Licht überstrahlt.
In der Sowjetunion ist die neue, die sozialistische Gesellschaft errichtet worden, in der die Früchte der Arbeit den Werktätigen selbst zufallen. Die großen Entdeckungen der Wissenschaft werden vom Sowjetstaat zu friedlichen Zwecken und zur Verbesserung des Lebens der Werktätigen verwendet. Das Sowjetvolk hat mit Freude die Mitteilung aufgenommen, daß in unserem Lande das erste industrielle Kraftwerk erbaut worden ist, das Atomenergie verwendet. Und das ist nur der Anfang. Es werden bereits neue, noch größere Atomkraftwerke projektiert. Die sowjetischen Wissenschaftler arbeiten daran, die Atomenergie in großem Umfang in der Industrie, in der Medizin, im Transportwesen usw. auszunutzen.
Wenn man über die gewaltige Bedeutung der Erkenntnis der Natur und der Gesellschaft für das Leben der Menschen spricht, darf man nicht außer acht lassen, daß die Macht der Erkenntnis in ihrer Verbindung und Einheit mit der Praxis liegt. Die primäre Rolle dabei spielt die Praxis. Anschauungen und Theorien, die einfach ausgedacht werden, berücksichtigen die Praxis nicht und sind tot. Gewicht und Sinn haben nur solche Theorien, die sich auf Erfahrung und Praxis stützen. Einzelne wissenschaftliche Leitsätze und Theorien veralten unvermeidlich mit der Zeit und entsprechen nicht mehr den neuen Erfahrungen, den neuen Möglichkeiten, die sich aus der praktischen Tätigkeit des Menschen ergeben haben.
Wir wollen das an einem Beispiel erläutern. Im Jahre 1935 entstand in unserem Lande eine Bewegung der fortschrittlichen Arbeiter, die die neue Technik beherrschten und diese Technik dazu benutzten, eine früher nicht gekannte Arbeitsproduktivität zu erreichen. Dank den neuen Arbeitsmethoden förderten sie erheblich mehr Kohle als früher, erreichten Zuggeschwindigkeiten, die zuvor unmöglich erschienen waren, usw. Seit jener Zeit hat die Neuererbewegung auf allen Gebieten der Produktion weite Verbreitung gefunden. Zum Beispiel erzielen die Schnelldreher bei der Metallbearbeitung Schnittgeschwindigkeiten, die sich mit den früheren Normen der Wissenschaft und Praxis einfach nicht vergleichen lassen. Heute erreichen die Aktivisten der Produktion Schnittgeschwindigkeiten von 600 bis 700 Meter in der Minute, während früher niemand die Normen von 50 bis 60 Meter übertraf. Einzelne Arbeiter bemühen sich sogar, Geschwindigkeiten von 3000 Meter in der Minute zu erzielen. Offensichtlich entsprechen die alten Begriffe von der Schnittgeschwindigkeit bei der Metallbearbeitung, wie sie sich in technischen Lehrbüchern finden, nicht mehr der neuen Praxis, den neuen Erfahrungen. Welchen Ausweg gibt es aus dieser Lage? Selbstverständlich braucht die neue Praxis ihre erweiterten Möglichkeiten nicht mit den veralteten Begriffen der Wissenschaft in Einklang zu bringen, sondern die Wissenschaft muß ihre veralteten Begriffe überprüfen und der neuen Praxis entsprechende Begriffe schaffen.
Das Beispiel erläutert das Gesetz, nach dem sich unsere Erkenntnis entwickelt. Bis zu einem gewissen Zeitpunkt stimmen unsere Anschauungen und Begriffe mit den Erfahrungen überein, weil sie auf der Grundlage dieser Erfahrungen entstanden sind. Solange das der Fall ist, treiben die wissenschaftlichen Theorien und Praxis voran, tragen sie dazu bei, höhere Ergebnisse zu erreichen. Sobal daber ein Zwiespalt entsteht, sobald die neuen Ergebnisse der Praxis mit den alten Begriffen und Anschauungen nicht mehr übereinstimmen, wird dieses Mißverhältnis dadurch überwunden, daß die Wissenschaft die neuen Ergebnisse der Praxis, die neuen Erfahrungen berücksichtigt, ihre Begriffe vertieft und neue Theorien aufstellt.
Daraus geht klar hervor, warum die Einheit zwischen Theorie und Praxis, zwischen Erkenntnis und praktischer Tätigkeit des Menschen eine solche Bedeutung besitzt, warum der Marxismus-Leninismus diese Einheit als jene Kraft bezeichnet, die unsere Erkenntnis und unsere Praxis vorantreibt. Eine Erkenntnis, die die neuen Ergebnisse der Praxis nicht berücksichtigt, die von der Praxis losgelöst ist, beginnt zurückzubleiben, verkümmert und wird schließlich zu einer überflüssigen und sogar schädlichen Sache. Eine solche Erkenntnis ist nicht imstande, der Praxis das Rüstzeug zu liefern. Bildet die Erkenntnis dagegen mit der Praxis eine Einheit, berücksichtigt sie die neuen Ergebnisse der Praxis und überprüft sie kühn die veralteten Anschauungen, so entwickelt sie sich nicht nur ständig selber, sondern hilft auch der Praxis, voranzuschreiten.
Die Stärke der praktischen Tätigkeit der Kommunistischen Partei liegt darin, daß sie sich auf die marxistisch-leninistische Theorie stützt. Die Stärke der marxistisch-leninistischen Theorie aber beruht auf ihrer untrennbaren Verbindung mit der praktischen Tätigkeit der Partei; diese Tätigkeit bereichert ständig aufs neue die Theorie.
Das sind die Hauptpunkte der marxistischen Erkenntnistheorie. Diese Theorie lehrt, wie unsere Umwelt erkannt wird, welche gewaltige Kraft die menschliche Erkenntnis im Leben der Gesellschaft ist und warum diese Theorie studiert werden muß, damit sich der Kampf für das neue, das kommunistische Leben immer erfolgreicher gestalte.
Editorische Hinweise
M. Rosental: Was ist marxistische Erkenntnistheorie?, Berlin 1956, S. 71-75