Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe

von
Max Beer

07/04

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VII. DIE ITALIENISCHE UTOPIE zurück zur Kapitelübersicht
 

1. Thomas Campanella.

Das Schicksal Italiens seit dem Untergange des Römischen Reiches bis zum letzten Drittel des 19. Jahrhunderts war in politisch-nationaler Beziehung noch trauriger als das Deutschlands. Fremdherrscher, heimische Tyrannen, päpstliche Bestrebungen, munizipale Absonderungen und Rivalitäten hielten das Land in Zersplitterung. Seine unsterblichen Werke in Religion, Literatur, Kunst und Wissenschaft konnten es nicht schützen vor deutscher, französischer, spanischer und österreichischer Bedrückung. Oft brach das Volk in lokale Rebellionen aus, zettelte Verschwörungen an, die jedoch ergebnislos verliefen.

In einer dieser unglücklichen Verschwörungen war auch der größte italienische Utopist verwickelt, um seine süditalienische Heimat vom spanischen Joch zu befreien.

Campanella, einer der gelehrtesten und beredtesten Männer seiner Zeit, wurde 1568 als Sohn armer Eltern in Kalabrien, dem „Fuße" Italiens, geboren. Schon frühzeitig zeigte er große Begabung für philosophische Studien, las die Schriften des Albertus Magnus und Thomas von Aquino, bekämpfte jedoch den Aristoteles und wandte sich — nach Art der humanistischen Gelehrten — dem Plato zu, also auch sozialpolitischen Studien im Sinne des Kommunismus. Er verteidigte später Platos „Politeia" gegen die „gehässigen" und pedantischen Einwürfe des Aristoteles („Politik", Buch II). In seinem Wissensdrange machte er sich auch mit der damals viel Ansehen genießenden jüdischen Gnosis — der sogenannten Kabbala — bekannt, ebenso mit den Schriften der naturwissenschaftlichen Richtung. Er trat dem Dominikanerorden bei, was ihn jedoch nicht verhinderte, sich auch mit politischen Angelegenheiten zu beschäftigen. Campanella zeigt ganz den Doppelcharakter des Humanisten: dogmatische Gläubigkeit und rationalistisches Denken, Verehrung der päpstlichen Autorität und des freien Forschens, astronomisches und medizinisches Wissen gepaart mit astrologischem und magischem Aberglauben, mönchische Abgeschiedenheit und politischen Sinn.

Die wichtigste politische Angelegenheit seiner engeren Heimat war das Bestreben, die spanische Herrschaft über Süditalien zu stürzen und ein selbständiges Gemeinwesen zu gründen. Campanella war die Seele der antispanischen Verschwörung, die 1599 den entscheidenden Schlag unternehmen sollte. Der Plan wurde jedoch frühzeitig verraten und Campanella 1600 verhaftet. Etwa 27 Jahre verbrachte er in Haft und erlitt die schwersten Folterungen. Seine Haft wurde jedoch dank päpstlicher Fürsprache später erleichtert, so daß er in seiner Zelle sich eifrig mit Studien beschäftigen konnte. Im Gefängnis entstand seine Utopie „Civitas Solis" (Sonnenstaat), die er mit seinen übrigen Schriften einem Deutschen übergab, der sie in Frankfurt a. M. 1620—1623 veröffentlichte. Nach seiner Freilassung reiste er nach Frankreich, wo er von König Ludwig XIII. und seinen Ministern mit großen Ehren empfangen wurde. Seine letzten Jahre verlebte er ruhig im Pariser Dominikanerkloster, wo er 1639 starb.

2. Der Sonnenstaat.

Plato verfaßte seine „Politeia" und seine „Nomoi" (Gesetze) als Patriot, Aristokrat und Philosoph, das Hauptgewicht legte er auf die allseitige, höchste Ausbildung der Staatsleitung, auf den Philosophenkönig und die tüchtigen Beamten. More schrieb seine „Uto-pia" als Staatsmann, aktiver Politiker, demokratisch katholischer Sozialkritiker. Campanellas „Sonnenstaat", eingestandenermaßen nach dem Muster der „ütopia" verfaßt, ist das Werk eines abstrakten Denkers, eines Mönchs und Rationalisten — er nannte seinen Sonnenstaat deshalb auch „Idee eines philosophischen Gemeinwesens". Mönchische, autoritäre Strenge in der staatlichen Leitung, absolutistisch regierendes Philosophenkabinett, vernünftig-menschliche Einrichtungen des gesellschaftlichen Lebens. More erblickt das Hauptübel in den auf Privateigentum beruhenden ökonomischen Zuständen, Campanella betont zwar mit aller Schärfe die Übel des Sondereigentums und des Individualismus, ist jedoch der Ansicht, daß das Hauptübel zu finden sei im schlechten Menschenmaterial und in der fehlerhaften Erziehung. Er legt deshalb das Hauptgewicht auf bewußte Züchtung tüchtiger, also tugendhafter Menschen und auf gute, allseitige körperliche und geistige Erziehung. Campanella hatte neben Plato und More auch Lykurg vor Augen.

Der „Sonnenstaat" (über die Bedeutung dieses Wortes siehe Teil I, Seite 126) ist abgefaßt in Form eines Zwiegespräches zwischen dem Großmeister des Hospitaliterordens und einem vielgereisten Genuesen; letzterer hat angeblich bei seiner Weltumseglung den Sonnenstaat besucht, seine Einrichtungen kennengelernt und schildert nun seine Erfahrungen:

Auf einer Insel im Stillen Ozean existieren vier Stadtstaaten, wovon drei nach Art der europäischen Lebensführung eingerichtet sind, während der vierte der Sonnenstaat ist. Dieser hat sich gegen die drei zu schützen und ist deshalb mit sieben starken Mauern umgeben. Die Sonnenstädter (Solarier) haben eine philosophische gemeinschaftliche  Lebensführung. Alles ist Gemeingut; auch die Frauen sind nicht das Sondereigentum dieses oder jenes Mannes; die Ehe ist Staatssache und nicht Privatsache. Campanella nimmt an, daß das Privateigentum entstanden sei aus dem individuellen Eheleben. Die Männer, die an bestimmten Frauen Gefallen fanden, ließen diese nicht mehr loskommen, und zogen die Kinder, die sie von ihnen bekamen, besonders vor, indem sie ihnen größere Ehrenstellen und Reichtümer verschafften. Es war also die individuelle Elternliebe, die die Menschen veranlaßte, sich Güter anzueignen und das Erbrecht für die von ihnen begünstigten Kinder einzuführen und somit den ursprünglichen Kommunismus zu zersetzen. So kam die Selbstsucht, und in ihrem Gefolge erschienen all die Übel, die unsere Gesellschaftsordnung zu einer unglücklichen machen.

An der Spitze des solarischen Gemeinwesens steht ein Priesterphilosoph, ein Metaphysikus, den sie Sol (Sonne) nennen. Er ist der höchste Beamte in allen weltlichen und geistlichen Dingen. Ihm zur Seite stehen drei Ministerien: Macht, Weisheit, Liebe, die sie in ihrer Sprache Pon, Sin und Mor nennen. „Macht" ist das Kriegsministerium. Das Weisheitsministerium beschäftigt sich mit allen Angelegenheiten der Künste und Wissenschaften, der Erziehung und des Unterrichts. Das Ministerium der Liebe hat für die Züchtung eines gesunden, tüchtigen, geistig und körperlich hervorragenden Menschenschlags zu sorgen. Die Erziehung der Menschen durch Schule und Beispiel kann nicht viel ausrichten, wenn die Anlagen der Menschen nicht bewußt rassenmäßig gezüchtet werden. Deshalb ist, wie schon Plato in seiner „Politeia" auseinandersetzte, die Zuchtwahl, die Auslese bei der Paarung von so eminenter Bedeutung. Erst bei einem tüchtigen Menschenmaterial können Erziehung und Unterricht die gewünschten Erfolge hervorbringen. Die Menschen waren bisher in diesem Punkte durch Vorurteile geblendet. Sie wußten wohl, daß man schöne und tüchtige Tier- und Pflanzenarten durch Züchtung hervorbringen könnte, aber die eigene Paarung überließen sie dem Zufall oder selbstsüchtigen Neigungen und Interessen. Menschenzüchtung und -erziehung sind die Hauptaufgaben des Sonnenstaates. Der Zweck des Geschlechtslebens ist nicht Wollust und Genuß, sondern Fortpflanzung der Menschen zum Besten des Gemeinwesens. Das Ministerium der Liebe erließ zu diesem Zwecke folgende Bestimmungen: Nur körperlich und geistig vollwertige Männer werden zur Kinderzeugung zugelassen; die minderwertigen Männer dürfen nur mit unfruchtbaren oder bereits schwangeren Frauen den Beischlaf ausüben. Das Beischlafalter des Weibes beginnt mit dem 19. Lebensjahre, das des Mannes mit dem 21. Jahre; geschlechtliche Enthaltsamkeit bis zum 27. Lebensjahre wird mit besonderen Ehren belohnt und in Liedern gefeiert. Wer vor der Erreichung des Beischlafalters einen unwiderstehlichen Geschlechtsdrang verspürt, soll dies vertraulich den vorgesetzten Matronen, Beamten oder Ärzten mitteilen, worauf diese ihm zur Ausübung des Geschlechtslebens eine unfruchtbare oder bereits schwangere Frau anweisen. Bei den Eheberechtigten darf der Beischlaf nur zweimal die Woche stattfinden, nachdem sich die beiden Gatten gebadet und zu Gott gebetet haben, ihnen schöne und tüchtige Kinder zu geben. In den Schlafzimmern sind schöne Bildsäulen berühmter Männer aufgestellt, die von den Frauen betrachtet werden. Die Stunde der Begattung wird vom Arzt und Astrologen bestimmt; bis dahin schlafen die Gatten in getrennten Zimmern; erst in der festgesetzten Stunde öffnet eine Matrone die Türen, worauf der Mann in das Schlafgemach der für ihn bestimmten Frau tritt. Die Obrigkeitspersonen, die sämtlich Priester sind, paaren die eheberechtigten Männer und Frauen; große und schöne Frauen mit großen, wohlgebauten Männern; beleibte Männer mit schlanken Frauen und umgekehrt; angestrengte Kopfarbeiter, bei denen der Geschlechtstrieb in der Regel geschwächt ist, werden mit schönen, temperamentvollen Frauen gepaart; sanguinische, jähzornige Männer erhalten phlegmatische, bedächtige Frauen; phantasiereiche Männer — nüchtern denkende Frauen. Mit einem Worte: es wird darauf gesehen, daß aus der Mischung der Temperamente und Charaktere, aus der Kreuzung der körperlichen und geistigen Triebe, Anlagen und Eigenschaften ein Menschenschlag mit harmonischen Naturen hervorgeht.

Während der Schwangerschaft stehen die Frauen unter ärztlicher Aufsicht; der Arzt verordnet ihnen die Diät und die sonstige Lebensweise. Nach der Entbindung stillen die Mütter ihre Kinder zwei Jahre lang oder auch länger, wenn der Arzt dies verordnet. Sind die Säuglinge entwöhnt, so werden die Knaben den Wärtern, die Mädchen den Wärterinnen übergeben. Sodann beginnt die Erziehung. Gymnastik (nackte Leibesübungen) für Knaben und Mädchen; beide Geschlechter erhalten im großen ganzen die gleiche Erziehung. Der Unterricht geschieht nicht in geschlossenen Räumen, sondern auf Spaziergängen, insbesondere an den sieben Stadtmauern, deren Flächen mit geographischen, astronomischen, zoologischen, botanischen, mineralogischen Abbildungen bedeckt sind. Campanella sagt hierüber: „Der Unterricht in allen Arbeiten, Künsten und praktischen Tätigkeiten sowie in den Wissenschaften wird beiden Geschlechtern gleichmäßig zuteil; jedoch wird hierbei berücksichtigt, daß Arbeiten, die mehr Mühe und körperliche Anstrengung erfordern, von Männern übernommen werden; die schweren landwirtschaftlichen Arbeiten sind Sache der Männer, hingegen werden die Verrichtungen in den Gemüse- und Obstgärten, in der Molkerei, in den Spinn- und Nähstuben usw. den Frauen überwiesen, ebenso gehört auch das Haar- und Bartschneiden sowie die Arzneibereitung zu den Berufen der Frau. Die Kenntnisse und Wissenschaften werden nicht aus Büchern gelehrt, sondern durch bildliche Darstellungen. Zu diesem Zwecke hat das Weisheitsministerium die Mauern der Stadt von außen und innen mit ausgezeichneten Gemälden schmücken lassen, welche in herrlicher Anordnung die Wissenschaften darstellen. Auf den äußeren Wänden des Tempels und auf den Vorhängen... sind die gemalten Sterne zu erblicken, und in drei Verschen sind ihre Größe, ihr Lauf, ihre Bahnen und ihre geheimen Kräfte geschildert. Auf der Innenseite der Mauer des ersten Kreises sind alle mathematischen Zeichen und Zahlen abgebildet, in bei weitem größerer Zahl, als Archimedes und Euklid deren entdeckt haben; sie sind in einem bestimmten Größenverhältnis zur Mauer angebracht, und ein Verschen ist beigegeben, das eine Erklärung oder Begriffsbestimmung enthält. Auf der Außenseite dieser Mauer befindet sich eine Beschreibung der ganzen Erde. Darauf folgen Spezialkarten der einzelnen Provinzen, worauf die Sitten und Gebräuche, die Gesetze, der Ursprung und die Streitkräfte jedes Volkes in einem kurzen Prosaauszug angegeben sind. Auf der Innenseite der Mauer des zweiten Kreises sind mit Hilfe der Malerei alle möglichen Steine abgebildet, sowohl Edelsteine als gewöhnliches Gestein, und alle Arten von Mineralien und Metallen, woneben ein wirkliches Stück von jedem Naturerzeugnis angebracht und eine Erklärung in zwei Versen beigegeben ist. Auf der Außenseite der Mauer dieses Kreises sind sämtliche Meere, Flüsse, Landseen und Quellen der Welt verzeichnet, ebenso alle Weine und Öle sowie andere Flüssigkeiten, die sowohl als Getränke wie als Arzneien gebraucht werden, mit Angabe ihres Herkommens und ihrer Eigenschaften. Hagel, Schnee, Donnerwetter und andere Naturerscheinungen sind gleicherweise durch Gemälde und kurze Verse erläutert. Auf der Innenseite der dritten Kreismauer sind alle Arten Bäume und Pflanzen abgebildet... Eine Inschrift besagt, wo ihre ursprüngliche Heimat ist und was ihre Kräfte, Eigenschaften und Beziehungen zu den übrigen Naturkörpern sind. Auf der Außenseite finden sich Abbildungen aller Wassertiere, deren Beschaffenheit und Nutzen... Kurz alles, was die Wasserwelt Wissenswertes einschließt, ist abgebildet und erläutert. Auf der Innenseite des vierten Mauerkreises sind sämtliche Vogelarten gemalt zu sehen... Auf der Außenseite dieser Mauer sind die Reptilien vertreten; auch die Insekten. Auf der Innen- und Außenseite der fünften Kreismauer sind die höchstentwickelten Landtiere in ungeahnter Menge dargestellt ... Auf der Innenseite der sechsten Kreismauer sind alle mechanischen Künste und deren Werkzeuge dargestellt und die Namen der Erfinder angegeben. Die Außenseite dieser Mauer ist mit Bildnissen aller Männer geschmückt, die sich durch Entdeckungen, kriegerische Taten und umfassende Gesetzgebungen ausgezeichnet haben. Ich habe daselbst Moses, Osiris, Jupiter, Merkur, Lykurg, Numa Pom-pilius, Pythagoras, Solon und viele andere gesehen. Selbst Mohammed befindet sich darunter, obwohl sie ihn für einen Betrüger und schlechten Gesetzgeber halten. An hervorragender Stelle sah ich das Bildnis Jesu Christi und die Bildnisse der zwölf Apostel. Ich sah Cäsar, Alexander, Pyrrhus und Hannibal und andere im Kriege wie in den Künsten des Friedens ruhmreiche Heroen... Die Solarier haben in allen Ländern ihre Kundschafter und Gesandte, die sie über die Sitten und Gebräuche, Sprache und Geschichte der fremden Völker unterrichten ... Eigene Lehrer erklären diese Gemälde, und die Knaben erlernen ohne Mühe und fast spielend alle Wissenschaften auf rein geschichtlichem Wege noch vor ihrem zehnten Lebensjahre." Die Lehrer müssen die besonderen Neigungen und Talente der Kinder beobachten und an die Obrigkeit berichten, die demgemäß die Berufswahl der einzelnen trifft. Der Zweck der Erziehung ist vor allem, die Kinder zu produktiven Arbeitern zu machen; landwirtschaftliche und gewerbliche Ausbildung ist allgemein. Alle erwachsenen Solarier erfüllen gerne ihre Arbeitspflicht, denn in einem gesunden, zur zweckbewußten Tätigkeit herangebildeten Körper wohnt ein gesunder Geist. Da alle arbeiten, beträgt die Arbeitszeit nur vier Stunden täglich. Alle Arbeiten und Dienste werden gleich geachtet. Die Kleidung ist einfach und natürlich, ebenso die Nahrung.

Auf den Grundlagen des Sonnenstaates: Gemeinbesitz, Zuchtwahl und rationeller Erziehung, entstand eine solidarische, von Gemeingefühl und Arbeits-freudigkeit beseelte Gesellschaft, die die Wissenschaft liebt, Gott verehrt, die Tugend übt. Die Solarier suchen das ewige Leben in Gott und ein glückliches irdisches Leben durch das Gemeinwesen. Es gibt unter ihnen weder Reichtum noch Armut, weder Müßiggänger noch Sklaven, sondern alles in Mittelmaß und Harmonie.

3. Einwände gegen den Kommunismus.

Campanella beschäftigt sich auch mit den üblichen gegen den Kommunismus vorgebrachten Einwänden, die seit Aristoteles („Politik", Buch II) bei allen Gegnern des Gemeinbesitzes gang und gäbe sind.

1. Einwand: Kommunismus ist gegen die menschliche Natur.

Antwort: Kommunistische Gemeinwesen sind nicht nur denkbar, sondern auch möglich. Die jerusalemische Urgemeinde unter den Aposteln war kommunistisch; ebenso die Urgemeinde in Alexandria unter dem heiligen Markus. So lebte auch die Geistlichkeit bis zu Papst Urbans I. Zeiten. Platos Staat wird vom heiligen Clemens, Ambrosius und Chrysostomus gelobt.

2. Einwand: Der Kommunismus zerstört den Sporn zur Arbeit.

Antwort: Nur wo die Menschen infolge des Privateigentums zur Eigenliebe erzogen sind, ist diese ein Sporn zur Arbeit; denn das Eigentum verkümmert die Triebe der christlichen Liebe und des Gemeingefühls; es bringt Geiz, Wucher, Haß des Nächsten, Neid gegen die Großen, sowie andere Laster hervor. Daß lasterhafte Menschen nur in der Eigenliebe einen Ansporn zur Arbeit finden, ist begreiflich. Aber ein kommunistisches Gemeinwesen wie der Sonnenstaat, in welchem die Menschen zweckbewußt zur Gemeinschaft, zur Arbeitsfreude, zur Tüchtigkeit und Tugend gezüchtet und erzogen werden, und wo noch jeder Arbeiter seinen gerechten Lohn empfängt, und wo alle Arbeiten und Dienste gleich geachtet und geehrt werden, ist die Liebe zum Gemeinwesen der beste Ansporn.

3. Einwand: Weibergemeinschaft ist widernatürlich und unsittlich.

Antwort: Widernatürlich ist nur das, was entweder den Einzelmenschen oder die Art schädigt und zerstört; Totschlag, Diebstahl, Raub, Ehebruch, Sodomie usw. sind gegen die Natur, weil sie die Mitmenschen verletzen oder das Wachstum des Menschengeschlechts hindern. Weibergemeinschaft hingegen verletzt niemanden, vernichtet niemanden, hemmt nicht die Entwicklung des Geschlechts. Sie ist also nicht gegen das Naturrecht. Sie ist auch nicht unsittlich, denn sie ist nicht die elementare Folge sinnlicher Begierden und Ausschweifungen; sie ist nicht diktiert von fleischlicher Lust, sondern von einem wohlerwogenen sittlichen Staatszweck; sie wird nach den Gesetzen des Gemeinwesens und nach den Regeln der Heilwissenschaft und der Philosophie geordnet. Im Sonnenstaat gibt es also keine unterschiedslose Weibergemeinschaft; niemand darf sich dort mit einem beliebigen Weibe zu beliebiger Zeit vermischen; das Geschlechtsleben ist dort vielmehr dem Staatszwecke untergeordnet; nur ist es nicht nach kirchlichen, sondern nach philosophischen Regeln geordnet. Eine nicht widernatürliche Handlung ist nur böse, wenn sie aus Wollust, fleischlicher Begierde, selbstischer Absicht ausgeführt wird; hingegen ist sie sittlich, wenn sie vernunftsgemäß und zum Wohle aller geübt wird (Deutsche Übersetzung der "Civitas Solis" von Wessely.).

Editorische Anmerkungen:

Max Beer, Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe, mit Ergänzungen von Dr. Hermann Duncker, S. 315 - 335

Der Text ist ein OCR-Scan by red. trend vom Erlanger REPRINT (1971) des 1931 erschienenen Buches in der UNIVERSUM-BÜCHEREI FÜR ALLE, Berlin.

Von Hermann Duncker gibt es eine Rezension dieses Buches im Internet bei:
http://www.marxistische-bibliothek.de/duncker43.html