NaO-„Sommerdebatte“ in Berlin vom 31.8. – 2.9.2012

Der Workshop vom "Arbeitskreis Kapitalismus aufheben"
Kämpfen - Untersuchen - Organisieren
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07-2012

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onlinezeitung

Die Arbeiteruntersuchung
Gruppe Arbeitersache München (1973)
Schriften zum Klassenkampf Nr. 33, S. 38-46


Zu Beginn unserer Agitation bei der BMW waren wir vor allem in einer Fra­ge sicher: Jede politische Arbeit an Betrieben wie der BMW muß zugleich auch Ausländerarbeit sein. Die zweite wichtige Einsicht die wir gewonnen hatten, war die Notwendigkeit der "Arbeiter unter suchung". Wir müssen von den Bedürfnissen der Arbeiter ausgehen. Aber gerade die letzte Ein­sicht blieb abstrakt. Was sind denn eigentlich die Bedürfnisse der Arbei­ter, wie äußern sie sich, können wir bei ihnen von einem Bedürfnis als Klasse zu handeln, sprechen?

Wir brauchten eine Methode, um auf diese Fragen eine Antwort geben zu können. Diese Methode fanden wir in der Arbeite r unter suchung. Die Arbeite r unter suchung grenzten wir ab: vom Sammeln soziologischen und statistischen Materials, von der Analyse der allgemeinen Kapitalent­wicklung, aber auch von Darstellungen des konkreten objektiven Arbeits­prozesses. Darauf können wir selbstverständlich nicht verzichten. Oft stel­len die statistischen und soziologischen Daten die Voraussetzung für die politische Arbeit dar. Wir müssen wissen, wieviele Bandarbeiter und Fach­arbeiter ein Betrieb beschäftigt, wie sich die Nationalitäten untereinander aufteilen, wie sich die Arbeit s Situation an den Bändern objektiv darstellt usw.

Arbeiter unter suchung heißt auch nicht, daß wir ohne jegliche Ziel Vorstel­lung, ohne Erwartungen und ohne vorgeprägte Meinung an die politische Praxis herangegangen sind. Oder daß wir umgekehrt die Vorstellung hat­ten, die Situation und das Bewußtsein der Arbeiter einer bestimmten Fa­brik oder Abteilung liefere das einzige Material, aus dem eine revolutio­näre Strategie entwickelt werden könne. Wir gingen aus von einem theore­tischen Vorverständnis. In dieses Vorverständnis eingegangen war aber ganz wesentlich die Diskussion über die Inhalte und Formen des modernen Klassenkampfes in Europa. Diese Kenntnis wurde später durch eine Zu­sammenarbeit mit Lotta Continua vertieft. Sie gab uns erst das Material, um bestimmte Hypothesen, die in der Unter s uchungs arbeit überprüft wer­den sollten, zu erstellen. Etwa: Der Bandarbeiter macht die entfremdet-ste und schwerste Arbeit im ganzen Betrieb. Seine Lebens Situation ist in vielen Fällen enger an die Fabrik gebunden, als die des Facharbeiters. Er lebt in Wohnheimen auf kleinstem Raum und die Miete wird ihm direkt vom Lohn abgezogen. Seine Lage als ausgebeutetster Teil des Proletariats hat ihn in Italien bei der Fiat, in Frankreich bei Renault dazugeführt, die radi­kalsten Kampfinhalte und -formen zu entwickeln. Gilt das auch für Deutsch­land? Auf diese Frage erhalten wir natürlich keine Antwort, wenn wir zu den Bandarbeitern gehen und sie über ihre Kampfbereitschaft aushorchen. Vielmehr wird sich ihre Radikalität und Bereitschaft, etwas zu tun, erst in einer Konfrontation mit diesen neuen Inhalten herausstellen. Die Unter­suchungsarbeit mußte also direkt mit der Agitation verbunden werden. Es kam darauf an, den Arbeitern Kampf inhalte und Interpretationen aufzuzei­gen, die andere Arbeiter in einer objektiv ähnlichen Situation schon zum

Ausdruck gebracht hatten, In sehr vereinfachter Form haben wir das in der BMW-Zeitung Nr. 5 gemacht, wo wir Aussagen von Fiatarbeitern ab­druckten. Etwa Antworten auf die Frage: Was hältst du von deiner Arbeit? Die Antwort: eine mörderische Arbeit, die man mit dem vereinten Willen und der vereinten Kraft der Arbeiter versuchen könnte, menschlicher zu machen mit einer strengen Kontrolle der Geschwindigkeit der Fließbänder. Oder auf die Frage: Wie sehen deine Forderungen aus? Die Antwort: Zu­erst Erhöhung des Lohns, der jetzt nur ausreicht, uns gerade am Leben zu erhalten; zweitens Verkürzung der Arbeitszeit; drittens Verringerung der Produktion, denn sie lassen uns schuften wie die Maulesel. Wir können nicht sagen,wie der Artikel allgemein in der Fabrik aufgenom­men wurde. Aber eines ist sicher, die Reaktion war keineswegs überwäl­tigend. Nach Herausgabe der Zeitung hielten wir eine Versammlung mit etwa 35 Arbeitern ab. Die Antworten der Fiatarbeiter wurden als etwas angesehen, was zwar richtig ist, uns aber hier nichts angeht. Mit Ausnah­me von einem deutschen Arbeiter aus der Halle 17. Nachdem wir ihm noch andere verlangte Literatur über die Fiat gegeben hatten, sagte er sinnge­mäß: "Hier ist für mich zum ersten Mal die ganze Scheiße am Band dar­gestellt. BeiBMW ist das genauso. Das Buch über die Fiat ist ausschlag­gebend für meine Kündigung in der nächsten Woche, die ich schon längst vorhatte. Hier in Deutschland kann man eh nichts dagegen tun". Das Bei­spiel zeigt - die Konfrontation mit fortschrittlichen Leuten führt allein zu nichts. Ausschlaggebend muß vielmehr der eigene Erfahrungsbereich, die konkrete Situation sein, in der sich der Arbeiter befindet. Die Untersuchung ist also mit der Agitation zu verbinden. Wie sollen aber die gesammelten Meinungen und Vorstellungen, die die Arbeiter äußern, bewertet werden? Hierzu zwei Beispiele: Vor dem Urlaub finden bei der BMW normalerweise Sonderschichten statt, um einen Teil des durch den Urlaub entstehenden Ausfalls hereinzuarbeiten. Vor allem Ausländer ha­ben ein Interesse an den Sonderschichten, weil sie damit ein zusätzliches Urlaubsgeld zu verdienen hoffen. Im Sommer 1971 waren die Sonder schien ten Thema Nr. l in der Fabrik. Unsere Flugblätter kamen gut an. Wir riefen zu einer internationalen Versammlung auf. 35 Arbeiter, auch meh­rere Deutsche kamen. Alle waren davon überzeugt, daß wir gegen die Son­derschichten etwas machen müßten. Alle wußten aber auch, daß ein nicht geringer Teil der BMW-Arbeiter die Sonderschichten wegen des zusätz­lichen Geldes abarbeiten wollte. Das Ergebnis der Versammlung war fol­gendes Flugblatt: BIST DU AUCH DAFÜR? 30 MARK PRÄMIE PRO SONDERSCHICHT !

Wenn am Samstag die erste Sonderschicht beginnt, werden wir zwar mehr arbeiten, aber kaum mehr verdienen: die Abzüge werden durch das Zu­sammenfallen von Urlaubsgeldern, Bonus II und Sonderschichtgeld das mei­ste wieder verschlingen. Darum forderte am Mittwoch die internationale BMW-Arbeiterversamm-lung einstimmig:

BMW MUSS DAS BEZAHLEN, WAS UNS DURCH DIE ERHÖHTEN ABZÜGE VERLOREN GEHT !

Für die Mehrabzüge und die zusätzlich gesundheitsgefährdende Strapaze verlangen wir zusätzlich 30. - DM. Genau ausrechnen kann man das natür­lich nicht: einmal weil sie uns selbst mit Absicht in zig Lohngruppen und Besonderheiten aufgespalten haben; zum anderen weil wir nicht selbst noch das Spiel der Kapitalisten mitmachen können, über den Wert unserer Ge­sundheit zu schachern. (...)

Den auf der Versammlung anwesenden Arbeitern war allerdings klar, daß das eine absolute Mindestforderung ist. Denn Sonderschichten und Über­stunden sind nur deshalb nötig, weil unser Normallohn nicht ausreicht. Zu­sammen mit der Akkordhetze sind Sonderschichten und Überstunden die besten Mittel, um uns zu mehr und intensiverer Arbeit zu zwingen - dar­um halten sie auch unseren Normallohn so niedrig. Wir wollen aber nicht immer mehr arbeiten und uns kaputtmachen, um dann wieder gerade un­ser Auskommen zu haben. Unsere Parole muß vielmehr sein: für einen Grundlohn der uns reicht gegen Sonderschichten und Überstunden gegen die ständige Steigerung der Arbeitshetze

Wenn wir uns deshalb Sonderschichten aufzwingen lassen, wo wir noch zu­sätzlich übers Ohr gehauen werden, ohne zu reagieren, dann ist das ein Zeichen unserer augenblicklichen Schwäche. Damit geben wir den Kapita­listen zu verstehen, daß wir uns von ihnen jede Arbeitszeit und jede Ar­beitsweise diktieren lassen- und noch froh sind, unser Auskommen zu ha­ben. Anstatt diesen Typen deutlich zu sagen......Deshalb kann auch die

Forderung nach einer Prämie nur eine Mindestforderung für den Fall sein: Wenn wir es nicht schaffen, uns gegen die Sonderschichten zu wehren. Die Kollegen auf der Versammlung waren der Meinung, daß man alles unter­nehmen müßte. Abhängig sei das nur von der Bereitschaft der Arbeiter. Sowas war natürlich ein fauler Kompromiß, irgendwie gerechtfertigt durch die ArbeiterverSammlung. Das Flugblatt gab so die landläufigen Meinun­gen im Betrieb schon wieder. Beim Verteilen wurde uns trotzdem mulmig. Herausgekommen ist auch nichts, weder 30.- DM noch Verweigerung der Sonderschichten. Schon am nächsten Tag kam die Kritik, vor allem von den Ausländern, obgleich wir doch wesentlich unter Berücksichtigung ih­rer Situation so argumentiert hatten. Ein halbes Jahr später hatten wir zum gleichen Thema eine ganz klare Linie. Wir agitierten unter der Über­schrift:

"KUEHNHEIM, GOLDA, QUANDT - SAMSTAGS ANS BAND" Für diesen und nächsten Samstag hat die BMW Sonderschichten "einge­schmuggelt" in die Reihe der Sonderschichten, die Weihnachten reinholen sollen.

Begründung der Unternehmer:

"Unsere Wagen erfreuen sich weiterhin großer Beliebtheit; erfreulicher­weise können wir unseren Kunden die Wartezeit mit Hilfe unserer Mitar­beiter verkürzen."

Unsere Begründung, warum viele von uns wegbleiben werden: "Die sollen ihren Scheißdreck am Samstag doch alleine machen". "Ich bin doch nicht verrückt und verdiene für BMW am Samstag das Geld". Wir brauchen unsere Freizeit, unser Wochenende. Wir wollen nicht auch noch Samstag in ihrer Fabrik verbringen. Wir wollen bei der Familie, der Freundin, dem Freund sein. Wir müssen ausschlafen, wollen weg­fahren, brauchen das bißchen Erholung und Spaß nach der ganzen Schinde­rei. Die Unternehmer wollen, daß wir leben, um für sie zu arbeiten. Wir wollen arbeiten, um schöner leben zu können.

Unsere Begründung ist richtig, weil sie unsere Interessen ausdrückt. Ih­re Begründung ist nur für sie richtig, weil die Produktion nur ihren Zie­len dient (...). Deshalb müssen wir fordern:

Ein Lohn, der uns reicht ohne Überstunden und Sonderschichten. Abschaf­fung der unteren Lohngruppen. Keine weitere Erhöhung des Akkords. Die Losung aller Arbeiter ist: WENIGER ARBEIT UND MEHR GELD !

Bei den letzten Sonderschichten vor dem Urlaub sind viele Deutsche weg­geblieben. Die meisten Ausländer aber sind gekommen, weil sie das Geld brauchen. Außerden ist bei ihnen der Druck durch die Meister viel stär­ker.

Weil die Hetze an den Bändern jetzt so hoch ist, wollen viele Ausländer diesmal auch nicht kommen. Die Bedingungen dafür, daß wir vereint weg­bleiben, sind deshalb besser.

Reden wir mit allen Kollegen und vor allem mit Ausländern. Organisieren wir das Wegbleiben und nehmen auch den ausländischen Kollegen die Angst davor.

WEG MIT DEN SONDERSCHICHTEN ! "

Mit der Kompromißbereitschaft war Schluß, ohne daß wir deswegen auf eine Auseinandersetzung mit den Sonderschichten, wie sie sich für viele Arbeiter als weitere Verdienstmöglichkeit stellen, verzichten mußten. Wir haben in unserer Argumentation die fortgeschrittenste Position der Massen eingenommen. Tatsächlich kommen viele Kollegen samstags nicht. Wie immer, geschieht das mehr oder weniger unorganisiert. Mit Ausnah­me eines Falls in der Nachlackiererei. Da kommt es zu einer organisier­ten Verweigerung. Ein Arbeiter schreibt uns folgenden Brief, den wir als Flugblatt herausbringen: "DIE NACHLACKIEREREI SAGT NEIN

Obwohl der 30.12. reingearbeitet wurde, verlangte die BMW für den30.12. eine Sonderschicht. Diese kurzfristige Maßnahme vom 29.12. schaffte gro­ße Empörung bei den Kollegen. Der Betriebsingenieur Kühnert drohte den Kollegen: 'Ihr mußt kommen, wer nicht kommt, wird der Personalabtei­lung gemeldet.1 Und der Betriebsrat stimmt wie immer zu. Am 30.12. schauten diese Antreiber blöd aus der Wäsche, denn die gan­ze Schicht war nicht erschienen. (Bis auf ein paar Arschlöcher). Sie kom­men mit ihrem Terror nicht mehr durch. (. . .)"

Die Untersuchungsarbeit im Fall der Sonderschichten hat ergeben- Es kommt also nicht nur darauf an, die Meinungen und Vorstellungen der Kollegen zu sammeln und dann in konzentrierter Form wieder zu verbrei­ten. Es kommt vielmehr darauf an, diese Meinungen von der progressiv-sten Position her zu interpretieren und unter diesem Gesichtspunkt auch die Agitation zu betreiben. Damit ist auch eine Kritik an den Kollegen ver­bunden, die nicht mitziehen. Wichtig ist aber, daß diese Kritik auch in den Massen verankert ist. Dem Kollegen aus der Nacklackiererei steht es natürlich an, die "Streikbrecher" Arschlöcher zu nennen. "Aus den Massen schöpfen" heißt nicht, sich den im Proletariat vorhandenen Äng­sten und falschen Meinungen unterzuordnen. Uns scheint dieses Prinzip in der Untersuchungsarbeit so wichtig, daß wir hierzu noch ein konkretes Beispiel schildern wollen:

Weihnachten 1970 läuft das Band an mehreren Stellen langsamer. Der Ar­beitsdruck läßt nach. Teils Hegt das an der Ab s atz Schwierigkeit für die großen Typen (im Zusammenhang mit den neuen Schutzzollbestimmungen der USA), teils aber daran, daß vor Weihnachten ganz übermäßig ge­schuftet worden war und daß dieses Tempo nicht beibehalten werden konn­te. Insofern handelte es sich also um eine Normalisierung. Die Betriebs­leitung beginnt nun mit Unterstützung des Betriebsrats mit Entlassungen. Sie macht das sehr geschickt. 49 pro Monat. Bei 50 ist BMW meldepflich­tig. Sie sucht sich bestimmte Arbeiter heraus: "Drückeberger, Faulpel­ze, Blaumacher, Säufer." Sie werden einzeln aus den verschiedenen Hal­len herausgeholt. Nicht zu viele aus den einzelnen Abteilungen, damit es nicht auffällt. Wir bereden das Entlassungsproblem mit vielen Arbeitern innerhalb und außerhalb der Fabrik. Aus der Untersuchungsarbeit ent­wickelt sich folgende Argumentationslinie in der Betriebszeitung: (...) Viele von uns sagten zu den Entlassungen bei BMW: "Das sind nur die Faulpelze und Krankmacher, die ständig blau gemacht haben. Die Fir­ma hat ganz recht, wenn sie solche Leute rausschmeißt." Aber: Es ging BMW eigentlich gar nicht darum, daß diese Leute zu "wenig" gearbeitet haben - solche Leute sind ja wahrhaftig nicht zu knapp bei BMW. Denken wir einmal an viele Betriebsräte und bestimmte dick verdienende Ange­stellte ! Es ging der BMW vielmehr ganz einfach darum, Arbeiter zu spa­ren, d.h. die Arbeit, die vorher von mehr Leuten gemacht wurde, jetzt mit weniger Leuten durchzuführen. Da, wo die Kalkulatoren dies für mög­lich hielten, wurden einfach auch Kranke entlassen und diejenigen, die etwas auszusetzen hatten, mit Entlassungen bedroht. Die BMW hat also sehr geschickt an einer schwachen Stelle der Belegschaft eingehakt: Sie hat viele Kollegen entlassen (die vielleicht wirklich öfters fehlten) und wir - wir haben die BMW verteidigt, anstatt zu sehen, was das ganze be­zweckte. NÄMLICH UNS ZU MEHR ARBEIT ZU ZWINGEN! Was wir dar­aus lernen müssen: Wir hätten besser unsere Interessen vertreten, an­statt die faule Argumentation der Meister zu unterstützen. Mit einem, der öfters blau macht, sollten wir selbst reden - und es nicht der Betriebs­leitung überlassen (.. .)".

Erst später geht uns ein Licht auf, als uns ein Arbeiter sagt: "Kranksein ist gesund"; als wir erfahren, daß fast jeder Bandarbeiter versucht, sich so oft wie möglich krankschreiben zu lassen, daß die individuelle Arbeits­verweigerung bei BMW eine Massenbewegung ist. In diesem Fall kommt es also darauf an, daß Fernbleiben vom Betrieb als Bejahung der eigenen Interessen zu interpretieren. Diese Arbeiter haben für einige Zeit Schluß gemacht mit den unmenschlichen Arbeitsbedingungen. Natürlich kommen wir mit einer solchen Argumentation in Konflikt mit den Arbeitern, die jetzt für die Drückeberger, Krankmacher usw. einspringen müssen. Das ist aber auch ein Teil der schwierigen Aufgabe, die Spaltung in der Ar­beiterklasse zu überwinden.

Die beiden Beispiele zeigen auch, wer das Subjekt der Untersuchung ist. Das Subjekt sind die Massen und wir. Da sich die Untersuchung anhand von Gesprächen, Agitation, Diskussion und Aktion vollzieht, erweist sie sich als Lernprozeß, der von uns mit den Arbeitern zusammen gemacht wird. Einmal, indem unsere Linienvorstellungen durch die Praxis bewahr­heitet oder korrigiert werden, zum anderen, daß die Praxis unsere Linie bereichert. In diesem Prozeß vollzieht sich schon so etwas wie "Proleta­risierung", was ja so vielen Genossen Kopfzerbrechen bereitet. Jeden­falls kann sich für uns Proletarisierung nicht ableiten aus unserer sozia­len Herkunft, sondern aus dem gemeinsamen Kampf um proletarische In­halte und Widerstandsformen. Die Untersuchungsarbeit ist dazu der er­ste Schritt. Wie wichtig die Untersuchungstätigkeit ist, wird jeder erken­nen, der sich auf politische Gespräche mit Arbeitern einläßt. Progressi-

ve und rückschrittliche Urteile sind ja in den allerwenigsten Fällen an Personen festgemacht. Es ist kaum so, daß wir den einheitlich fortschritt­lichen oder reaktionären Arbeiter finden. Meistens vereinigen sich beide Positionen in einer Person, so daß wir eins mit Sicherheit über das AR­BEITERBEWUSSTSEIN sagen können; es ist in sich widersprüchlich, kon­fus; proletarische Klassenposition und bürgerliche Ideologie haben sich in ihm verwoben. Außerdem konnten wir im Laufe unserer Arbeit fest­stellen, daß bei den Bandarbeitern extrem linke Positionen massenhaft vorhanden sind, verbal auch geäußert werden, daß sie aber ihre Grenze finden in der Aktions- und Organisationsbereitschaft. Die Arbeiteruntersuchung, so wurde immer gesagt, sollte ausgehen vom sinnlichen Erfahrungsbereich des Arbeiters. Für ihn bestimmt sich die Ausbeutung nicht als abstrakter Verlauf des kapitalistischen Verwertungspro­zesses, sondern als konkretes alltägliches Erlebnis. Es geht also darum, in dieser konkreten Erfahrung die allgemeinen Momente zu finden und von ihnen zu einer allgemeinen, alle Arbeiter betreffende Strategie zu gelan­gen. Doch hat es sich auf jeden Fall als Fehler erwiesen, diese sinnliche Erfahrung allein am Arbeitsplatz zu suchen. Genauso bestimmend ist der übrige Lebenszusammenhang des Arbeiters, seine Wohnsituation, seine Rolle als Konsument.

Wir dürfen den Arbeiter nicht zweiteilen, die Arbeiteruntersuchung muß alle Bereiche miteinbeziehen. Außerdem hat sich bei der MAN gezeigt, daß vor allem bei deutschen Facharbeitern das Interesse an allgemeinpo­litischen Frage n weit mehr ausgeprägt war, als wir angenommen hatten. Einerseits stellte es sich zwar als Ablenker von den konkreten Betriebs­problemen dar, andererseits entsprach es aber einem wirklichen Bedürf­nis.

Das wichtigste Feld der Untersuchung ist die Aktion. In der Aktion wird die Passivität durchbrochen, die Proletarier werden zum handelnden Sub­jekt. Bedeutsam ist auch die Stellung der nicht aktiven Arbeiter zu ent­sprechenden Aktionen.

Die Untersuchungstätigkeit hat also das Ziel, diejenigen Momente her­auszufinden, die zur Schaffung von Klassenbewußtsein notwendig sind. Da­zu zählen, die Widersprüche zwischen den Arbeitern, den Abteilungen und Kategorien aufzudecken und Möglichkeiten ihrer Überwindung ausfindig zu machen. Die individuellen und spontanen Widerstandsformen hin zu einem allgemeinen Klassencharakter zu entwickeln, die Möglichkeiten autonomer Aktionsformen herauszuarbeiten usw.

Die Analyse der objektiven Seite der Kapitalbewegung, der Konzernent­wicklung oder der technischen Entwicklung des konkreten Arbeitsprozes­ses sind in gewissem Sinne Voraussetzung für die Arbeiteruntersuchung. Wichtig ist aber, daß sie nicht zur Bestimmung einer revolutionären Stra­tegie ausreichen. Einmal besteht keine gerade Linie von der Kapitalbewe­gung hin zum Arbeiterbewußtsein. Zum anderen zeichnet sich etwa bei den Bandarbeitern folgende Erscheinung ab: hohe Fluktuation , bei BMW in einem halben Jahr an die 30 %, relativ größere Kampf- als Organisa­tionsbereitschaft, starke Einbeziehung des Lebenszusammenhangs als Er­fahrung tagtäglicher Ausbeutung. Alles Momente, die die Betriebsarbeit als kontinuierlichen Prozeß erschweren. Können wir darauf schließen, daß es sich nicht lohnt, an einem Band zu agitieren, wo die Fluktuation besonders groß ist? Oder dort, wo in Zukunft auf Teilautomatisierung um­gestellt wird, und somit viele Arbeitskräfte freigesetzt werden? Wir glau­ben nicht. Eine solche Vorstellung läßt zwei Momente außer acht. Ein­mal die Mobilität der Arbeitskraft in Europa, zum anderen eben die Sub­jektivität. Ein Arbeiter der bei BMW gegen den Akkord, das Wohnheim oder die Meister kämpft, wird das bei Siemens oder Renault wieder tun. Erstens, weil er dort die gleichen Bedingungen wiederfindet,und zweitens, weil er nicht nur gegen die spezifische Ausbeutungssituation in der Fa­brik sondern gegen sein ganzes Leben als Ausgebeuteter kämpft. Die Kon­tinuität revolutionärer Arbeit bestimmt sich in einer total vom Kapitalis­mus verwalteten Welt nicht durch den Ort, sondern durch die Subjekte. Der Ort sagt nur etwas darüber aus, wo die Bedingungen für die revolu­tionäre Arbeit am günstigsten sind und das ist sicher von bestimmender Bedeutung.

Auch für die Klassenanalyse ist das Verhältnis von objektiver Lage und Subjektivität ausschlaggebend. "Um die wahren Freunde von den wahren Feinden zu unterscheiden" sagt Mao "ist es notwendig, die ökonomische Lage der Klassen in ihren allgemeinen Richtlinien zu analysieren, aus denen die Gesellschaft besteht und ihre Haltung zur Revolution". Das letz­tere ist wesentlich Inhalt der Arbeiteruntersuchung. Sie fragt, wie die ein­zelnen Schichten des Proletariats zu den fortgeschrittensten Kämpfen ste­hen.

WAS HEISST: ORGANISIERUNG?

Das wichtigste ist: die Arbeiter organisieren sich jeden Tag; ganz selten in bewußt "politischer" Form, wie etwa linke Vertrauensleutegruppen, DKP-Betriebszellen oder Gruppen von Arbeitern, die mit anderen linken Grüpp-chen zusammenarbeiten. Auch das gibt es. Aber um solche Formen stärken

zu können, muß man verstehen, auf welchem Hintergrund sie stattfinden. Ar­beiter verabreden miteinander, wer wann krank macht: Eine Form von Or­ganisierung gegen das Kapital. Sie gehen gemeinsam zum Meister oder Ab­teilungsleiter, um eine Forderung zu vertreten - erst recht eine Form von Organisierung. Arbeiter treffen sich regelmäßig in ihrer Kneipe an derEcke und reden über alles mögliche: Eine Organisationsform. Und immer öfter -Arbeiter nehmen massenhaft an Streikaktionen teil - eine Organisationsform, direkt im Kampf. Wo immer Arbeiter sich zusammentun, um über ihre In­teressen und Bedürfnisse zu reden oder sie sonstwie auszudrücken, sprechen wir von Organisation. Diejenigen, die bei diesen Ansätzen die größte Initia­tive zeigen, die sie am aktivsten vorantreiben, sind Avantgarden, Massen­avantgarden - auch wenn sie in keinerlei "politischem" Bezugsrahmen stehen. Das zentrale Problem all dieser Organisationsformen ist ihr Mangel an Kon­tinuität, ihre sporadische Erscheinungsweise. Diese Sprunghaftigkeit macht es schwer, von einem Kampfansatz zum nächsten weiterzugehen oder auch nur die Erfahrungen, die gemacht wurden, zu verarbeiten ''odey ''weiterzuvermit­teln. Deshalb stellt sich sehr wohl das Problem, solche Ansätze weiterzuent-wickeln. Aber wie ?

Es geht dabei nicht darum, daß die Arbeiter sich in unseren Gruppen, den Zirkeln, fest organisieren. Wir, die Zirkel, sind nicht die Kerne, ausde-nen sich fortlaufend eine Organisation der Arbeiter entwickeln kann. Die Be­ziehung ist viel komplizierter und wechselseitiger.

Unsere Aufgabe muß es sein, mit den Arbeitern über die Aspekte und weiter­treibenden Möglichkelten zu diskutieren - im Sinn eines Befruchtungsprozes­ses. Wir meinen nicht, daß die Arbeiter von selbst kein politisches Bewußt-sein entwickeln. Wir meinen aber, daß es Orte geben muß, wo die Vermitt­lung bisheriger Erfahrung stattfindet, wo die theoretische Ausformulierung der Kampfperspektiven geleistet wird; in diesem Prozeß haben bisher die Zir­kel eine wichtige Rolle gehabt - wobei sie sich auch zusammensetzen aus Ar­beitern mit einem politischen Avantgardebewußtsein. Es ist aber klar - und es wird an der Entwicklung in Italien und Frankreich immer klarer - daß die­se Selbstbestimmung der Zirkel kein Ruhekissen sein darf. Sie muß als Durch­gangsphase gesehen werden zu Organisierungsebenen, wo die inhaltliche und politische Bestimmung wirklich in der Hand der Arbeiter liegt: Nicht von ein­zelnen Arbeitern, die sich für politisch halten und dann wieder zu den Mas­sen in eine Führungsbeziehung treten, sondern von Organen, die sich in der Fabrik bilden und die unbedingt gestärkt werden müssen, die die inhaltliche und politische Stoßrichtung bestimmen müssen, seien es Abteilungsgruppen, Versammlungen etc.

Wir glauben nicht an ein Verhältnis: Zirkel oder Partei als "Avantgarde", die Arbeiterorgane als "Massenorganismen". Nein, die bestehenden Arbei-terorgane, Treffen, Versammlungen, müssen befähigt werden, selbst Füh­rung zu werden, nicht die zweite Geige als "Massenorgan" zu spielen. Die Revolution werden wir nicht erleben mit einer Begrenzung auf den Abteilungs­oder Fabrikkampf, auf lokale Konflikte. Die Konsequenz daraus muß sein, daß wir den Arbeitern, die heute Initiativen ergreifen, die Möglichkeit geben, die Probleme wirklich umfassend anzugeben: Mittel, um Treffen mit anderen zu organisieren, auch aus anderen Städten und Ländern, Diskussionen über die allgemeinen und konkreten Ziele, von der Bekämpfung der Gesundheitsschäd-lichkeit bis zur Inflation. Die externen Genossen haben bei diesem Prozeß je­weils unterschiedliche Aufgaben. Nicht als "Diener", sondern als aktive Dis­kussionspartner, aber der Versuch, die Arbeiter selbst kollektiv zum Kern­punkt der Entscheidungen und der Diskussionen zu machen, muß zentral sein.

DIE REELLEN SCHWIERIGKEITEN

Wir äußern dies in einem Moment, wo in unserer Gruppe durchaus nicht be­hauptet werden kann, daß diese Entwicklung in der nötigen Weise unterstützt worden wäre. Im Gegenteil, viele unserer Mängel lassen gerade den zentra­len Fehler erkennen, daß wir (die Externen und Internen) zu sehr auf die In­terpretation von Ereignissen zurückgefallen sind, daß wir die möglichen Ei­geninitiativen der Arbeiter in Wirklichkeit auf den zweiten Platz geschoben haben, trotz aller verbalen Beteuerung. So haben wir die ehemalige Arbei­terversammlung nach dem Frühjahr 1972 einschlafen lassen, so haben wir die Feste immer weniger zu einem Punkt gemacht, wo Arbeiter wirklich mitein­ander kommunizieren konnten usw. Und dies nicht aufgrund objektiver Schwie­rigkeiten, sondern eines bewußten oder uribew,ußten Zurücksteilens der Ar­beiterinitiative hinter unsere eigenen Aktivitäten. Das führt dann unweiger­lich zu einer Austrocknung, denn im Grund sind nur die Arbeiter kollektivfä­hig, neue Aktionsvorschläge und Kampf Inhalte zu entwickeln.

DAS PROBLEM HEISST NICHT: BÜROKRATISIERUNG

Wenn von den Genossen heute die MLs oder die Revisionisten kritisiert wer­den, dann meistens, weil sie nicht demokratisch sind, weil sie "irgendwie" bürokratisch erscheinen. Aber wir wollen festhalten: das Problem all dieser Organisationen ist eines der Inhalte - und erst sekundär der Organisationsform.

Besser gesagt: aus falschen Inhalten ergibt sich eine falsche Organisations­form. Wir haben erklärt, daß der heutige Massenarbeiter, Produkt einer neuen Stufe der Produktionsverhältnisse, auch neue Inhalte entwickelt hat: er kämpft gegen die Arbeit, er ist gewalttätig, er verbindet politische und ökonomische Inhalte geradezu notwendigerweise. Jede Organisation, die nicht auf diesen Pfeilern aufbaut, kann heute den Arbeitern nur äußerlich gegenüber stehen. Also, wer von Mitbestimmung über die Produktion redet oder von der Freude an der qualifizierten Arbeit, wer das Arbeitsethos aus jeder asketischen Zeile triefen läßt, wer die spontane Militanz als "anar­chistisch" oder kleinbürgerlich verurteilt, der kann nur hinter den Ansät­zen herhinken, die die Arbeiter geschaffen haben, nicht aber sie weiter­entwickeln und zusammenführen helfen. Wer außerdem meint, Führung ei­ner Organisation bedeute heute, Interpretationen zu geben, geht an der wich­tigsten Aufgabe vorbei, die eine Organisation heute hat: die reell in dentäg-lichen Kämpfen zum Ausdruck kommenden Inhalte und Formen zu festigen und weiter zuentwickeln. Dazu braucht es aber eine Identität von Kämpfen­den und Organisation, nicht eine Institution, die von außen Zeitpunkte und Ziele festsetzt. Eine Organisation, die nicht so vorgeht, wird sich den Mas­sen entfremden, auch wenn sie sich tausendmal um Demokratie, um Ver­bindung mit der Basis bemüht. Demokratie in der Organisation kann heute nur heißen: den Arbeitern nicht mehr die politische Führung abnehmen, an­erkennen, daß sie schon heute fähig sind, die Aufgaben in ihre Hand zuneh­men. Ein schwerer Prozeß ist es, der es möglich macht, diese Aufgabein unseren Zirkeln in jedem Moment im Auge zubehalten, einProzeß, der in seinen Einzelheiten noch nicht genau festgelegt ist. Aber wenn er nicht ge­lingt, kann es nur tausend Neuauflagen des Scheiterns der Arbeiterbewegung geben, die sich an dieser fundamentalen Notwendigkeit immer vorbeigemo­gelt hat. Erst wenn das im Kern der Bemühungen steht, können die Überle­gungen über Zentralisierung usw. wirklich in die richtige Richtung gehen. Wenn uns also nach einer Aktion Genossen fragen: Wieviel Arbeiter habt Ihr organisiert? dann müssen wir vielleicht antworten: keine. Das ist auch nicht entscheidend. Für uns muß wichtig sein: Haben Arbeiter dadurch die Mög­lichkeit gefunden, kollektiv Erfahrungen zu sammeln? Sich zusammenzu­schließen, weiterzudiskutieren? Können wir diese autonomen Bemühungen unterstützen? Können wir sie inhaltlich befruchten? Können wir ihnen hel­fen, sich mit anderen Arbeitergruppen zu treffen? Nur wenn wir letzteres tun, wird gewährleistet sein, daß kein Lokalismus aufkommt. Denn wie schon gesagt, die Arbeiter denken im Kern nicht betriebsborniert. Sie sehen im­mer die Probleme ihrer ganzen Existenz vor Augen - und sie werden auch jede Möglichkeit benutzen, den Angriff auf die ganze Situation und die kon­kreten Möglichkeiten dafür gemeinsam zu diskutieren - in durchaus politi­scher Form. Wir müssen uns davor hüten, alle allgemeineren Diskussionen an uns zu reißen, sie anstelle der Arbeiter zu führen. Wir müssen uns aber auch davor hüten, daß wir einzelne Arbeiter zu "politischen" Arbeitern ma­chen, die über alle Fragen diskutieren, während die übrigen in ihrer Iso­lierung gelassen werden. Organisierung darf nicht heißen, einzelne Bewuß-te, ob Intellektuelle oder Arbeiter, zusammenschweißen, sondern die wirk­lichen Kampf initiativen verbinden. Das mag abstrakt klingen - es ist aber zehnmal konkreter als die Versuche, Zusammenschlüsse und Organisatio­nen zu schaffen, die sich auf nichts Reelles stützen oder die - schlimmer noch - Inhalte propagieren, die dem 19. Jahrhundert angemessen sind.