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bahamas 27

Gehorsam ohne Befehl
Bombenlegen aus Erfahrung
Das Mitmacherkollektiv und die besseren Deutschen  

von Clemens Nachtmann  

06/99
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Im gewoehnlichen Leben handeln wir nicht nach Motivation, sondern nach Notwendigkeit, in einer Verkettung von Ursache und Wirkung; allerdings kommt immer in dieserVerkettung auch etwas von uns selbst vor, weshalb wir uns dabei fuer frei halten. Diese Willensfreiheit ist die Faehigkeit des Menschen, freiwillig zu tun, was er unfreiwillig will.
R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften  

... der hiesige Autoritarismus (ist) einer ohne Autoritaet und der hiesige Konventionalismus einer ohne Konventionen. Schon bei den Nazis war nicht das Wort des Fuehrers Befehl , sondern sein Wille, den der kongeniale Volksgenosse erahnte. Nie haette der Nationalsozialismus funktioniert, haette den Deutschen jede ihrer Missetaten bei Strafandrohung befohlen werden muessen. Anders, als es das Wort vom "Befehlsnotstand", von der "Gleichschaltung" oder vom "Fuehrer" selber glauben machen will, herrschte das NS-System durch Gehorsam ohne Befehl.
W. Pohrt, Der Weg zur inneren Einheit  

Konkret wird Freiheit an den wechselnden Gestalten der Repression: im Widerstand gegen diese. Soviel Freiheit desWillens war, wie Menschen sich befreien wollten. Freiheit selbst aber ist derart mit Unfreiheit verfilzt, dass sie von dieser nicht bloss inhibiert wird, sondern sie zur Bedingung ihres eigenen Begriffs hat.
T.W. Adorno, Negative Dialektik    

Der faschistische Sozialpakt existiert im bundesdeutschen Postfaschismus weiter als eine im Resultat aufgehobene Voraussetzung, die unmittelbar keine Spur ihrer gewaltfoermigen Durchsetzung mehr an sich traegt: umso besser kann diese Tatsache verleugnet und der Nationalsozialismus als das Verbrechen einiger Irrer, als "Unrechtsstaat", als "das Schlimmste, das Menschen einander je angetan haben" exorziert werden. Diese Lebensluege der BRD ist das Fundament aller demokratischen "Vergangenheitsbewaeltigung", jenes kollektiven Beschweigens des Nationalsozialismus, das durchaus auch die Form enervierender Redseligkeit annehmen kann. Weil das postfaschistische Deutschland in institutioneller wie personeller Hinsicht in Kontinuitaet zu seinem Vorgaenger steht, muss ausnahmslos jeder Versuch einer Vergangenheitsbewaeltigung innerhalb des sich weiterschleppenden Systems zur symbolischen Distanzierung, zum substanzlosen Gestus geraten. Im Laufe der Jahrzehnte haben sich die Deutschen einen schier unerschoepflichen Vorrat an groesseren und kleineren Entlastungsluegen angelegt, aus dem sie sich je nach Gelegenheit und Bedarf bedienen. Danach war das nationalsozialistische System wahlweise das Werk von Hitler hoechstpersoenlich, einer kleinen Verbrecherclique und ein paar Helfershelfern oder des Monopolkapitals und seiner Schergen. Otto Normalvergaser jedenfalls hat "von alledem nichts gewusst", war "im Grunde auch dagegen" oder "konnte gar nicht anders handeln", weil "Befehlsnotstand" herrschte und man im Falle des Zuwiderhandelns sofort "ins KZ gekommen" waere.  

Aufklaerungsarbeit in Deutschland

Dem - soweit man ihn hierzulande voraussetzen kann - unbefangenen Beobachter muss dieses Gespinst an Rechtfertigungen sich so darstellen, als haetten Millionen Deutsche kollektiv verabredet, sich dumm zu stellen und aus diesem Sich-dumm- stellen ein kohaerentes System gezimmert, um auszutesten, ob irgend jemand es vielleicht als diskussionswuerdige Aussage behandeln wuerde. Unterstellt werden kann jedenfalls, dass nur die wenigsten Deutschen den Quatsch von wegen "nichts gewusst" etc., den sie sich und anderen erzaehlen, auch wirklich glauben. In Wirklichkeit ist jedem klar, dass der Nationalsozialismus, anders als Diktaturen traditionellen Zuschnitts, ohne massenhaftes Mitmachen nicht funktioniert haette; jeder weiss, dass er sein Scherflein zum Funktionieren eines verbrecherischen Ganzen beigetragen hat und jeder weiss auch genau, dass er dies im Interesse des postfaschistischen Ganzen besser verheimlicht: "Das Funktionieren der Bundesrepublik verdankt sich unter anderem dem Umstand, dass einer vom anderen, selbst wenn er es gewollt haette, nicht wissen sollte, wie gross sein Anteil an den faschistischen Verbrechen gewesen war". (1) Weil die Entlastungsluegen so durchsichtig sind und ein jeder insgeheim weiss, wie es sich genau verhaelt und dies daher umso tatkraeftiger verleugnen muss, entsteht eine besonders verhaertete und gegen Aufklaerung resistente Forrn des Bewusstseins. Horkheimer charakterisierte diese Mischung aus Gewitztheit und Zwanghaftigkeit einmal folgendermassen: "Immer wieder zu formulieren: das Schuldbekenntnis der Deutschen... war ein famoses Verfahren, das voelkische Gemeinschaftsempfinden in die Nachkriegsperiode hinueberzuretten. Das Wir zu bewahren war die Hauptsache... Das Schuldbekenntnis hiess vielmehr, 'wir' und die Nazis gehoeren zusammen, der Krieg ist verloren 'wir' muessen Abbitte tun, sonst kommen wir nicht rasch genug wieder hoch. Erst wenn die Sieger Konsequenzen ziehen wollten, griff man zur unverschaemten Luege und behauptete das Gegenteil der Schuld ,wir' haben davon nichts gewusst, anstatt 'wir' wollen es nicht wissen. Selbst noch das ,Ich' stand fuer das 'Wir'. Ich war kein Nazi, im Grunde waren wir's alle nicht. Das Wir ist die Bruecke, das Schlechte, das den Nazismus moeglich machte." (2) Geschaeftsgrundlage der antifaschistischen Volkspaedagogen, der Mahner und Warner wider das Vergessen und die Anfaenge, denen zu wehren sei, war und ist dagegen die Annahme, die Deutschen seien etwas begriffsstutzig oder haetten sich in einen Irrtum verrannt, den man dadurch ausraeumen koenne, dass man sie mit serioeser Darstellung der historischen Fakten konfrontiere. Konsequent mussten die antifaschistischen Paedagogen die Ausfluechte der Landsleute fuer ernsthafte Behauptungen nehmen, die man Schritt fuer Schritt widerlegen koenne. Da das Aufklaerungsbemuehen dergestalt von einer falschen Voraussetzung lebt, musste es zu einer fast so gespenstischen und skurrillen Veranstaltung werden, wie es das allgemeine Sichduminstellen immer schon war. Einmal abgesehen davon, dass der antifaschistische Lerneifer erst einsetzte, als garantiert alle das Zeitliche gesegnet hatten, die man fuer ihre Untaten belangen haette muessen was ihn als Ersatzhandlung von allein verdaechtig macht, ist dieTatsache, dass er stets als sensationelle Erkenntnis ausposaunen muss, was eine - im doppelten Sinne des Wortes - furchtbare Trivialitaet sondergleichen ist: dass die Aerzte, die Juristen, die Soziologen, die Historiker, kurz: alle froehlich mitgemacht haben.

So zieht das verhaertete Bewusstsein der Durchschnittsdeutschen noch seine vermeintlich radikalsten Opponenten in seinen Bann: auch sie muessen sich dumm stellen, um ihr Geschaeft weiterbetreiben zu koennen. Ihr Grundsatz ist die These, dass ueber den Nationalsozialismus noch lange nicht alles und vor allein nicht das Wesentliche gesagt wurde und daher noch unendlich grosser Forschungsbedarf bestehe. Das verleiht Zaehigkeit und Ausdauer und ermoeglicht einem, Banalitaeten als Offenbarung zu verhoekern: "Die seit 1992 u.a. von Christopher Browning, David Bankier und Daniel Goldhagen veroeffentlichten Studien markieren insofern einen Durchbruch, als sie den Fokus auf die Analyse der gewoehnlichen deutschen TaeterInnen und das oeffentliche Bewusstsein Nazi-Deutschland legen. Diese Studien widerlegen erstmals das entlastende Maerchen vom Befehlszwang. Sie weisen nach, dass die Deutschen die Juden freiwillig quaelten, folterten und ermordeten." Jungle world 28/1998, S. 15, Hvhb. Cl) Fuer Matthias Kuentzel und seinen Co-Autoren, von denen diese Saetze stammen, war die Lektuere von Goldhagens "Hitlers willige Vollstrecker" eine Offenbarung. Ueber die Botschaft, die ueberbracht werden soll, sind sie sich allerdings selber nicht ganz im Klaren. Die unbedingte Ablehnung jedweder Theoretisierung der Massenvernichtung koexistiert bei ihnen ganz friedlich mit dem Wunsch nach einer wasserdichten Supertheorie. Da wird einerseits mit dem abgegriffensten EmpoerVokabular aus dem Woerterbuch des Gutmenschen ausgerufen: "Schon die Ermordung eines einzigen juedischen Kindes aus der Warenform ableiten zu wollen, ist respektlos und zynisch zugleich." An anderer Stelle heisst es: Joachim "Bruhns Argumentation, die deutsche Spezifik, d.h. Auschwitz auszuklammern und die rassistische Denkform des rassistischen Moerders aus Solingen" einer rassistischen Stadt irn rassistischen Deutschland, so koennte die Kraftmeierei weitergehen "allein aus der Warenform abzuleiten musste zwangslaeufig bei einer Argumentation landen, die ihn zum Verteidiger des" damit es ja keiner vergisst - "faschistischen Moerders und der ,eigentlichen' Intention von Christlan R, machte." Was sie immer schon ueber die "Wertkritiker" von der bahamas und der ISF sagen wollten -jetzt wo sie endlich wissen, dass selbst "die Ermordung eines einzigen juedischen Kindes" von Uebel war, trauen sie sich endlich. Weil sie, nie verstanden haben, dass eine kritische Theorie der Gesellschaft nicht durch heulsusenhafte Beschreibung der Verbrechen, die die gesellschaftlich produzierten Subjekte veruebt haben, ersetzt werden kann, streuen sie den Verdacht, dass all diejenigen, die sich den Muehen der Nacherzaehlung, verweigern, herzlose Technokraten der Vernunft seien. Leute also, die in ihrer Respektlosigkeit und in ihrem "Zynismius" alle Merkmale des Schreibtischtaeters aufweisen. Kein der Wertkritik Verdaechtiger kam aber je auf die Schnapsidee, die Massenvernichtung der Juden, also die Tat selbst oder die Ermordung auch nur eines einzigen juedischen Menschen direkt "aus der Warenform abzuleiten". Die absurde Unterstellung, dass Joachim Bruhn ein Buch mit dem Titel "Was deutsch ist" geschrieben haben soll, in dem dann ausgerechnet die "deutsche Spezifik ausgeklammert" sei, kann nur aufstellen kann, wer das Buch in boeser Absicht gelesen hat. (3) Diese Mischung aus bekennendem Pathos und Denunziation hat aber System. Es soll ein Verdikt gesprochen werden, das da lautet: angesichts von Auschwitz ist jegliche Form voll Gesellschaftstheorie apologetisch. Von Objektivitaet zu sprechen, zu begruenden, nach Konstitutionsbedingungen zu fragen, zu schliessen, abzuleiten - fuer Kuentzel et al. ist das alles eins, naemlich das, was Betroffenheitslinke immer schon an Theorie gehasst haben: "Determinismus", "Objektivismus", "schematischer Oekonomismus", "Ableitungsakrobatik" und vor allem: "ein erstklassiger Freispruch fuer die VollstreckerInnen" Dagegen bieten sie eine Lehre von der Willensfreiheit auf, deren einzige These lautet: die Deutschen haben die Juden umgebracht, weil sie sie umbringen wollten. Der Tatwille resultierte in einem adaequaten Taterfolg, wuerde der Jurist sagen. Es waren "empirische Subjekte, die eigenverantwortlich handeln", und genauso verhaelt es sich heute mit den Moerdern von Solingen: das "kaltbluetige Verbrennen von TuerkInnen diente... dem Zweck, sie zu toeten." Die verblueffende sprachliche Naehe dieser Saetze zur richterlichen Begruendung von Strafurteilen, in denen Vorsatz und persoenliche Schuld des Taeters nach einem immergleichen Schema nachgewiesen werden und in denen mit Adjektiven wie "kaltbluetig" besondere kriminelle Energie unterstrichen wird, um daraus die wiederum besondere Verwerflichkeit der Tat zu deduzieren, ist keineswegs Zufall. Was im Strafurteil erscheint, ist der verkommene Rest fruehbuergerlicher Subjekttheorie, der formelhafte Nachhall eines laengst untergegangen Selbstbewusstseins, das einmal emphatisch den Menschen zum alleinigen Herren seiner Geschicke erklaert hatte. Voll dieser Vernunft ist die falsche Ideologie uebrig geblieben, dass jeder seines Glueckes Schmied sei und deswegen auch umgekehrt die Konsequenzen seiner Handlungen selber zu tragen habe. Dass Linke, die voellig zurecht immer auf Fremdbestimmtheit individueller Entscheidungen unterm Kapitalverhaeltnis haben, im Moment der Feinderklaerung reflexhaft die Chimaere des Einzelnen und Freien anrufen, um mit der ganzen Wucht strafrichterlicher Rhetorik den Bannfluch zu sprechen, beweist nicht nur ihre intellektuelle Unredlichkeit. Solches Tun erinnert daran, wie gerade in den Koepfen solcher Linker, die von Betroffensein und Unmittelbarkeit raunen, der Wunsch nach einem sozialistischen Vernunftstaat steckt, der grausamer noch als der buergerliche die ihm Unterworfenen unters Fallbeil der Gerechtigkeit zwingt.  

Ein Beitrag zur Mentalitaetsgeschichte

Dieser Theoriefeindlichkeit kontrastiert merkwuerdigerweise die Feststellung: wir halten es fuer evident, dass es seit Beginn des 19. Jahrhunderts eine stringente Entwicklung zum eliminatorischen Antisemitismus und seit 1933 eine geradlinige Entwicklung nach Auschwitz hin nachgewiesen werden kann." (Jungle world 28/1998, S. 16, Hvhb. cl.) Diese Aussage postuliert genau das, was die Autoren ihren Gegnern vorwerfen: einen ganz schauderhaften Determinismus. In ihrem Buch ist in diesem Zusammenhang die Rede von der "spezifisch deutschen Identitaet", die sich "in spezifischer Weise mit dem Kapital verbindet" (4) oder es wird gefordert, das "TaeterInnenbewusstsein in eine theoretisch fundierte Erklaerung des Antisemitismus (einzuordnen)". (5) Da soll also nun die wirklich lueckenlose und wasserdichte Erklaerung fuer und Ableitung von Auschwitz geliefert werden. Geht das aber mit der emphatischen Willensfreiheitsdoktrin zusammen? Es geht. Zentralkategorie von Kuentzel et al. ist der "eliminatorische Antisemitismus", der sich, wieder Begriff schon andeutet, auf den blanken Willen zur Vernichtung reduziert. Dieser Vernichtungswille habe sich seit Beginn des 19.,lahrhunderts in Deutschland "stringent" seinen Weg gebahnt; Auschwitz fuehren sie auf diesen Vernichtungswillen und nichts anderes zurueck. Die Kategorie des Vernichtungswillens - das ist der springende Punkt - deckt dabei folgende durchaus unterschiedene Phaenomene ab: sie bezeichnet gleichermassen das Motiv fuers Mitmachen des einzelnen Subjekts wie das Selbstverstaendnis seines Handelns, laesst sich andererseits im grossen Massstab auf die Judenvernichtung als "planmaessig verfolgtes Ziel des Nationalsozialismus" (also des Systems als Ganzen) anwenden und die antisemitische-eliminatorische Ideologie als Ursache fuer Auschwitz kann man gleich noch mit draufsatteln. "Vernichtungswille" ist Kuentzels Lenor Ultra, mit dem die Begriffe solange weichgespuelt werden, bis alle ihre Konturen verschwinden. Dieses Verfahren bietet den Vorteil, dass man flink die Objekte der Aussage wechseln bzw. die gesellschaftlichen Sphaeren, die zwar durch einander vermittelt, aber eben nicht deckungsgleich sind, durcheinanderwerfen kann. In der Kategorie des "Vernichtungswillens" fallen Individuum, Ideologie und Gesellschaft voellig in eins. Angesichts dieser planen Identifizierung von allem und jedem ist es nicht verwunderlich, dass Kuentzel et al. voellig affirmativ und fetischistisch von einer "spezifisch deutschen Identitaet" sprechen. Sie weisen die terroristische Frage, was "deutsch" sei, nicht dadurch als falsch zurueck, dass sie sie als mit dem Nationalstaat notwendig gesetzte und hierzulande am reinsten entwickelte Aufforderung zu Selektion und Ausgrenzung dingfest machen, sondern sie beantworten sie ganz brav, indem sie sie als Eigenschaft definieren. Das kommt davon, wenn man "Ideenen und Weltanschauungen... zunaechst fuer sich selbst analysieren" bzw. die Theorie mit der Einpirie "synthetisieren" moechte,"ohne dass die Theorie der Empirie in den Ruecken faellt." Das Resultat ist eine Auffassung, die geeignet ist, die bloedesten Anwuerfe gegen die sogenannte"antinationale Linke", sie trieben deutsche Mentalitaetsgeschichte anstatt Kapitalismuskritik in revolutionaerer Absicht, endlich zu bewahrheiten. Was den Kapitalismus, vor allem aber die kapitalistisch vergesellschafteten Subjekte in Deutschland angeht, so insistieren Kuentzel et. al. auf deren Willensfreiheit; was die Frage der Moeglichkeit eines Ausbruchs aus dem Hoellenzirkel angeht, gibt es ploetzlich keinen freien Willen mehr. Die deutsche Geschichte ist ausweglos, als "Hineingeborener" ist man automatisch im schlechten Kontinuum ge und befangen. Was allein bleibt, ist intensive Trauer und Bewusstseinsarbeit und Betroffenheit. Anstatt den objektiv-abstrakten Fetischen von "Nationalitaet", "Deutschtum" etc. auf dem Wege der vorerst theoretischen Kritik die Luft abzulassen, machen sie sich noch dort, wo bzw. indem sie sich am heftigsten von ihm abgrenzen, wieder mit dem Kollektiv gemein. Man sucht die naechste Naehe zu jenen unverbesserlichen Schurken, wo man ihnen ganz fern sein will, Was Arendt als "Banalitaet des Boesen" bezeichnet hatte, damit koennten Kuentzel et al. nichts anfangen. "Die die freiwillig handelnden Eichmanns waren "Hanswurste" (Arendt), keine Schurken, sondern grauenvolle Nullen, die sich nicht einmal richtig verabscheuen lassen. Kuentzel et al. hingegen brauchen deswegen ihr Abstellen auf Goldhagen, Browning gerade die mordlustigen, sadistischen, vernichtungswilligen Deutschen, und sie muessen ein auswegsloses Kontinuum dieses Vernichtungswillens schreiben, weil diese Ontologie des Schlechten den eigenen Bemuehungen um Laeuterung und Aulfarbeitung einerseits das leicht bittere Aroma der Vergeblichkeit untermischt und andererseits die eigene schoene Seele umso wirkungsvoller hervorhebt. Die Mehrheit der deutschen Taeter war aber weder sadistisch noch blutruenstig. Haetten sie ueber diese Qualitaeten und nur ueber diese verfuegt, waere die Judenvernichtung - als eine generalstabsmaessig vorbereiteter und durchgefuehrter Vorgang gescheitert. Mordlust erschoepft sich wie jede noch mit einem Rest von Persoenlichkeit verbundene Leidenschaft: sie kippt von Raserei in Apathie, sie macht, wie jedes klassische Pogrom beweist, nach halbvollbrachter Tat halt. Das leidenschaftliche Morden und das Morden als Vollzug eines Jahre dauernden systematisch betrieben Auftrags, als Arbeit des Toetens, schliessen auf Dauer einander aus anstatt sich zu ergaenzen. Die Schreckensbilder von ueber den Vernichtungszweck hinaus gehenden Untaten wie Demuetigen, Foltern oder Vergewaltigen, die Kuentzel et al. dauernd bemuehen, dokumentieren die Ausnahme, die sie als Regel setzen muessen, wollen sie ihr Konstrukion eines fanatisch - glaeubigen Taetersubjekts aufrechterhalten. Die sadistischen Grausamkeiten der deutschen Taeter waren eine Reaktionsbildung darauf, dass die tatsaechlichen Opfer in der Regel nichts weiter als verschuechterte Menschen waren, denen ihr Untermenschentum selbst fuer viele hartgesottene Antisemiten nicht ausreichend anzumerken war. Durch Erniedrigung wollten sie die Opfer dem Bilde, das sie von ihnen hatten, gleich machen und diese Handlungen nahmen in dem Masse, wie die Vernichtung ab 1942 systematischen Charakter annahm, ab, weil diese Entpersonalisierung an den Juden durch Ghettoisierung und spaeter in den Lagern im abstrakten Vollzug exekutiert wurde. "Man laesst die Realitaet der Shoah nicht an sich heran" werfen Kuentzel und andere ihren Gegnern vor, waehrend sie wohl fuer sich beanspruchen, die Judenvernichtung an sich heranzulassen" (haette auch heissem koennen: sie "sinnlich" nachzuerleben, auf Tuchfuehlung mit ihr zu sein" o.ae.). Solche gegenueber den Ermordeten schon an Obszoenitaet grenzende Psychologisierung der Massenvernichtung, aus der die ganze Zudringlichkeit der penetrant aufarbeitenden besseren Deutschen mit geballter Widerwaertigkeit spricht, ist die wohl unausweichliche Konsequenz ihrer ihrer Subjekttheorie.  

Ueber die Willensfreiheit

Im Mittelpunkt der Erwaegungen von Kuentzel ut al. steht die bedeutungsschwer aufgeworfene Frage, ob die Deutschen Millionen Menschen freiwillig umgebracht haben. Natuerlich haben sie das, und diese Feststellung ist so wahr wie banal. Aber das vereinzelte, mit Willen und Bewusst sein begabte Subjekt ist keine in sich ruhende Substanz, sondern in allen seinen Momenten ein Produkt der Gesellschaft. Als frei handelndes reproduziert es das gesellschaftliche Zwangsverhaeltnis, dem es unterworfen ist genauso wie die gesellschaftliche Objektivitaet sich nur vermoege und vermittels der Handlungen der Subjekte realisiert. Die Alternative von Freiheit oder Determinismus zielt an der Sache vorbei, denn: "nur durch das Prinzip der individuellen Selbsterhaltung hindurch funktioniert das Ganze,... das vermoege der Partikularitaet und ihrer Verstocktheit fortlebt, buchstaeblich Ideologie, gesellschaftlich notwendiger Schein.

Das allgemeine Prinzip ist das der Vereinzelung." (6) Individuum und Gesellschaft fallen deshalb unmittelbar zusammen denn "die Gesellschaft" ist keine an sich hoehere Macht, sondern von den Menschen produziert und von ihnen taetig in Gang gehalten; und sie fallen ebenso unmittelbar auseinander denn die Gcsellschaft existiert als ein versachlichtes, aanonym - eigengesetzliches Getriebe, das sich dem einzelnen Individuum gegenueber versebstaendigt hat, ihm die Bedingungen seines Handelns aufzwingt und ihn als sein Anhaengsel eher schlecht als recht mitschieppt. Als ein ausser ihnen existierendes "Verhaengnis" (Marx) ist der obektive Zusammenhang deshalb weder auf subjektive Willensanstrengungen als seinen Grund zurueckfuehrbar noch vermoegen diese ihn zu ueberblicken, geschweige denn zu veraendern. Das setzt, selbstverstaendlich, die an der Figur des autonomen, in sich selbst begruendeten Individuums gebildeten Kategorien von Schuld und Verantwortung ausser Kurs. Das kollektiv begangene Unrecht der Massenvernichtung justitiell, mit den individualistischen Kategorien des Strafrechts zu ahnden, wie es in der BRD geschehen ist, konnte nur heissen, den kollektiven, d.h. gesellschaftlichen Charakter jener Barbarei zu verleugnen, auf deren Resultaten die BRD sich aufbaute. Solche Ideologiekiritik des Individuums und seiner Derivate negiert die Kateorien von Verantwortung und Schuld aber keineswegs in toto: es ist die Schuld eines jeden Individuums, durch seine Handlungen eine gesellschaftliche Objektivitaet zu reproduzieren, die es genausogut mit allen anderen revolutionaer beseitigen koennte. In diesem revolutionstheoretischen Sinne ist und bleibt es fuer alle seine Taten verantwortlich und deshalb ist und bleibt es den Deutschen vorzuwerfen, dass sie den Nazis bis zuletzt treu ergeben waren und damit die "Volksgemeinschaft" als klassenuebergreifendes Verfolgerkollektiv erst praktisch konstituierten - anstatt sie gewaltsam zum Teufel zu jagen.  

Erklaerung und Kritik - ein entscheidender Unterschied

Auch wenn Kuentzel und Co, sich auf eine Stufe mit dem durchschnitt1ichten Entlastungsluegen der Deutschen stellen: die wert und staatskritische Gesellschaftstheorie ist keine positive Determinationslehre, denn jeder ihrer Saetze und Aussagen ueber die tatsaechlich determinierende Gewalt ihres Gegenstandes zielt auf die moegliche Abschaffung desselben. Sie sagt nicht: "es kommt alles notwendig, so wie es kommt und daran laesst sich nichts aendern", sondern faellt ein historisches Existentialurteil: "heute ist es so und es wird notwendig so weitergehen es sei denn, die Menschen aendern ihre Verhaeltnisse, wozu sie grundsaetzlich die Freiheit besitzen." Jeder Satz der kritischen Theorie, der auf der fatalen Notwendigkeit kapitalistischer Vergesellschaftung insistiert, meint das Gegenteil, will seinen Adressaten befragen, ob er durch sein einverstaendliches Mitmachen diese Notwendigkeit befoerdern oder sie destruieren will. Sie kann die Freiheit der Leute, das Zwangsverhaeltnis, der sie unterworfen sind, abzuschaffen, aber nur unterstellen. Solange sie sich weiterhin mit allen Konsequenzen fuers Mitmachen entscheiden, also freiwillig tun, was sie unfreiwillig wollen, wird die Theorie ihr Geschaeft weiterbetreiben: einen gesellschaftlichen Zusammenhang zu denunzieren, der die Moeglichkeit von Freiheit tagtaeglich untergraebt.

In diesem Sinne kann und will die wert und staatskritische Gesellschaftstheorie weder den Antisemitismus noch gar die Vernichtung der Juden "erklaeren" oder aus der Wertform "ableiten" [Uebrigens: Etwas "ableiten" meint die Gewinnung von Aussagen nach formallogischen Regeln aus vorgegebenen Praemissen, ohne einen Wahrheitsgehalt der dabei gewonnenen Saetze zu beanspruchen. Erstaunlich, wie es Kuentzel et al. genauso wie Guenther Jacob & co. entgehen kann, dass die materialistische Dialektik z.B. Postones begriffliche Rekonstruktion des Antisemitismus dieses Verfahren in jeder Hinsicht bestimmt negiert] An Auschwitz wird jede nach logischrationalen Kriterien organisierte "Erklaerung" oder"Ableitung" zuschanden und jeder Versuch, es dennoch zu tun, kann nur zur Rationalisierung eines an und fuer sich Unverstaendlichen geraten. Waeren Kuentzel et al. mit ihrem Vorhaben erfolgreich; koennten sie also eine lueckenlose sozialhistorische Beweiskette vorlegen, wonach die Vernichtung der Juden logisch zwingend, also notwendig aus der deutschen Geschichte als aus ihrem Grund folgt, dann waere dieser Nachweis vermutlich gegen die Intention der Autoren , die groesstmoegliche Rechtfertigung von Auschwitz und die Entschuldigung der Millionen Mitmacher und Vollstrecker, die sich denken laesst, Da ist die sogenannte "Wertkritik" ungleich bescheidener. Weder will sie bestimmte Ereignisse aus irgendwelchen Axiomen logisch deduzieren noch will sie sie, was aufs Gleiche hinauslaeuft, durch eine Kette von Fakten beweisen. Theorie ist eben nicht die Summe aller aufgebotenen Fakten, vielmehr werden diese von der Theorie konstituiert. Ihr geht es um die begriffliche Darstellung der realabstrakten Konstitutionsbedingungen des Denkens und Handelns der einzelnen Subjekte. Die Wertkritik kann darlegen und Moishe Postorie hat dies mustergueltig getan wie der Antisemitismus als "objektive Gedankenform" den fetischistischen Charakteren kapitalistischer Vergesellschaftung entspringt und kann den Impuls zur Vernichtung der als "Gegenrasse" halluzinierten Juden bestimmen, der dieser Denkform notwendig innewohnt aber deswegen keineswegs unter allen Umstaenden notwendig aus folgt. Antisemitismus ist eine objektive, an sich selbst notwendig eliminatorische Ideologie und als solche kein deutsches Spezifikum. Die Vernichtung der Juden, der von Deutschen industriell betriebene Massenmord ist deshalb eine Konsequenz des Antisemitismus, insofern das in ihm Angelegte auch praktisch vollstreckt wurde und er ist es wiederum nicht, da diese praktische Entfesselung des an sieh immer schon Beschlossenen einen in der Tat spezifischen Aggregatzustand kapitalistischer Vergesellschaftung voraussetzt, den man als deutsche Besonderheit - im Sinne der Besonderung eines Allgemeinen - bezeichnen kann. Auschwitz markiert den Punkt, an dem der antisemitische Alltagsaffekt kein deutsches Spezifikum in den "Antisemitismus der Vernunft" (Hitler), in die Arbeit der Vernichtung umschlaegt, was zu besorgen die Sache allein der Deutschen war. Die Massenvernichtung ist daher das Ereignis, von dem aus man die Geschichte des Kapitals in Deutschland als jenen Prozess identifizieren muss, der im Resultat terminierte. Es ist richtig zu sagen: vom Resultat her betrachtet eignet der deutschen Geschichte jene fatale Notwendigkeit, in der das barbarische Moment ihrer kapitalistischen Konstituiertheit unverschnitten zum Ausdruck kommt; hingegen ist es falsch, zu postulieren, es gebe eine lineare Entwicklung von den Anfaengen des Antisemitismus bis nach Auschwitz genau das ist der Geschichtsdeterminismus, und Deduktivismus von Kuentzel et.al , den sie so gern auf ihre Gegner projizieren.  

Gehorsam ohne Befehl

Die viel bemuehte Freiwilligkeit, mit der die Deutschen sich den Nazis tatkraeftig andienten, stellt eine gesellschaftliche Qualitaet dar, die von der nationalsozialistischen Bewegung beguenstigt wurde und darueberhinaus einen durchaus neuen Charakter von Herrschaft indiziert. Ein Grundzug der nazistischen Ideologie ist, wie Marcuse einmal dargelegt hat, ihr Existentialismus: die "mythischen Wesenheiten", mit denen sie operiert Volk, Rasse, Blut etc. werden vorgestellt als objektive, mit unbaendignaturhafter Macht nach oben draengende Bewegung, als substantielle Dynamik, der die Nazis ihr Selbstverstaendnis als revolutionaere "Bewegung" (gegen die "verkrusteten Strukturen" des buergerlichen Lebens, wie man heute sagen wuerde) und die Insignien ihrer eigenen unwiderstehlichen Geschichtsmaechtigkeit, die den "Zug der Zeit" repraesentierte, entlehnten. Die vollendete Konkretion, die diese Dynamik verheisst, ist aber in Wahrheit vollendete Abstraktion: sie laesst sich theoretisch nicht beschreiben, definieren, konkretisieren, sondern laesst nur die rueckhaltlose Entscheidung, das praktische Mitmachen zu wer abseits steht, macht sich sofort verdaechtig. Der Nazismus weist also einen aeusserst demokratischen Grundzug auf, insofern er mehr noch als der Volksstaat ueberkommener Praegung tatsaechlich auf die freiwillige Entscheidung des Einzelnen setzt. Diese Freiwilligkeit ist aber diejenige von Unfreien, eine Karikatur von Freiheit, denn ihr gesellschaftlicher Inhalt ist das Paradox einer freien Entscheidung fuer Herrschaft, die Entscheidung, selbst Partikel von Herrschaft zu werden. Der Einzelne opfert bzw. ueberantwortet sich mit Haut und Haar einer "Bewegung", d.h. dem als reine Dynamik sich setzenden Souveraen und bekommt dafuer als dessen Exemplar einen Teil jener Insignien der Macht verliehen, die der Staat monopolisiert hat: Wille, Herrschaft, Freiheit, ueber Leben und Tod anderer befinden. Im Nazismus werden "verblendete, ihrer Subjektivitaet beraubte Menschen als Subjekte losgelassen." (7) Die Parolen der Nazis: das Volk, die Rasse, das Blut wieder in ihr Recht zu setzen, sind kein klar umrissenes Programm, das man diskutieren und dann befolgen oder ablehnen kann, sondern ein Mobilisierungsaufruf, der Appell an jeden einzelnen, sich nach seinen Kraeften fuer unabkoemmlich zu melden, sich zu beweisen, sich nuetzlich zu machen. Das ist der Kern des Gehorsam, ohne Befehl und zugleich die Form, in der die suspendierte Konkurrenz unterm Nazismus wieder aufersteht. Herrschaft vollzieht sich nicht mehr wesentlich ueber Anordnungen, Befehle und Gesetze, sondern gleichsam als Wink, als Blinzeln, das der einzelne zu deuten hat. Was einmal Gesellschaft war, zerfaellt in ein Ensemble von Bandenkaempfen: jeder Einzelne und jede Abteilung des Systems wollen die besten und zuverlaessigsten Nazis sein. Um dieses Praedikat wetteifern alle; das alle Verbindende isoliert sie aber auch von einander, denn ihm zugrunde liegt der universale Verdacht eines jeden gegen jeden, er koenne es nicht ernst genug meinen. Woran die Zuverlaessigkeit gemessen wird, ist der an den Tag gelegte Eifer bei der Identifizierung, Deportation und Vernichtung der "Gegenrasse". Das ist der moerderische Gehalt jener reinen Dynamik, die der Nazismus proklamierte: die gnadenlose Ausmerzung der "Artfremden" als unendlicher Prozess, als entfesselte Raserei, die durch die Konkurrenz, die die deutsche Verfolgergemeinschaft intern bis aufs Messer fuehrte, nicht etwa abgeschwaecht, sondern im Gegenteil noch verstaerkt wurde. Deshalb ist es auch unerheblich, ob jeder Deutsche unterm Nationalsozialismus ueberzeugter, glaeubiger Antisemit war. An das voelkische Brimborium haben vermutlich die wenigsten Deutschen geglaubt ueber den "Blubo" haben sie sich vielmehr lustig genacht. Anders als Kuentzel et al. meinen, handelten die Deutschen eben nicht aus fanatischglaeubigem Judenhass, also als empirische Subjekte, sondern als Staatsbuergersubjekte, deren Kennzeichen gerade die sinistre Faehikeit zur Abstraktion von Gefuehlsregungen wie z.B. Mitleid und Empathie ist und aus dieser Abstraktion jene gleichsam leere und subjektlose Energie beziehen, die sie zur Begehung ihrer Untaten benoetigten: es ist "eine Art dynamischer Idealismus, der die organisierten Raubmoerder beseelt. Sie ziehen aus, um zu pluendern, und machen eine grossartige Ideologie dazu... Da sie aber die Geprellten bleiben, was sie freilich insgeheim schon ahnen, faellt schliesslich ihr erbaermlich rationales Motiv, der Raub, dem die Rationalisierung dienen sollte, ganz fort und diese wird ehrlich wider Willen. Der unerhellte Trieb... ergreift von ihnen ganz Besitz." (8)

Dass die Deutschen aller Klassen und Schichten so bereitwillig auf den nazistischen Mobilisierungsaufruf eingegangen sind, mag mit der bekannten Tatsache zusammenhaengen, dass in Deutschland das buergerliche Subjekt von vornherein als ein von Selbstzweifeln geplagtes und krisengeschuetteltes zur Welt kam. Als Protagonist einer Revolution, die ihm die politische Aufsicht ueber die Akkumulation des Kapitals sicherte, konnte sich der Buerger in England oder Frankreich fuer kurze Zeit tatsaechlich als Subjekt der Geschichte fuehlen und die von ihm durchgesetzte Vergesellschaftung mit einer weitgespannten, optimistischen Zukunftsprojektion verbinden, die noch auf die aufkommende Arbeiterbewegung ausstrahlte. Spaetestens gegen Ende des 19. Jahrhunderts wird es fuer den Buerger dann unabweisbar, dass er die Vergesellschaftung, von der er zweifellos profitiert, keineswegs beherrscht weder als einzelner noch als Klasse - sondern, dass er von einem abstrakt-anonymen Prozess als ein Anhaengsel mitgeschleift wird. Das buergerliche Subjekt sieht sich einer erstarrten Welt gegenueber, in der es keine Angriffspunkte mehr findet. Es moechte die Abstraktion abschuetteln, von der es erschlagen zu werden droht und kontert ihr im Namen einer neuen konkreten Dynamik, heisse diese nun "Leben", "Volk", "Natur" oder wie auch immer. Was anderswo Resultat war, damit hat man in Deutschland begonnen. Als armselige Kreaturen von Gnaden des Souveraens haben die deutschen Buerger die emphatische geschichtliche Tat, die auszufuehren ihnen verwehrt war, dadurch ueberspielt, dass sie eine hoehere und schicksalshafte Macht halluzinierten, als deren selbstlose Diener sie ,sich begriffen. Ueber diesen Weg setzt sich allmaehlich die Vorstellung durch, wonach das eigene Handeln stets nur die "Beschleunigung", "Entbindung", "Forcierung" einer hoeheren Macht darstelle. Das ist die fetischistische Ideologiekritik, die der Buerger an sich selbst vollzieht: er wird seiner eigenen Ohnmacht eingedenk, macht diese aber zur eigenen Sache, indem er sich dem verselbstaendigten objektiven Unheil, nunmehr als krude Natur ideologisiert, entschlossen in die Arme wirft. Das WollenMuessen, d.h. die unmittelbare Identitaet von Freiheit und Zwang, kommt hier endlich ganz unverstellt zum Ausdruck. Und wie die Buerger, so ihre formalen Antagonisten: auch die Sozialdemokraten und spaeter die Parteikommunisten machten, wie bekannt, in positiver Geschichtsmetaphysik. Auch sie glaubten sich stets "mit der neuen Zeit" im Bunde oder der "historischen Notwendigkeit", die ohnehin zur besseren Gesellschaft hinfuehre weswegen ein hellsichtiger Zeitgenosse die SPD einmal als Verein zur Herbeifuehrung einer ohnehin stattfindenden Mondfinsternis bezeichnete.  

Georg Elser: Bombenlegen aus Erfahrung

Offenbar gab es nach 1933 nur einen einzigen, der sich von allem Geschwafel ueber Vorsehung und andere hoehere Maechte gaenzlich unbeeindruckt zeigte: "Nach meiner Ansicht haben sich die Verhaeltnisse in der Arbeiterschaft nach der nationalen Revolution in verschiedener Hinsicht verschlechtert. So z.B. habe ich festgestellt, dass die Loehne niedriger und die Abzuege hoeher wurden... Ferner steht die Arbeiterschaft seit der nationalen Revolution unter einem gewissen Zwang. Der Arbeiter kann z.B. seinen Arbeitsplatz nicht mehr wechseln wie er will, er ist heute durch die HJ nicht mehr Herr seiner Kinder und auch in religioeser Hinsicht kann er sich nicht mehr frei betaetigen... Ich war bereits voriges Jahr um diese Zeit (1938, Anm.) der Ueberzeugung, dass es bei dem Muenchener Abkommen nicht bleibt, dass Deutschland anderen Laendern gegenueber noch weitere Forderungen stellen und sich andere Laender einverleiben wird und dass deshalb ein Krieg unvermeidlich ist." (9) Keine hochherzigen idealistischen Thesen, kein selbstloses und aufopferungsvolles Engagement fuer das Gute, Wahre, Schoene, das Vaterland, die Menschheit, den Kommunismus oder aehnliches Zeug was Johann Georg Elser, der im Buergerbraeuekeller eine Bombe deponierte, um Hitler und seine Kumpane ins verdiente Jenseits zu befoerdern, nach seiner Verhaftung zu Protokoll gab, war alles, was er zur Beuruendung seiner Tat anfuehren konnte. Wie konnte es moeglich sein, dass unter Millionen Wahnsinnigen ein einziger Vernunft zeigte; wie unter Millionen, die sich fuer ihre Unfreiheit entscheiden, ein einziger sich tatsaechlich frei entschied: naemlich dazu, die fuehrenden Nazis zu beseitigen? Nein, man wird bei Elser keine besondere, aussergewoehnliche, vom Durchschnittsbewusstsein seiner Landsleute abweichende Qualitaet, Energie oder Eigenschaft finden, die ihn zu seiner Tat praedestinierte. Dass die Loehne gesunken, der allgemeine Zwang gestiegen und ein Krieg zu erwarten sei, wusste jeder Deutsche. Der verbissene, blinde Eifer, mit dem die Deutschen nichtsdestotrotz sich den Nazis andienten, ist als freiwillige Tat zugleich deren Gegenteil, zwanghafte Willkuer und reflektiert am subjektiven Pol adaequat den Zug des Ganzen, naemlich das Ende der zivilisatorischen Potenz des Kapitals und seinen Umschlag in blinde, tautologische, selbstzweckhafte Raserei wie, sie sich in der Produktion von Ruestung, Volkswagen, Autobahnen und anderen Muell aeusserte, andererseits, in Vernichtung durch Arbeit und schliesslich in die Arbeit der Vernichtung in der Todesfabrik Auschwitz manifestierte. Im selben Masse aber, wie Individuum und Gesellschaft im Zeichen verrueckt gewordener Selbsterhaltung sich enger zusammenschliessen, im selben Masse fallen sie noch krasser auseinander denn je: als verstockt auf sich selbstzurueckgeworfene Subjekthuelse, die flink, wendig und agil genug sein muss, um der Macht jeden Wunsch von den Lippen abzulesen, verliert das Individuurn seine Faehigkeit zur Erfahrung eben des Ganzen, dem es sich permanent so bereitwillig zur Verfuegung stellt. Seine Erfahrungen schmelzen auf Augenblickserlebnisse zusammen, ohne dass sich eine Kontinuitaet des Bewusstseins, noch herausbildete.

Elsers verschroben eigenbroetlerische Zuege; seine Beharrlichkeit, init der er den Lauf der Dinge beobachtete und daraus seine Konsequenz zog, naemlich geduldig und mit Liebe zum Detail seine Bombe bastelte und deponierte, sind die Male derselben verhaerteten Partikularitaet, die die Volksgenossen um ihn herum zu hundertprozentigen Mitmachern werden liess. Aber es bedarf der verhaerteten Partikularitaet auch, um sich ihrer schliesslich zu entwinden. Sie ermoeglicht es, die komplett absurden Und irrenlogischen Appelle von Herrschaft und gegen die Bereitschaft, mit der die ueberwaeltigende Mehrheit ihnen wider alles bessere Wissen Folge leistet - also gegen eine Welt, die sich gegen Vernunft und Menschlichkeit foermlich verschworen zu haben scheint - auf seiner unreglementierten Erfahrung zu insistieren und aus dem unmittelbar Erfahrenen Urteile und Schluesse zu ziehen, es also ins rechte Verhaeltnis setzen ins Verhaeltnis zum Ganzen naemlich: "Die von mir angestellten Betrachtungen zeitigten das Ergebnis, dass die Verhaeltnisse in Deutschland nur durch eine Beseitigung der Fuehrung geaendert werden koennen"( 10) Von Johann Georg Elser und von keinem anderen laesst sich also sagen, dass er im nationalsozialistischen Deutschland tatsaechlich frei gehandelt hat. Dass Elser freilich der einzige war und blieb, der ohne Hintergedanken und strategische Absichten nichts weiter wollte, als die Nazis zu beseitigen und dies auch auszufuehren sich bemuehte diese Tatsache bezeichnet freilich praezise das Verhaeltnis, in dem die Moeglichkeit von Vernunft und Freiheit zu ihrer realen Chance stellt.  

Anmerkungen:

1) Georg Seesslen, Tanz den Adolf Hitler, Berlin 1 9941 S.23

2) Max Horkheimer, Notizen, 19491969, in: ders., Gesammelte Schriften, Band 6, Frankfurt a.M. 1991, S. 404

3) Fuer wie dumm halten Kuentzel et al. eigentlich ihre Leser, wenn sie es an derselben Stelle fertigbringen, Bruhn als "Verteidiger der 'eigentlichen' Intentionen von Christian R. "vorzufuehren und ein paar Zeilen weiter ein Zitat von Bruhn zu bringen, in der dieser so explizit, wie man es sich nur wuenschen kann, gegen genau diese Spaltung von rassistischer Handlungsform und "eigentlich" guter Protestenergie Stellung bezieht?

4) Ulrike Becker u.a., Goldhagen und die deutsche Linke, Berlin 1997, S. 90

5) ebenda, S. 88

6) Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a.M. 1966, S. 306f.

7) Max Horkheimer/TheodorW. Adorno, Dialektik der Aufklaerung, Frankfurt a.M. 1971, SA 53

8) ebenda, S. 154 (Hvhb. cl.)

9) Anton Hoch/Lothar Gruchmann: Georg Elser. Der Attentaeter aus dem Volke, Frankfurt a.M. 1980, S. 98f.

10) ebenda, S.100

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