Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe

von
Max Beer
08/04

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VIII. SOZIALKRITIKEN UND UTOPIEN IN FRANKREICH zurück zur Kapitelübersicht

1. Politik und Wirtschaft.

Nach Beendigung der hundertjährigen Erbfolgekriege zwischen England und Frankreich (1329 bis 1421) setzten die französischen Könige ihre Zentralisierungspolitik fort. Sie schützten einigermaßen die Bauern und die städtischen Gewerbe, beschränkten die Rechte des Adels, der Kirche und der Zünfte als besonderer Körperschaften. Die Erstarkung im Innern führte zu Ausdehnungsplänen nach außen. Ludwig XII. (1498-1515) erhob Ansprüche auf Mailand, eroberte im Bunde mit Ferdinand dem Katholischen das Königreich Neapel, auf das jedoch Frankreich verzichten mußte. Franz I. (1515-1547), ein p0- Zeitgenosse und Rivale Karls V., führte Kriege gegen die Schweizer und das Deutsche Reich, erhielt vom Papste die Konzession, die die Wahl der Bischöfe und Äbte der französischen Krone überließ. Unter seiner Regierung trat auch der französische Kirchenreformator Johann Calvin (geb. 1509, gest. 1564) auf, dem sich viele bürgerliche Elemente sowie Gelehrte und Adelige anschlössen, aber von der katholischen Partei verfolgt wurden. Calvin verlegte sein Tätigkeitsfeld nach Genf. Unter den französischen Königen Heinrich II. (1547-1559), Franz II. (1559^5 1560) und Karl IX. (1560-1574) brachen blutige Verfolgungen gegen die französischen Calvinisten (Hugenotten) aus, die 1572 in der Bartholomäusnacht (Pariser Bluthochzeit) ihren schrecklichen Höhepunkt erreichten. Über 20000 Calvinisten wurden ermordet. Heinrich III. (1574-1589), der den reformierten Glauben begünstigte, wurde vom Mönch Jakob Clement ermordet. Mit ihm erlosch das Haus Valois, worauf Könige aus dem Hause Bourbon (1589-1792) den französischen Thron bestiegen. Der erste dieser Könige war Heinrich IV. (1589-1610), der Calvinist war, aber den reformierten Glauben aufgab und zur katholischen Kirche zurückkehrte: „Paris ist eine Messe wert." Seine tolerante (Toleranzedikt von Nantes 1598) und bauernfreundliche Politik (jeder Bauer soll am Sonntag ein Huhn im Topfe haben) trugen sehr viel zur wirtschaftlichen Blüte des Landes bei. Mit seinem ihm gleichgesinnten Minister Sully förderte er die Manufaktur (Seiden, Teppiche, Spitzen), belebte die Gewerbe und den Seehandel und gründete Kolonien in Kanada. Beide entwarfen einen großzügigen Plan zur Niederhaltung der habsburgisch-spanischen Europapolitik. Heinrich IV. wurde von einem religiösen Schwärmer namens Ravaillac ermordet. Seine Nachfolger Ludwig XIII. (1610-1643) und Ludwig XIV. (1643-1715) mit ihren Staatsmännern Richelieu und Mazarin führten ein Gewaltregiment, fegten die letzten Überreste der Macht des Adels hinweg, eröffneten die lange Reihe von Kriegen gegen Spanien und Deutschland; unterdrückten die Hugenotten in Frankreich, förderten den Protestantismus in Deutschland, um das Reich nicht zur Ruhe kommen zu lassen; die französische Politik verschärfte und verlängerte den 1618 ausgebrochenen katholischprotestantischen Krieg in Deutschland, denn dieser würde schon 1635 beendet gewesen sein, wenn Frankreich um nicht zum Dreißigjährigen Kriege gemacht hätte, d. h. bis zur völligen Erschöpfung der deutschen Nation. Ludwig XIV. geriet dann in Kriege gegen Holland und England, Spanien und Österreich, bis er im Spanischen Erbfolgekrieg (1701-1714) von Prinz Eugen und dem Herzog von Mariborough geschlagen wurde: im Frieden von Utrecht (1713) verlor er die meisten seiner überseeischen Besitzungen an England.

So glanzvoll die Lage Frankreichs unter Ludwig XIV., insbesondere um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert erscheinen mochte, und so große Anstrengungen seine Minister - in erster Linie der berühmte Colbert - machten, Handel und Gewerbe zu fördern, so ruinierten doch die Eroberungspolitik und die Kriege das Wirtschaftsleben. Der Adel zog nach Paris und Versailles, überließ seine Güter den Großpächtern, die nur auf das Herausschlagen hoher Bodenrenten sahen; die hohe Steuerlast, rücksichtslos eingetrieben von den Steuerpächtern und deren zahlreichen Beamten, erdrückte die Bauern; die Zurückziehung des Toleranzedikts von Nantes veranlaßte die betriebsamen Hugenotten, ihrer Heimat den Rücken zu wenden und auszuwandern; die Verschwendungssucht des Hofes fraß noch weg, was dem Volke die Kriege ließen; nur die Großbourgeoisie, die Spekulanten, die Steuerpächter, die Wucherer bereicherten sich; ihre Söhne nahmen gegen hohe Kaufgelder die Richterstellen und andere Beamtenposten ein. Beim Tode Ludwigs XIV. war Frankreichs Bauernschaft verarmt; der Adel höfisch, aufs leichte Geldmachen erpicht, die obere Schicht der Bourgeoisie reich und zum Teile geadelt. Die langen Kriege hatten den Glauben an den Segen redlicher Arbeit und Geschäftsführung erschüttert; alle wollten schnell reich werden. Es war die Zeit der Finanzschwindler; ein John Law konnte mit seiner Aktien- und Banknotenpresse Frankreich den Kopf verdrehen und es in eine schwere Finanzkrise (1720) stürzen. Die Regierungszeit Ludwig XV. (1715-1774) sah seit etwa 1750 den Beginn der industriellen Revolution, und der revolutionäre Ruf nach Freiheit wurde deutlich hörbar. Das französische Denken wandte sich ab von aller Staatseinmischung in Produktion und Verkehr, aller einschränkenden Tradition, und verlangte, daß man der Natur, dem Naturrecht, freien Lauf lassen sollte. Hinweg mit der kirchlichen Autorität (Voltaire), hinweg mit den Überresten aller feudalen und absolutistischen Vorrechte, hinweg auch mit der überlebten Gemengelage, dem Flurzwang und den Gemeinsamkeiten der Bauern, hinweg mit den alten i Zünften und gewerblichen Beschränkungen l Frei soll ' der Bürger schaffen unter dem Schütze der Menschenrechte und des Naturgesetzes l Und inmitten des Rausches der bürgerlichen Freiheit arbeiteten soziale und kommunistische Kritiker an der Zersetzung der Welt des Sondereigentums.

Ein Zeitalter großer und kühner Denker zog heran. Von ungefähr 1750-1793 erleuchtete der französische Geist die Kulturwelt. Er verkündete die Revolution. Es ist das Zeitalter der Enzyklopädisten, so genannt nach der von Diderot und d'Alembert herausgegebenen „Encyclopedie ou dictionnaire raisonne des sciences, des arts et des metiers" (E. oder erläutertes Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und des Handwerks), in dessen 17 umfangreichen Bänden die gesamte Begriffswelt ihrer Zeit einer gründlichen Revision unterzogen wird. Bezeichnend, daß die Einleitung von d'Alembert, dem berühmtesten Mathematiker und Naturforscher der Zeit verfaßt ist. Diderot und seine Mitarbeiter, die Philosophen Holbach und Lamettrie, die Naturforscher Buffon und Condillac, gingen rücksichtslos gegen die Kirche und die Ideologie des Feudalismus vor und sind die Wegbereiter des modernen Materialismus. Kein schöneres Zeugnis ihrer Bedeutung für die revolutionäre Propaganda ist denkbar, als der Hinweis, den Lenin in seinem Beitrag zum ersten Heft der Zeitschrift „Unter dem Banner des Marxismus" gegeben hat: „Schon vor langer Zeit hat Engels den Führern des modernen Proletariats den Rat gegeben, zur Massenverbreitung unter dem Volk die atheistische Kampfliteratur vom Ende des 18. Jahrhunderts zu übersetzen... Die streitlustige, lebendige, talentvolle, witzige und offen das herrschende Pfaffentum angreifende Publizistik der alten Atheisten des 18. Jahrhunderts wird sich durchweg als tausendmal geeigneter erweisen zur Aufrüttelung der Menschen aus ihrem religiösen Schlummer als die trockenen ... Wiederholungen, die in unserer Literatur überwiegen." Denn in ihnen wird nicht nur die bürgerliche Revolution vorbereitet, sondern bereits der historische Materialismus. Karl Marx zählte Diderot zu seinen Lieblingsautoren.

Mit ihnen wetteifern Rousseau und die Physiokraten in der Bemühung, die herrschenden sozialen und ökonomischen Ansichten einer strengen Kritik zu unterwerfen. Diese sozialkritische Denkarbeit teile ich im folgenden m drei Gruppen: in mehr oder weniger kommunistische Sozialkritiker; dann in bürgerliche Sozialkritiker, die zwar die Übel des Privateigentums einsehen, aber sie entweder fatalistisch hinnehmen oder nur durch allerlei Reformen lindern wollen; schließlich in utopistische Schriftsteller, die sich vor der Wirklichkeit in das Reich der kommunistischen Poesie flüchten. Streng kann diese Klassifizierung nicht vorgenommen werden, denn die erste und die dritte Gruppe haben manch gemeinsame Charakterzüge. Jedoch zur Orientierung dürfte die Klassifizierung genügen.

2. Sozialkritiker: Meslier, Morelly, Mably.

Während Corneille, Racine und Moliere ihre Dramen für Hof und Adel schrieben, Lafontaine seine Fabeln dichtete, Bossuet predigte, und das Zeitalter Ludwigs XIV. zum goldenen der französischen Literatur machten, wirkte seit 1692 ein armer Pfarrer im Dorfe Etrepigny (Ardennen), erfüllte seine Pflichten als Seelenhirt, obwohl er im Herzen das ganze Chri-' stentum als einen totalen Unsinn und Staat und Gesellschaft vom naturrechtlich-kommunistischen Standpunkte aufs schärfste verdammte. Sei es aus Liebe zu seiner armen Bauerngemeinde, sei es aus Mangel an Mut, oder aber aus der Überzeugung, daß das Verkünden revolutionärer Wahrheiten noch verfrüht sei, daß also ein Martyrium nichts nutzen würde, behielt er seine revolutionären Ansichten für sich und hinterließ sie handschriftlich als Testament. Dieser eigenartige Pfarrer war Jean Meslier (geb. in der Champagne 1664, gest. in Etrepigny 1729 oder 1733), dessen literarischer Nachlaß „Le Testament de Jean Meslier" vollständig erst 1864 in drei Bänden in Amsterdam herausgegeben wurde, nachdem es schon seit einem Jahrhundert in einem von Voltaire hergestellten verstümmelten Auszuge bekannt gewesen a war. Die Amsterdamer vollständige Ausgabe stellt " sich dar als das Werk eines Mannes, der das Christentum glühend haßte. Religion und Kirche erschienen ihm nur als Mittel, das Volk in Dummheit s und Gehorsam zu erhalten. Mit unübertroffener ' Schärfe rechnet er mit Königtum, Adel, Geistlichkeit, Militarismus, Beamtentum, Steuerpächtern und  Geldprotzen ab. Kein radikaler Freidenker oder Republikaner könnte die Schärfe der Kritik übertreffen, die Meslier an diesen Einrichtungen und Personen geübt hat. Die Kritik richtete sich zwar in erster Linie gegen das Frankreich Ludwigs XIV., aber sie war auch allgemein gegen jede Monarchie, Religion, Gewaltherrschaft usw. gerichtet. Uns interessieren hier jedoch seine Ansichten über Privateigentum und Kommunismus. Hierüber führt er aus:

Ein anderer Mißbrauch, der fast allgemein besteht und hochgehalten wird, ist die besondere Aneignung der Güter und Reichtümer der Erde, anstatt sie gemeinschaftlich zu besitzen und zu genießen. Die Einwohner jeder Gemeinde müßten sich als eine einheitliche Familie von Brüdern und Schwestern betrachten und darauf sehen, daß sie alle arbeiten und nützliche Dinge herstellten, um allen die nötigen Lebensmittel zu verschaffen. Die Leitung der einzelnen Gemeinden soll nicht liegen in den Händen der Herrschsüchtigen, sondern in denen der Weisesten und Wohlwollendsten. Die einzelnen Gemeinden sollten sich miteinander verbinden, um den Frieden zu wahren und sich gegenseitig beizustehen... Aus der Teilung der Güter und Reichtümer der Erde, aus dem Sondereigentum entstanden die Gegensätze zwischen den Reichen und Armen, den Satten und den Hungrigen, den Hohen und Niedrigen... Blickt man auf diese Ungerechtigkeiten, auf den Luxus der einen und das Elend der ändern, auf Überfluß und Dürftigkeit, wobei die Klassenteilung sich keineswegs mit Tugend und Untugend deckt, so ist es unmöglich, an die Existenz eines Gottes zu glauben, denn es ist undenkbar, daß ein Gott diesen Umsturz der Gerechtigkeit dulden könnte (Testament, 2. Band, Seite 2ioff.). Die ersten Christengemeinden lebten kommunistisch, aber sophistische Geistliche haben die Gemeinschaft der irdischen Güter durch die Kommunion ersetzt: durch die Gemeinschaft von eingebildeten Gütern. Die Mönche jedoch wissen, soweit es sie selber betrifft, die Gemeinschaft der irdischen Güter zu schätzen, und sie sind gegen jede Not geschützt (Seite 233 ff.). Pascal ist offenbar derselben Ansicht, wenn er in seinen „Pensees" (Gedanken) bemerkt, daß die Aneignung des Erdbodens sowie die daraus entstandenen Übel darauf zurückzuführen sind, daß jedermann versuchte, sich Dinge anzueignen, die gemeinschaftlich sein sollten. Und der göttliche Plato wollte eine Republik schaffen, in der das „Mein" und „Dein" nicht existieren.

Die Ungleichheit ist eine Verletzung des Naturrechts. „Alle Menschen sind gleich von Natur, sie haben das gleiche Recht zu leben und sich zu bewegen, ihre natürliche Freiheit zu genießen und einen Anteil an den Gütern der Erde zu haben, indem sie sich miteinander nützlich betätigen, um die notwendigen Lebensmittel herzustellen; aber da sie in Gesellschaft leben, und da die menschliche Gesellschaft nicht reguliert und in Ordnung gehalten werden könnte, ohne eine gewisse Abhängigkeit und Unterordnung, so müssen die Menschen sich diese gefallen lassen, aber die Unterordnung darf nicht in Ungleichheit ausarten (2. Band, Seite 170-71).

Die Rettung der Menschheit liegt in der Vereinigung der Völker gegen die Tyrannen und in der Erkenntnis und Befolgung der Naturgesetze, die die Gütergemeinschaft und die Arbeit aller verlangen."

Einen tieferen Einfluß als Meslier übte Morelly, der Verfasser des einst berühmten „Code de la Nature" (Gesetzbuch der Natur) auf das kommunistische Denken aus. Über das Leben Morellys ist fast nichts bekannt. Er stammte aus Vitry-le-Francois und soll der Sohn eines Beamten gewesen sein und sich als Privatlehrer betätigt haben. 1753 veröffentlichte er einen naturrechtlichen Staatsroman „Naufrage des lies flottantes" (Schiffbruch der treibenden Inseln), ein heroisches Gedicht in vierzehn Gesängen, in dem er eine auf Kommunismus und freier Liebe begründete Gesellschaft schildert und den privatrechtlichen Einrichtungen mit ihren Untugenden als unstabilen treibenden Inseln den Schiffbruch voraussagt. Zwei Jahre später (1755) erschien sein „Gesetzbuch der Natur", das man lange Zeit fälschlich Diderot zuschrieb. Seine Grundgedanken sind:

Das soziale Elend entspringt aus dem Umstand, daß die Moralphilosophen und Politiker die Grundsätze der Natur entweder nicht verstanden oder aus ihnen unrichtige Schlüsse zogen. Die Natur ist eine bewundernswerte intelligente Maschine, die den Menschen mit denjenigen Bedürfnissen und Kräften ausrüstete und in eine Umgebung setzte, die - wenn die Absichten der Natur verstanden und befolgt worden wären - ihn unfehlbar glücklich und tugendhaft erhalten hätten. Der Mensch wird weder gut noch böse geboren; er hat keine angeborenen Ideen und Neigungen; als ein gänzlich gleichgültiges Wesen kommt er zur Welt. Aus dieser Gleichgültigkeit wecken ihn seine natürlichen Bedürfnisse, die stets größer sind als seine persönlichen Kräfte, so daß der isolierte Einzelmensch gar nicht imstande ist, sie zu befriedigen. Aus dieser Spannung zwischen Bedürfnis und Vermögen entstehen für den Menschen wohltätige Wirkungen. Sie zwingt ihn zur Arbeit, zum Denken und zur Vereinigung mit seinen Nebenmenschen, oder kurz: zur Gesellschaftlichkeit. Die Verschiedenheiten der menschlichen Bedürfnisse und Fähigkeiten machen die Gesellschaftlichkeit noch zwingender. Um die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse zu ermöglichen, gab die Natur den Menschen die Erde mit ihren Schätzen und ihrer Fruchtbarkeit. Die Erde und ihre Fülle gehörte allen gemeinschaftlich. Sie ist die gemeinsame Grundlage ihres Daseins. Auf dieser Grundlage erhebt sich die Gesellschaft, die in der Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit ihrer Beschäftigungen, ihrer Intelligenzen und Vereinigungen ein wunderbares Gleichgewicht, eine unzerstörbare Interessenharmonie darstellen würde, wenn die Philosophen, Gesetzgeber und Politiker die Gesetze der Natur studiert und befolgt hätten. Sie haben es aber nicht getan. Sie haben die Erde zum Sondereigentum gemacht, Teilungen und Spaltung und Interessengegensätze hervorgerufen, wodurch die Absichten der Natur vereitelt und die von ihr mit weisem Vorbedacht geschaffenen Bedürfnisse und Kräfte entartet wurden. Hieraus entsprangen all die Übel, an denen die Gesellschaft krankt und die durch Menschengesetze und Staatsformen, mögen sie demokratisch, aristokratisch oder monarchisch sein, nicht zu beseitigen sind. Das einzige Heilmittel ist die Rückkehr zu den Naturgesetzen, die folgendermaßen lauten:

  • Keinem in der Gesellschaft darf etwas eigentümlich und ausschließlich gehören, mit Ausnahme derjenigen Sachen, die ein jeder zu seiner täglichen Arbeit und zu seinen Vergnügungen wirklich gebraucht.
  • Jeder Bürger ist gleichsam Gesellschaftsbeamter und wird auf öffentliche Kosten ernährt, erhalten und beschäftigt.
  • Jeder Bürger trägt für sein Teil nach seinen Kräften, seinen Talenten und seinem Alter zum allgemeinen Besten bei; eben danach werden auch seine Pflichten geregelt, den sozialökonomischen Gesetzen gemäß.

Diese Sozialökonomie hat folgende Gestalt:

  • Jedes Volk soll in Familien, Stämme und Gemeinden und, wenn nötig, in Provinzen geteilt werden. Jeder Stamm besteht aus einer gleichen Anzahl Familien. Alle von ihnen hergestellten Güter werden in öffentlichen Magazinen aufgespeichert und von da aus zu bestimmten Zeiten an alle Bürger verteilt. Güter, die man nicht lange aufbewahren kann, werden nach den öffentlichen Plätzen geschafft und dort verteilt. Die überschüssigen Vorräte der dauerhaften Güter einer jeden Gemeinde oder Provinz werden für Zeiten der Not aufbewahrt. Handel mit benachbarten Völkern darf nur im Wege des Tausches betrieben und öffentlich bewacht werden.
  • Jeder arbeitsfähige Bürger ohne Ausnahme vom 20. bis zum 25. Lebensjahre muß landwirtschaftlich beschäftigt sein.
  • Die Staatsverwaltung soll in den Händen eines obersten Senats liegen, der aus den über fünfzig Jahre alten Familienoberhäuptern jährlich zu wählen ist.

Die Ehe ist auf zehn Jahre befristet und wird nur mit Bewilligung des städtischen Senats geschlossen.

Viel bekannter ist die Lebensgeschichte Gabriel B. Mablys (geb. in Grenoble 1709, gest. 1785). Er erhielt eine sorgfältige Erziehung, studierte Theologie, wandte sich aber der Publizistik zu und wurde Sekretär im Ministerium des Äußern. Er schrieb viel über antike und französische Geschichte, ebenso über diplomatische Fragen, verteidigte vorerst die alte Ordnung, wurde aber dann kritisch und veröffentlichte 1768 seine geistvoll geschriebene Polemik:

„Doutes proposes aux philosophes economistes" (Bedenken gegen die philosophischen Ökonomen) gegen Graf Mercier de la Riviere, das Haupt der Ökonomen, die das Sondereigentum als die natürliche und beste Ordnung, gestützt durch eine despotische Regierung, betrachteten. Diesen Theorien gegenüber verteidigte Mably das kommunistische Naturrecht, rühmte die Lykurgische Gesetzgebung, Platos Staat, und zeigte ihre Vorzüge gegenüber den aus Privateigentum und Ungleichheit fließenden Übeln. Mably ist stark von Morelly beeinflußt. In einer anderen Schrift meint er: „Wenn ich in irgendeiner Reisebeschreibung von einer wüsten Insel lese, deren Klima mild, deren Wasser gesund ist, so ergreift mich die Lust, dorthin zu ziehen und eine Republik zu gründen, in der alle gleich, alle reich, alle arm (besitzlos), alle frei und brüderlich leben. Unser erstes Gesetz würde lauten: Niemand darf Sondereigentum besitzen. Wir würden die Früchte unserer Arbeit in die öffentlichen Magazine tragen; dort befände sich der Staatsschatz und das Erbe eines jeden Bürgers. Die Familienväter würden jährlich Verwalter wählen, deren Amt es wäre, jedermann die zum Leben nötigen Dinge zu geben und ihm die Arbeit zuzuweisen, die die Gemeinschaft von ihm verlangen würde." (Zitiert bei Villegardelle-Köppen: „Geschichte der sozialen Ideen", Berlin 1846, Seite 84).

Mably gibt jedoch zu, daß die in der gegenwärtigen Gesellschaft erzogenen Menschen allzusehr vom Eigeninteresse getrieben sind, um das Allgemeininteresse zum Motive ihrer Handlungen machen zu können. Die Habsucht ist heute stärker als das soziale Pflichtgefühl. Deshalb schlägt Mably vor, daß vorläufig nur Reformen zu machen sind, die die Rechte des Eigentums beschränken, die Habsucht zügeln und nur solchen Eigentumerwerb begünstigen, der aus persönlicher Arbeit gewonnen wird. Das Erbrecht ist zu beschränken, Eigentümer von Grund und Boden und mobilem Kapital sollen die größte Steuerlast tragen, die Arbeiter aber sind nur mit germgen Steuern zu belegen. Die Gehaltsunterschiede der Beamten sind zu beseitigen, und möglichst gleiche Besoldung ist einzuführen, weil die natürliche Ungleichheit der Leistungen bei jeder Kollektivarbeit und dem Zusammenwirken der Kräfte fast ganz verschwindet und eine Durchschnittsleistung entsteht.

3. Bürgerliche Kritiker: Rousseau,Linguet, Necker, Brissot.

Während der letzten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts war Frankreich von naturrechtlichen Gedanken derart geschwängert, daß auch politisch-philosophische Denker, die dem Kommunismus fernstanden, eine sozialkritische Haltung dem Privateigentum gegenüber einnahmen. Der berühmteste, wenn auch nicht der folgerichtigste, unter ihnen war Jean Jacques Rousseau (1712-1778). In seiner 1753 erschienenen Schrift über die „Ungleichheit unter den Menschen" (deutsche Übersetzung von Moses Mendelssohn, der sie Lessing widmete) sagt er: „Der erste, der ein Grundstück einzäunte und sagte: das ist mein! und einfältige Leute fand, die es ihm glaubten, war der wahre Begründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wieviel Verbrechen, Krieg und Mord, wieviel Elend und Schrecken hätte derjenige unserem Geschlechte erspart, der die Pfähle ausgerissen, die Gräben verschüttet und seinen Genossen zugerufen hätte: Hütet euch, diesem Betrüger zu glauben; ihr seid verloren, wenn ihr vergesset, daß die Früchte allen gehören, die Erde aber niemandem !"

Auch im „Emil" (1762) finden sich mehrere sozialkritische Stellen. Jeder Genuß in der Gesellschaft, sagt er dort, kann einzig und allein durch Arbeit bezahlt werden. „Es ist für den gesellschaftlichen Menschen eine Pflicht, daß er arbeite. Jeder müßige Bürger, sei er reich oder arm, mächtig oder machtlos, ist ein Schurke" („Emil", drittes Buch).

Der konservative Jurist Simon N. H. Linguet (1736-1794) klagt in seiner 1767 erschienenen „Theorie des lois civiles" (Band I, Seite 171-200), daß die bürgerliche Gesellschaft die natürliche Freiheit der Menschen zerstört... Sobald der Mensch geboren ist, schließt man ihn an jene ungeheuere Kette, die Gesellschaft heißt... Der erste Blick aus seiner Wiege fällt auf Wesen, die ihm ähneln, die mit Ketten belastet sind und sich freuen, einen Gefährten zu sehen, der ihre Sklaverei teilen wird. Habsucht und Gewalt haben von der Erde Besitz genommen, und sie sind übereingekommen, nur denen einen Anteil an dem Besitz derselben zu gewähren, die ihrem Banner folgen ... „Die Gerechtigkeit ist das ewige und beharrliche Wollen, einem jeden sein Recht zu gewähren", - so sagen nämlich die Rechtsgelehrten. Aber der Arme hat nichts als seine Armut. Die Gesetze können ihm deshalb auch nichts anderes gewähren. Sie sind vielmehr bemüht, denjenigen, der im Überfluß lebt, gegen die Angriffe desjenigen zu schützen, der nicht einmal das Notwendigste hat. Darin besteht das eigentliche Wesen der Gesetze... Die Gesetze werden von den Reichen diktiert, und die Reichen sind es, die aus ihnen den größten Nutzen ziehen. Die Gesetze sind gleichsam die Festungen, von den Reichen im Feindeslande erbaut, wo nur ihnen Gefahren drohen... Die Kriege sind eine Folge der Gesetze, denn die Kriege entstehen aus der Liebe zum Eigentum, und worauf stützt sich das Eigentum anders, als auf die Gesetze?... Das Wesen der bürgerlichen Gesellschaft ist, die Reichen von der Arbeit zu befreien... Der freie Arbeiter ist schlechter daran als der Sklave. Dieser erhielt selbst dann Nahrung, wenn er nicht arbeitete. Aber was wird aus dem freien Arbeiter, wenn er keine Beschäftigung findet? Wer kümmert sich um ihn, wenn er vor Hunger und Elend stirbt?"

Derartiger kühner sozialkritischer Gedanken findet man bei Linguet gar viele. Nichtsdestoweniger blieb er bis zu Ende konservativ; er meinte, wenn man die Gesellschaft wolle, müsse man auch die krasse Ungleichheit und ihre Übel in den Kauf nehmen (Schlußkapitel in Band II).

Jacques Necker, der Finanzminister Ludwigs XVI. (geb. 1732, gest. 1804), schließt seine Schrift über den „Komhandel" mit folgenden Worten: „Wenn man sein Augenmerk auf die Gesellschaft und ihre Verhältnisse richtet, so drängt sich sogleich der allgemeine Gedanke auf, daß alle bürgerlichen Einrichtungen zum Besten der Eigentümer geschaffen sind. Man erschrickt, wenn man die Gesetzbücher aufschlägt und in ihnen allenthalben nur auf Beweise für diese Wahrheit stößt. Man möchte sagen, eine kleine

Anzahl Menschen habe sich in die Erde geteilt und hinterher Gesetze gemacht, um sich gegen die Masse zu einigen und zu schützen, so wie sie etwa die Wälder umzäunt haben, um sich vor wilden Tieren zu schützen" (deutsche Übersetzung, Dresden 1777, Seite 292/93). Vgl. auch Seite 121, wo das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit sowie die Konzentration des Eigentums und die Abnahme der Zahl der Eigentümer kritisch behandelt werden (Über Linguet und Necker vergleiche Karl Marx, Theorien über Mehrwert, Band I, S. 73-84.).

Zitieren wir noch einen Ausspruch von J. P. Brissot (geb. 1736, hingerichtet 1794) aus seinen 1780 erschienenen „Recherches philosophiques sur la propriete et le vol": „Als die Gleichheit verbannt worden war, traten die gehässigen Unterschiede zwischen Reichen und Armen immer greller hervor. Die Gesellschaft trennte sich in zwei Klassen: in die erste gehören die bürgerlichen Eigentümer, in die zweite die Volksmasse. Und um das grausame Eigentumsrecht zu befestigen, wurden grausame Strafen angedroht. Man nennt den Eingriff in dieses Recht: Diebstahl, und gleichwohl ist der Dieb im Naturzustände der Reiche, der, welcher Überfluß hat; im Gesell-schaftszustande ist dagegen der ein Dieb, welcher den Reichen bestiehlt. Wie sich doch die Ansichten ändern!l"

Dennoch war Brissot kein Revolutionär, auch kein Jakobiner, sondern Girondist (ein gemäßigter Republikaner) und wurde als solcher von den Jakobinern unter die Guillotine geschickt.

4. Utopische Schilderung von Vairasse d'Allais.

Die erste französische Schilderung einer kommunistischen Utopie gab Denis Vairasse aus Allais (Südfrankreich) in der „Histoire des Sevarambes" (Geschichte der Sevaramben), die zuerst 1675 in englischer Sprache in London, dann in französischer - Sprache 1677-1678 in Paris erschien. Vairasse hatte r eine bewegte Jugend; er diente in der französischen Armee, dann (1665) in der englischen Flotte, lebte einige Zeit in London und ließ sich dann in Paris als Sprachlehrer nieder, wo er auch eine französische Grammatik verfaßte (1681, 1683). Seine obengenannte utopische Geschichte wurde bald ins Deutsche und Holländische übertragen. Sie schildert mit vielen phantasievollen, romanhaften Einzelheiten die überaus glücklichen Zustände der Sevaramben, die auf einer australischen Insel lebten und von einem weisen Parsen namens Sevaris, einem Anbeter der Sonne, gesellschaftlich organisiert wurden. Die glücklichen Bewohner dieser Insel nannten sich Sevaramben, offenbar nach dem Namen ihres Staatsgründers. Die Grundsätze, nach welchen Sevaris die gesellschaftliche Reorganisation dieses Volkes vollzog, waren folgende:

Die Übel der menschlichen Gesellschaft fließen aus drei großen Quellen: Hochmut, Habsucht und Müßiggang. Hochmut erzeugte die Ungleichheit des Ansehens unter den -Menschen: Adelige und Gemeine, Herrscher und Diener. Habsucht spaltete die Gesellschaft in Reiche und Arme und brachte die Ungerechtigkeiten, die diese Gegensätze zur Folge haben. Müßiggang führt zu Ausschweifungen, Verschwörungen, zur Vernachlässigung der Schätze der Natur und des Menschengeistes. Um diese Quellen zu verstopfen, schaffte Sevaris alle Standesunterschiede ab, außer denjenigen, die aus den sittlichen Qualitäten des Menschen entspringen. Dann schaffte er das Sondereigentum ab; alle Güter und Reichtümer, aller Grund und Boden wurden als Eigentum des Staates erklärt. „Auf diese Weise beseitigte er die Habgier, die Zivilprozesse, die Steuern, die Zölle, die Teuerung und die Armut, die soviel Unheil über die Welt brachten. Seit dem Inkrafttreten dieser Gesetze sind alle Sevaramben reich, obwohl sie nichts ihr eigen nennen können. Alle Güter des Staates gehören ihnen, so daß sich jedermann für so glücklich schätzen kann wie der reichste Monarch der Welt" (Histoire des Sevarambes, Amsterdam 1711, I. Teil, S. 276-278). Gütergemeinschaft verlangt allgemeine Arbeitspflicht. Sevaris führte sie ein und bestimmte, daß der Tag in drei Teile geteilt würde: acht Stunden Arbeit, acht Stunden Erholung, acht Stunden Schlaf. Nur Greise, Schwangere, Kranke und Kinder sind von der Arbeit befreit. Da aber der Müßiggang als die größte Schande gilt, so suchen auch die Arbeitsfreien nach irgendeiner Beschäftigung.

Auf Erziehung und Schulung der Kinder wird das größte Gewicht gelegt. Vom siebenten bis zum elften Lebensjahre erhalten sie Elementarunterricht und werden körperlich und geistig gestärkt; dann besuchen sie landwirtschaftliche und gewerbliche Anstalten, wo die Arbeit auf vier Stunden täglich festgesetzt ist. Sie werden zur Mäßigkeit, zur Achtung vor dem Gesetz, dem Alter und der Religion erzogen. Die Se-varamben sind in der Regel monogam. Eine Ausnahme bilden die Beamten, die mehrere Frauen haben dürfen. Die Regierungsform ist heliokratisch (die als Gottheit angebetete Sonne ist die Herrscherin). Ihr Statthalter wird aus den höchsten Staatsbeamten durch Los bestimmt. Hingegen werden die übrigen Beamten direkt vom Volke gewählt.

Die Sevaramben wohnen gemeinschaftlich in Osmasien (großen Gebäuden). Jede Osmasie hat ihr Magazin, wo die angefertigten Güter abgeliefert werden und von wo jeder Genosse sich - auf amtliche Anweisung - die nötigen Lebensmittel holt.

5. Nachahmungen der großen Utopien.

Schon Vairasse ist in seinen Grundgedanken wenig originell, er lehnt sich an Morus und Campanella an. Aber was später an Utopien und utopischen Reisebeschreibungen erschien - und sie wurden in großer • Zahl im 18. und 19. Jahrhundert m Frankreich und , England veröffentlicht - ist meistens platte Nachahmung oder schöne Poesie. Die Variationen betreffen erstens das Eheleben: manche vertreten die Einehe oder die befristete Einehe, andere die freie Liebe; zweitens sind die Ansichten über die Regierungsform verschieden: manche vertreten die Monarchie oder Demokratie, andere die Anarchie. Neues bietet erst Bellamys „Rückblick" - ein echtes Produkt der industriellen Verhältnisse im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts. Auf Bellamy kommen wir in Teil V zurück. Der Vollständigkeit halber führen wir die meisten dieser Utopien hier an. 1676 veröffentlichte Gabriel de Foigny die anarchisch-kommunistische Schilderung „Terre Australe Connue"; 1710 Jacques Mass6 seine „Voyages et Aventures", im deLtisch-kommu-nistischen Sinne gehalten; 1746 Berington die „Me-moires de Gaudence de Lucques", an Campanella und Vairasse angelehnt; 1768, Fontenelle, die „Repu-blique des Philosophes", eine religionslose kommunistische Gesellschaft, die auf Sklaverei beruht; 1770 erschien „Histoire naturelle et civile des Galligenes", freie Liebe und Kommunismus; 1781 (?) veröffentlichte Restif de la Bretonne (ein durch pornographische Romane bekannter Vielschreiber) „Dicouverte Australe", ethisch-kommunistischen Inhalts.

Fenelons, des Bischofs von Cambrai, moraltriefender „Telemach" (1698), in dem das antike (griechische) Leben idealisiert wird, rief ebenfalls Nachahmungen hervor, die einen utopischen Einschlag haben.

ANHANG

1. Der Jesuitenstaat von Paraguay.

Für die Taktik der Kirche, im gegebenen Falle auch kommunistische Tendenzen für ihre Zwecke auszunutzen, ist ein Hinweis auf den sog. Jesuitenstaat von Paraguay von Interesse. Die Jesuiten waren im 16. und 17. Jahrhundert die aktivsten und skrupellosesten Missionare der katholischen Kirche und damit gleichzeitig erfolgreiche Kolonisatoren. In Wirklichkeit ist die kommunistische „Verfassung" der von den Priestern verwalteten und gegründeten 30 Ortschaften der eingeborenen Guaranis nicht auf eine Verwirklichung urchristlicher Gemeinschaftsformen begründet. Vielmehr verstanden die Missionare den ursprünglichen Stammeskommunismus der Guaranis ihren Zwecken dienstbar zu machen. Die gesamte Verteilung des Lebensnotwendigen wurde von ihnen kontrolliert und diese Kontrolle zu einer Ausplünderung der Eingeborenen benutzt, der keine Schranken gesetzt waren. Trotzdem hielt sich dieser „kommunistische" Staat über 150 Jahre, von 1610-1768. Es war die Stammestreue und der Gerechtigkeitssinn der Eingeborenen, nicht die Weisheit und Frömmigkeit der jesuitischen Verwalter, denen dieses Gemeinwesen seine Beständigkeit verdankte.

2. Die religiös-kommunistischen Siedlungen in Amerika.

Während die Verfasser utopischer Schilderungen sich damit begnügten, mehr oder minder unterhaltende soziale Bilder zu malen, lebten in christlichen Kreisen, insbesondere Deutschlands und Englands, ketzerisch-kommunistische Überlieferungen fort, die ihren Bekennern mannigfache Verfolgungen eintrugen und ihnen nicht gestatteten, in ihrer Heimat nach ihren Idealen zu leben. Die Zeiten der Inquisition und der Scheiterhaufen waren jedoch vorüber, so daß die kommunistischen Sektierer auswandern und in Amerika die praktische Probe auf ihre Lehren machen konnten. Die Vereinigten Staaten wurden zum Zufluchtsort der Überreste der ketzerisch-kommunistischen Bewegung des Mittelalters, soweit sie in sich den Drang fühlten, nach ihren Idealen zu leben.

Später kamen noch die Siedlungen der Anhänger Owens, Fouriers und Cabets hinzu, aber diese Unternehmungen gehören in Teil IV, da sie erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegründet wurden und auch geistig einer anderen Gedankenschicht - dem kritischen ütopismus, der der ersten Periode der industriellen Revolution entsprach - ihren Ursprung verdankten.

Eine der ältesten religiös-kommunistischen Gründungen ist die der S haker s (Schüttler). Sie entstand 1776 in Watervliet (Staat Neuyork). Ihre Leiterin war die Engländerin Ann Lee, die 1774 nach Amerika gekommen war. Im Laufe der Zeit vermehrten sich die Shaker-Gemeinden; die Zahl ihrer Mitglieder betrug jedoch nie mehr als 5000. Ihr Leben ist mönchisch und asketisch; Ehelosigkeit, strenge Sittlichkeit, Ekstase, mäßige Erholung. Sie gelangten zu großem Reichtum. Jede Gemeinde ist in „Familien" geteilt, deren Besitz kommunistisch verwaltet wird.

Die nächstwichtige Gründung ist Harmony (Pennsylvanien), gegründet von schwäbischen religiös-kommunistischen Bauern, die unter Leitung des diktatorisch veranlagten Georg Rapp (geb. 1770, gest. 1847) 'im Jahre 1803 auswanderten und in Pennsylvanien die oben erwähnte kommunistische Kolonie anlegten. Gütergemeinschaft, Gleichheit und Einheit herrschten unter den Rappisten, wie sich diese Siedler nach ihrem Führer nannten. 1814 verkauften sie ihre blühende Siedlung für 100000 Dollar und zogen nach Indiana, wo sie eine neue anlegten, die ebenfalls gedieh und zu großem Reichtum gelangte. Da ihnen das Klima nicht zusagte, verkauften sie 1824 die Siedlung an Robert Owen für 150000 Dollar; erwarben eine neue Niederlassung, die sie „E c o n o m y" nannten und ebenfalls zu hoher Blüte brachten, trotzdem manche hinzugekommene Abenteurer ihre zersetzende Tätigkeit ausübten und Absplitterungen verursachten. Bis 1807 hielten sie die Ehe für gestattet, nachher aber führten sie die Ehelosigkeit ein. Das rasche Aufblühen Pennsylvaniens seit ungefähr 1870 infolge der Petroleumindustrie machte der kommunistischen Idylle ein Ende. Gegenwärtig bilden die Rappisten eine Aktiengesellschaft, die wertvolle Ländereien, Ölquellen, Fabriken usw. besitzt.

Eine ähnliche Gründung ist Zoar, deren Mitglieder ebenfalls schwäbische Bauern waren, die wegen ihrer religiös-kommunistischen Überzeugung in ihrer württembergischen Heimat viel auszustehen hatten. Mit der ihnen von englischen Quäkern gewährten Geldhilfe wanderten sie unter Leitung ihres Genossen Josef Bäumler nach Amerika aus, kauften sich in Ohio an, beschlossen 1819 kommunistisch und ehelos zu leben; seit 1831 führten sie die Einehe ein. Auch Zoar erfreute sich großer wirtschaftlicher Erfolge und existierte bis 1898. Bei Auflösung der Kolonie erhielt jedes Mitglied 1500 Dollar als seinen Anteil.

Ähnliche Niederlassungen waren Bethel und Aurora (in Missouri und Oregon), gegründet von einem gewissen Dr. Keil (geb. 1812, gest. 1877). Ihre Mitglieder waren zum größten Teile deutscher Abstammung. Sie lebten kommunistisch, jedoch war die Ehe gestattet. Beide Niederlassungen führten ein friedliches und glückliches Leben bis zum Hinscheiden ihres Führers. Einige Jahre später lösten sie sich auf.

Merkwürdig ist auch die Niederlassung Amana (lowa), die von mitteldeutschen kommunistischen Sektierern gegründet wurde. Schon zu Anfang des 18. Jahrhunderts hatte sich die Sekte in Mitteldeutschland organisiert und dem kommunistischen Ideale angehangen, aber erst 1842 wanderten etwa tausend "> ihrer Mitglieder nach Amerika aus. Amana zählte im Jahre 1901 1767 Mitglieder, die in sieben Dörfern wohnten und landwirtschaftlich und gewerblich tätig waren. Ihr Vermögen betrug 1901 1647000 Dollar. Die in ihren Werkstätten verfertigten Waren (sie besitzen Mühlen, Schmieden, Seifensiedereien und Textilfabriken) sind von ausgezeichneter Qualität und finden leicht Absatz. Sie beschäftigen auch Lohnarbeiter; die Werkstätten sind sauber; jeder Arbeiter hat neben sich einen Sessel zum Ausruhen; Hasten und Jagen sind dort unbekannt; man arbeitet langsam und mit mehreren Pausen täglich. Die Umgangssprache ist noch immer deutsch. Amana vereinigt Kommunismus und Einehe. Die Lebensführung ist sehr einfach und echt urchristlich.

Im großen ganzen läßt sich von derartigen Siedlungen sagen, daß ihr Gedeihen abhängig ist von der Treue ihrer Mitglieder zu ihrem urchristlichen Ideal, sowie von der Tüchtigkeit ihrer Führer(1).

1) Hillquit, Geschichte des Sozialismus in Amerika. Stuttgart (Dietz-Verlag) 1906. Tugan-Baranowsky, Kommunistische Gemeinwesen der Neuzeit. Gotha (Perthes' Verlag) 1920. - Über Utopien im allgemeinen siehe George Cornwall Lewis „On the methods of observation and reasoning in politics", London 1852. Band I; Robert von Mohl, Geschichte der Staatswissenschaften, Erlangen 1855. Band I.

Editorische Anmerkungen:

Max Beer, Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe, mit Ergänzungen von Dr. Hermann Duncker, S. 335 - 362

Der Text ist ein OCR-Scan by red. trend vom Erlanger REPRINT (1971) des 1931 erschienenen Buches in der UNIVERSUM-BÜCHEREI FÜR ALLE, Berlin.

Von Hermann Duncker gibt es eine Rezension dieses Buches im Internet bei:
http://www.marxistische-bibliothek.de/duncker43.html