Was ist marxistische Erkenntnistheorie?
Teil 4: Kann die Wahrheit sofort erkannt und als endgültig angesehen werden?

von M. Rosental

04-2015

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Wir haben untersucht, welcher Weg zur Erkenntnis der Wahr­heit führt, wie die Etappen, die Stufen dieses Weges beschaffen sind, durch welche Mittel wir die Wahrheit erkennen. Hier je­doch taucht eine neue, sehr wichtige Frage auf. Nehmen wir an, wir hätten unser Ziel erreicht - diese oder jene Wahrheit er­kannt. Dürfen wir nun jede Wahrheit als endgültig, vollständig, unveränderlich ansehen? Kann wenigstens eine Wahrheit, die von der Praxis bestätigt worden ist, als endgültig betrachtet werden?   Teil 1
Vermögen wir unsere Umwelt richtig zu erkennen?

Teil 2
Die Erkenntnis als Widerspiegelung der Außenwelt im Gehirn des Menschen

Teil 3
Wie verläuft der Erkenntnisprozeß?

Diese Frage muß mit einem klaren und entschiedenen Nein beantwortet werden, mag diese Antwort auch bei manchem Le­ser Befremden hervorrufen; haben wir doch selber soeben ge­zeigt, daß das von der Praxis bestätigte Wissen wahres Wissen ist. Das stimmt auch, das kann nicht verneint werden. Die Frage ist nur, ob dieses Wissen die endgültige und vollständige Wahr­heit sei.

Nehmen wir ein Beispiel. Vor etwa zwanzig Jahren bemühten sich die Flugzeugkonstrukteure, Typen zu schaffen, die Stunden­höchstgeschwindigkeiten von 300 bis 500 Kilometer erreichen sollten. Die Praxis hat bestätigt, daß das möglich war. Folglich war auch die Theorie, das Wissen, das den Bau solcher Flug­zeuge ermöglichte, unzweifelhaft wahr. Nehmen wir an, wir hätten damals diese Wahrheit als endgültig und vollständig an­gesehen. Es ist aber allgemein bekannt, daß heute bereits Flug­zeuge gebaut werden, deren Geschwindigkeit die frühere um ein Mehrfaches übersteigt. Viele Düsenflugzeuge erreichen höhere Geschwindigkeiten als der Schall (der Schall legt in einer Sekunde mehr als 330 Meter zurück, hat also eine Stunden­geschwindigkeit von über 1200 Kilometer). Wie steht es nun um jene Wahrheit, die wir als „endgültig" und „vollständig" angesehen hatten? Dieses Beispiel zeigt, wie falsch und schäd­lich es wäre, diese oder jene Wahrheit für endgültig und voll­ständig zu halten.

Wie kommt das? Das kommt daher, daß die Praxis selbst sich entwickelt, verändert, neue Möglichkeiten zur Erkenntnis lie­fert, wie sie sie früher nicht liefern konnte. Auch die Wissen­schaft entwickelt sich und schafft dabei Möglichkeiten, in den Kern der Erscheinungen vorzudringen. Als die Tatsache, daß Flugzeuge Höchstgeschwindigkeiten von 300 bis 500 Kilometer erreichen können, die Wahrheit war, stützte sich das auf die damalige Praxis, auf den Stand der Flugzeugtechnik jener Zeit, auf das damalige Niveau des Wissens. Die industrielle Technik, die Produktionstechnik und unser Wissen stehen jedoch nicht still. Sie entwickeln sich ständig und machen Fortschritte. Dar­aus ergibt sich, daß viele Wahrheiten nicht als endgültig und ewig angesehen werden dürfen.

Die neuen Möglichkeiten von Praxis und Wissenschaft ge­statten uns, immer tiefer und weiter auf dem Wege zur Er­kenntnis der Natur vorzudringen. Im Lichte der neuen Ergeb­nisse erweist sich manches an den früher erkannten Wahrheiten als unrichtig oder ungenau und wird von der Wissenschaft ver­worfen. Vieles aber wird von der voranschreitenden Erkenntnis bestätigt, dabei aber vervollkommnet, tiefer, genauer und voll­ständiger bewußt gemacht. Das ist der Grund, warum wir kein Recht haben, jede erkannte Wahrheit als ewig, ein für allemal vollendet und vollständig zu betrachten.

Zweifellos gibt es solche Wahrheiten, die man als ewige und unveränderliche Wahrheiten bezeichnen kann. Beispielsweise ist die Tatsache, daß der Mensch geboren wird und stirbt, eine ewige Wahrheit. Eine ewige Wahrheit ist auch die Tatsache, daß Vögel deshalb fliegen können, weil sie Flügel haben. Solche „endgültigen" Wahrheiten lassen sich in beliebiger Zahl an­führen. Jedoch ist leicht zu begreifen, daß es sich hier um recht einfältige Wahrheiten handelt. Die Wissenschaft und das täg­liche Leben haben es auf Schritt und Tritt mit viel schwierigeren Wahrheiten zu tun, die sich nicht dem ersten Zugriff preisgeben. Viele Wahrheiten benötigen Jahrhunderte, manche auch Jahr­tausende, um erkannt zu werden.

Natürlich gibt es auch unter den komplizierten wissenschaft­lichen Wahrheiten solche, die als endgültig angesehen werden können. Solche Wahrheiten sind zum Beispiel die wissenschaft­lichen Leitsätze, daß die Materie das Primäre (das vom Bewußt­sein Unabhängige) und das Bewußtsein das Sekundäre (das von der Materie Abhängige) ist, daß die Welt aus sich bewegender Materie besteht, daß der Kapitalismus nicht ewig ist und unbe­dingt in der ganzen Welt von der sozialistischen Ordnung abge­löst werden wird. Dabei dürfen wir aber eines nicht außer acht lassen: Unsere konkreten Vorstellungen selbst von bereits er­kannten Erscheinungen vertiefen sich, präzisieren sich, ändern sich häufig auch wesentlich unter neuen historischen Bedingun­gen, durch neue Ergebnisse der Praxis. Das ist ein Gesetz der Erkenntnis.

Führen wir ein Beispiel an. Bereits in grauer Vorzeit vertra­ten die fortschrittlichen materialistischen Denker die Lehre, daß die Welt aus Materie besteht. Ihre konkreten Vorstellungen und Vermutungen über die Materie selbst trugen vom Stand­punkt unseres heutigen Wissens jedoch einen naiven Charakter. So meinten manche, alles bestehe aus Wasser, andere behaup­teten, alle Naturerscheinungen seien aus Feuer entstanden und bestünden aus ihm usw. Bereits vor mehr als zweitausend Jah­ren sprach Demokrit, ein materialistischer Philosoph des an­tiken Griechenlands, die Vermutung aus, daß die uns umgeben­den Dinge und die Menschen selbst aus kleinsten unsichtbaren materiellen Teilchen bestünden, die er Atome nannte. (Das griechische „acofiov" heißt wörtlich „das Unteilbare".) Gemäß diesen Vorstellungen sind die Atome die kleinsten und nicht weiter teilbaren materiellen Teilchen. Die geniale Vermutung des antiken Denkers wurde durch die weitere Entwicklung der Wissenschaft bestätigt. Jedoch bestätigte die Wissenschaft nicht einfach die Ansicht, daß alles aus Atomen bestehe, sondern ver­warf auch viele falsche Ansichten des antiken Denkers über das Atom, präzisierte und vertiefte die Lehre vom Aufbau der Ma­terie.

Ende des 19. Jahrhunderts glaubten viele Wissenschaftler, über das Atom sei die endgültige und vollständige Wahrheit ermit­telt. Bald jedoch fand eine wahre Revolution in den Anschau­ungen über die Struktur der Materie statt. Bis dahin hatte man geglaubt, das Atom sei wirklich unteilbar, es lasse sich nicht in kleinere materielle Teilchen spalten. Nun zeigte sich, daß dem nicht so ist. Es wurde als sicher festgestellt, daß die Atome, so klein sie sind, selber aus noch kleineren Teilchen bestehen. Heute sind Bausteine des Atoms bekannt: das Proton, das Elek­tron, das Neutron und noch etliche andere.

Stellt nun das, was wir heute über den Bau der Materie wis­sen - und die Wissenschaft hat darüber sehr viel in Erfahrung gebracht -, die Grenze, die endgültige und vollständige Wahr­heit dar? Nach dem Gesagten ist es klar, daß es falsch wäre, unser heutiges Wissen als Gipfelpunkt der wissenschaftlichen Entwicklung anzusehen. Freilich wissen wir unvergleichlich mehr, als man vor hundert oder fünfzig Jahren wußte. In eini­gen Jahrzehnten aber werden die Menschen über den Bau der Materie ein Mehrfaches von dem wissen, was uns bekannt ist, da der Erkenntnis keine Grenzen gesetzt sind und die Wissen­schaft sich immer rascher entwickelt.

Das gleiche trifft auf viele komplizierte wissenschaftliche Wahrheiten zu. Unser Beispiel hat gezeigt, wie sich das Wissen überhaupt entwickelt. Gestützt auf die fortschreitende Praxis, auf .dengesammelten Wissensschatz, vertiefen und vervoll­kommnen wir unsere Vorstellungen von der Natur, entdecken wir immer neue Eigenschaften und Seiten darin. Jeder weitere Schritt auf diesem Wege befreit unser Wissen von dem, was falsch und ungenau war, und fügt unseren Begriffen von der Welt neue Körnchen der objektiven Wahrheit hinzu.

Das bedeutet, daß die wissenschaftliche Wahrheit einen - wie die Philosophen sagen - relativen Charakter besitzt, eine rela­tive Wahrheit darstellt. Das ist deshalb so, weil man sie mit jenen historischen Bedingungen, mit jenem Niveau der Praxis und des Wissens in Relation (in Beziehung) bringen muß, auf deren Grundlage sie ermittelt wurde.

Diese Relativität der wissenschaftlichen Wahrheiten schließt jedoch nicht aus, daß sie Elemente enthalten, die von der Wei­terentwicklung der Praxis und der Erkenntnis nicht mehr außer Kraft gesetzt werden können. Eine Wahrheit, die durch die Weiterentwicklung der Erkenntnis nicht geändert werden kann, wird absolute Wahrheit genannt. Beispielsweise sind die Tat­sachen, daß die Materie aus Atomen besteht, daß die Atome Kerne enthalten, Teile der absoluten Wahrheit, die in den modernen Vorstellungen vom Bau der Materie enthalten ist.

Jede echte wissenschaftliche Wahrheit enthält Elemente der absoluten, der vollständigen Wahrheit.

Das muß unbedingt berücksichtigt werden, weil es ein grober Fehler wäre, anzunehmen, die wissenschaftliche Wahrheit sei nichts als relativ. Es gibt eine idealistische Theorie, die der An­sicht ist, wissenschaftliche Wahrheiten seien ausschließlich rela­tiv und enthielten kein Körnchen der absoluten Wahrheit. Diese Theorie wird Relativismus genannt. Der Relativismus ist eine zutiefst falsche und schädliche Theorie. Unter Relativität der wissenschaftlichen Wahrheiten versteht diese Theorie nicht die Tatsache, daß eine Wahrheit nicht sofort vollständig und end­gültig erkannt werden kann. Sie deutet die Relativität des Wis­sens als Unmöglichkeit, objektive Wahrheiten zu erkennen, nämlich Wahrheiten, die die Natur richtig widerspiegeln. Im Grunde leugnet diese Theorie ebenso wie der Agnostizismus die Erkennbarkeit der Welt.

In Wirklichkeit aber enthalten unsere von der Wissenschaft ermittelten Wahrheiten - da wir imstande sind, die Natur rich­tig widerzuspiegeln - stets Körnchen der absoluten Wahrheit. Je weiter die Erkenntnis sich entwickelt, desto zahlreichere Körnchen der absoluten Wahrheit sind in den wissenschaft­lichen Wahrheiten enthalten. Das bedeutet durchaus nicht, daß sich die Erkenntnis jemals vollständig erschöpfte. Einen solchen Augenblick, eine solche Grenze gibt es nicht und kann es nicht geben. Natur und gesellschaftliches Leben stehen nicht still. Sie entwickeln sich ewig. Das aber verpflichtet auch unsere Er­kenntnis, voranzuschreiten, sich zu entwickeln, weil - wie wir bereits wissen - die menschliche Erkenntnis die Widerspiege­lung der uns umgebenden Wirklichkeit ist.

Um die praktische Tätigkeit erfolgreich zu gestalten, muß man von den Bedingungen der Umwelt die richtigen Vorstel­lungen haben. Diese Bedingungen ändern sich aber - zuweilen recht rasch. Wenn das Denken diesen Veränderungen nicht folgt und sie nicht widerspiegelt, wird die praktische Tätigkeit Mißerfolge zeitigen.

In dem Märchen vom Narren verspottet das Volk die Leute, die handeln, ohne die Situation zu berücksichtigen. Als der Held des Märchens einem Trauerzug begegnete, hob er zu tanzen an. Man machte ihm klar, daß die Menschen bei einem Begräbnis trauern und sich nicht freuen, und man strafte ihn für seine unpassende Lustigkeit. Als unser Held beim Weiterwandern einem fröhlichen Hochzeitszug begegnete, fing er bitterlich zu weinen an, denn er glaubte, die Wahrheit, die man ihm vorher eingebleut hatte, müsse in jedem Falle gelten. Zu seinem Er­staunen mußte er auch diesmal leiden.

Jede Wahrheit muß in enger Verbindung mit der Situation betrachtet werden. Was unter bestimmten Bedingungen richtig, also wahr ist, kann unter anderen Bedingungen unrichtig, also falsch sein. Was soll man zum Beispiel auf die Frage antworten, ob es gut oder schlecht sei, daß es regnet? Es ist klar, daß die richtige Antwort von der Situation, von den Bedingungen abhängt. Wenn es lange nicht geregnet hat, wenn Dürre herrscht, ist Regen nützlich. Wenn es oft und stark geregnet hat, ist Regen schädlich. Dieses Beispiel zeigt, warum die marxistische Er­kenntnistheorie lehrt: Die Wahrheit ist nicht abstrakt, sondern konkret. Eine abstrakte Wahrheit ist eine Wahrheit, die die kon­krete Situation, die Bedingungen, auf die sie angewandt wird, unberücksichtigt läßt. Eine konkrete Wahrheit ist eine Wahr­heit, die die Situation richtig widerspiegelt und auf festen Tat­sachen fußt.

Diese Auffassung von der Wahrheit ist von besonders großer Bedeutung für den praktischen Kampf der Kommunistischen Partei und des gesamten Volkes um den Sozialismus. Unsere Partei steht bereits länger als fünfzig Jahre an der Spitze der Volksmassen und lenkt ihren Kampf für ein glückliches Leben, für den Kommunismus. Wie oft hat im Verlauf dieses halben Jahrhunderts die Situation gewechselt, wie oft haben sich die Bedingungen verändert, unter denen dieser Kampf verlief. Die Partei begann ihre Tätigkeit in den schweren, finsteren Jahren des Zarismus. Damals weckte sie das Bewußtsein der Massen, klärte sie auf, schuf eine starke revolutionäre Organisation, die das Volk zum Sturm gegen Zarismus und Kapitalismus zu wappnen und zu führen vermochte. Die Hauptlosung der Partei in dieser Zeitspanne war die Losung der demokratischen Revo­lution, die zum Sturz der Macht des Zaren und der Gutsbesitzer aufrief. Als im März 1917 in Rußland die bürgerlich-demokra­tische Revolution gesiegt hatte und sich die historische Situation im Lande änderte, gab die Partei den Arbeitern und Bauern eine neue Losung, die Losung der Vorbereitung und Durch­führung der sozialistischen Revolution. Auf die Verwirklichung des sozialistischen Umsturzes in Rußland war unsere Partei durch Lenins Theorie über die Möglichkeit des Sieges des So­zialismus in nur einem Lande vorbereitet.

Die Aufstellung dieser Theorie war ein treffendes Beispiel da­für, wie sich eine wissenschaftliche Wahrheit entwickelt, und sich unter neuen historischen .Verhältnissen ändert. Seinerzeit hatten Marx und Engels den Gedanken ausgesprochen, die prole­tarische Revolution könne nur in allen oder in den fortgeschrit­tensten Ländern gleichzeitig siegen; das war für ihre Zeit richtig. Vom Ende des vorigen Jahrhunderts an und insbesondere zu Beginn des 20. Jahrhunderts veränderten sich jedoch die Ent­wicklungsbedingungen der Gesellschaft und des Kampfes der Arbeiterklasse völlig. Unter diesen Bedingungen wurde der gleichzeitige Sieg der sozialistischen Revolution in allen Ländern unmöglich und im Gegensatz dazu der Sieg der Revolution und die Errichtung des Sozialismus in nur einem Lande durchaus möglich. Lenin berücksichtigte die neue Situation und zeigte, daß der Leitsatz von Marx und Engels unter diesen Bedingungen nicht mehr galt, und stellte eine neue Theorie auf, die Theorie von der Möglichkeit des Sieges des Sozialismus in nur einem Lande. Seine Theorie der Revolution begeisterte die russische Arbeiterklasse und ihre Partei für die große revolutionäre Tat im Oktober 1917.

Das Beispiel zeigt deutlich, daß die Kommunistische Partei diese oder jene Wahrheit nicht als „endgültig" betrachtet, daß sie einzelne Leitsätze kühn verwirft, wenn sich diese unter neuen Verhältnissen als veraltet erweisen.

Die führende Tätigkeit der Partei beim Aufbau des Sozialis­mus in unserem Lande liefert ebenfalls viele Musterbeispiele dafür, wie die Partei die Veränderungen der historischen Bedin­gungen berücksichtigt und dem Sowjetvolk neue Aufgaben stellt. Als im Jahre 1925 die im ersten Weltkrieg und im Bürger­krieg zerstörte Volkswirtschaft wiederaufgebaut war, schlug die Partei den Kurs auf die Industrialisierung des Landes ein. Die sozialistische Industrialisierung war unter jenen Bedingungen der Schlüssel zur Errichtung des Sozialismus in der UdSSR. Ohne Industrialisierung wäre es auch unmöglich gewesen, den Übergang der Bauernschaft zur sozialistischen Landwirtschaft vorzubereiten. Als das Sowjetvolk unter der Leitung der Partei bei der Industrialisierung große Erfolge erreicht hatte und im Lande eine neue Situation entstanden war, schlug die Partei den Kurs auf die Massenkollektivierung in der Landwirtschaft ein, gab sie die Losung der Liquidierung des Kulakentums als Klasse auf der Grundlage der durchgängigen Kollektivierung aus. So­wohl die Losung der Industrialisierung als auch die Losung der Kollektivierung spiegelten jede die Aufgaben des sozialistischen Aufbaus zu verschiedenen historischen Zeitpunkten der Ent­wicklung der Sowjetgesellschaft genau und im richtigen Augen­blick wider. Gerade darin bestand die Kraft dieser Losungen.

So diente und dient auch heute die Kommunistische Partei unter verschiedenen historischen Bedingungen, in wechselnden Situationen mit Erfolg dem werktätigen Volk und weist ihm den richtigen Weg zum Sieg. Das erklärt sich nicht nur daraus, daß unsere Partei die ureigenen Interessen der Arbeiterklasse und aller Werktätigen zum Ausdruck bringt; es erklärt sich auch daraus, daß sie stets die gegebenen Kampfbedingungen berück­sichtigt, alle im Verlauf des Kampfes vor sich gehenden Ver­änderungen in Rechnung stellt und infolgedessen stets die rich­tigen Kampflosungen aufstellt. Anders gesagt, die Partei hält sich in ihrer praktischen Tätigkeit strikt an den Leitsatz der marxistischen Erkenntnistheorie, daß man diese oder jene Wahr­heit oder Situation nicht losgelöst von den konkreten histo­rischen Bedingungen betrachten darf.

Der Marxismus-Leninismus lehrt, daß es keinen schlimmeren Feind der Wissenschaft und damit auch der erfolgreichen prak­tischen Tätigkeit gibt als den Dogmatismus. Was ist Dogmatis­mus? Dogmatismus bedeutet die Betrachtungsweise der Wahr­heit als etwas Unveränderlichen, als etwas, das sich nicht kon­trollieren und überprüfen lasse. Der Dogmatiker kümmert sich nicht darum, daß das Leben vorwärtsschreitet, daß die Bedin­gungen sich ändern und daß daher auch unser Wissen sich ver­vollkommnen, vertiefen und das im Leben Neuentstandene be­rücksichtigen muß. Der Dogmatiker klammert sich an das Alte, fürchtet alles Neue, Fortschrittliche und fördert nicht das Voran­schreiten der Erkenntnis und der praktischen Tätigkeit, sondern hemmt es.

Welch großen Schaden der Dogmatismus in Wissenschaft und Praxis verursachen kann, zeigt folgendes Beispiel. Der sowje­tische Gelehrte Wiljams begründete das Trawopolnaja-System in der Landwirtschaft. Gemäß dieser Lehre verbessert der An­bau mehrjähriger Futterpflanzen die Bodenstruktur und erhöht die Ernteerträge. Seine Schlußfolgerungen baute dieser Wissen­schaftler jedoch hauptsächlich auf den Verhältnissen Mittelruß­lands auf. Sein Fehler war, daß er das Trawopolnaja-System ohne Berücksichtigung der Bodenverhältnisse und des Klimas für verschiedene Gebiete empfahl. Statt Wiljams'Lehre schöpferisch zu verwerten, wandte man sie dogmatisch an. Man baute mehr­jährige Futterpflanzen ohne Berücksichtigung der Boden- und Klimaverhältnisse auch dort an, wo sie nur ganz geringe Erträge ergaben. Riesige Flächen wurden mit mehrjährigen Futterpflan­zen bestellt, während die Anbauflächen der Getreidekulturen und anderer Nutzpflanzen, die hier hohe Erträge zu erzielen ver­mögen, verringert wurden. Diese dogmatische Handlungsweise fügte unserer Landwirtschaft großen Schaden zu. Das Februar-März-Plenum (1954) des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei unterzog diese Praxis einer scharfen Kritik und machte ihr ein Ende.

Ein typisches Beispiel eines nicht dogmatischen, sondern schöpferischen Herantretens an die agronomische Wissenschaft und Praxis ist die Tätigkeit des praktischen Pflanzenzüchters T. S. Malzew. Er wandte die Wiljamssche Lehre in schöpferischer Weise an und bewies durch Versuche, daß nicht nur Aussaaten mehrjähriger, sondern auch einjähriger Futterpflanzen die Bodenfruchtbarkeit erhöhen. Er arbeitete neue Methoden des Pflügens und der Bodenbearbeitung aus. Malzews Versuche sind für die Weiterentwicklung der Agronomie von gewaltiger Be­deutung, und seine Erfahrungen werden jetzt weit verbreitet. Dieser gelehrte Kolchospraktiker warnt davor, seine Methoden schablonenhaft und dogmatisch anzuwenden, und fordert die Be­rücksichtigung der konkreten Verhältnisse eines jeden Anbau­gebiets.

Der Dogmatismus ist auch bei der Betrachtung gesellschaft­licher Erscheinungen und in der politischen Tätigkeit außer­ordentlich gefährlich und schädlich. Die große Kraft der marxistisch-leninistischen Lehre besteht darin, daß sie auch nicht einen Hauch von Dogmatismus duldet. Diese Lehre befin­det sich in ständiger Entwicklung und scheut sich nicht, diesen oder jenen ihrer Leitsätze abzutun, wenn er den neuen histo­rischen Bedingungen nicht mehr entspricht. Ein hervorragendes Beispiel einer solchen schöpferischen Betrachtungsweise lieferte Lenin mit der neuen Theorie von der sozialistischen Revolution, wie sie den Bedingungen der Periode des Imperialismus ent­spricht. Leuchtende Beispiele einer schöpferischen Lösung kom­plizierter theoretischer und praktischer Fragen, wie sie der Kampf um den Sozialismus aufwirft, enthalten die Beschlüsse der Kommunistischen Partei, in denen die großen Erfahrungen aus dem Kampf der Partei unter den verschiedenartigsten histo­rischen Bedingungen verallgemeinert worden sind.

Die marxistische Erkenntnistheorie lehrt: Wissenschaftliche Wahrheiten können nicht sofort erkannt und meistens nicht als endgültig angesehen werden; sie entwickeln und vertiefen sich durch die Erweiterung unseres Wissens und unserer praktischen Tätigkeit.

Editorische Hinweise

M. Rosental: Was ist marxistische Erkenntnistheorie?, Berlin 1956, S. 52-62