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Das aktuelle Dokument zur Krise der autonomen Linken

INTERIM MEETS RADIKAL

"Wir begreifen uns als Versuch, uns bundesweit zu vernetzen"

06/99
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Vor 4 Jahren, am 13. Juni 1995 versuchte die Bundesanwaltschaft, mit einem bundesweiten Schlag, die Struktur der radikal zu zerschlagen und ihr Erscheinen zu verhindern. Die BAW scheiterte, die Mehrzahl der Ver fahren wurde eingestellt. In zwei Broschüren haben mittlerweile ehemalige radikal-Mitarbeiterinnen ihre Einschätzung veröffentlicht und gleichzeitig ihren Ausstieg aus dem Projekt erklärt. Im vergangenen Sommer erschien die bisher einzige radikal der "dritten Generation", seitdem war von dem Projekt nichts mehr zu hören. INTERIM meets radikal: Das folgende ist ein Streitgespräch zwischen einigen Leuten der INTERIM und einem Zusammenhang der radi.

INTERIM: Die radikal erscheint derzeit nur noch sporadisch. Auf welchem Stand befindet sich die Zeitung?

RADIKAL: Es war nicht unsere Absicht, nur einmal im Jahr zu erscheinen. Erstens ist das das Ergebnis dessen, daß ein großer Teil von Leuten nicht mehr dabei ist, und Ergebnis der Repression. Die Bullen haben die Struktur in Teilen kaputt gemacht.

Problematisch daran, nur alle Jubeljahre zu erscheinen, ist, daß wir keine aktuellen Diskussionen aufgreifen können. Wir sind ständig am Nachhecheln, die Planung für eine nächste Nummer hat zum Beispiel lange begonnen, bevor die NATO anfing, Jugoslawien zu bombardieren. Eigentlich hätten wir jetzt alles umschmeißen und was ganz anderes machen müssen. Aber da wir um klandestine Organisation nicht rumkommen, ist der Aurwand beim Umplanen immer sehr groß und die Arbeit wird sehr schwer und starr.

INTERIM: Welchen Sinn macht denn eine Zeitung noch, die nur einmal im Jahr erscheint?

RADIKAL: Wenn es keine Perspektive gäbe, daß wir wieder häufiger erscheinen, dann würde es überhaupt keinen Sinn machen. Dann sind Diskussionen wesentlich sinnvoller in anderen Medien, etwa in Eurem Projekt, aufgehoben.

INTERIM: Bei Euch gab es ja auch die Diskussion, ob Ihr nicht viel mehr eine Struktur, eine politisch militante Vernetzung seid oder ein reines radikales Zeitungsprojekt. Wohin hat sich in dieser Diskussion die Waage geneigt?

RADIKAL: Auf jeden Fall in Richtung: Mehr als eine Zeitung.Wir begreifen uns als Versuch, sich über eine lokale Ebene hinaus bundesweit zu vernetzen. Perspektivisch wollen wir diese Vernetzung für mehr als nur für eine Zeitung nutzen. Diese kontroverse Diskussion ist im Projekt eine sehr alte. Gerade weil sich an ihr zeigt, wie schwierig es ist, eine Struktur des Informationsaustausch, der Diskussion aufzubauen, in der eine gewisse Verbindlichkeit gilt - und das eben nicht nur auf eine Zeitung bezogen.

INTERIM: Die Organisierungsdebatte schwankt schon seit Anfang der 90er Jahre zwischen zwei Polen, etwa spontaneistischen Autonomen, die überregionale Organisierung komplett ablehnen und einem Antifa-Flügel, der sich in der AA/BO organisiert hat. Ihr seid so gesehen auch eine bundesweite Organisation. Aus der Praxis, auch und gerade unter Euren Bedingungen: macht eine bundesweite Organisation Sinn?

RADIKAL: Es wird wieder Bedingungen geben, die von der radikalen Linken erst geschaffen werden müssen, in der die bundesweite Organisierung, ein größerer Zusammenhang, der nicht nur vereinzelt

vor sich hin darbt, einen ganz anderen Sinn macht. Irgendwann kann auch wieder eine Situation sein, in der die Machtfrage - hochgegriffen - gestellt werden kann, eine Situation, in der zumindest ein gewisser Einfluß, den die radikale Linke verloren hat, wieder zurückgewonnen wird. Wir müssen wieder politisch präsenter sein - und das setzt eine gewisse Art von Struktur voraus, die Auseinandersetzungen und Diskussionen wieder viel ernster nimmt. Es kommt also auf die eigenen Utopien an.

INTERIM: In den Auswertungen nach der Repression haben alte radikal-Mitarbeiterinnen immer wieder beklagt, daß sich die Struktur verselbständigt hat. War da zuviel an Struktur bei zu wenig Inhalt? Oder war die Struktur noch nicht gut genug organisiert? Welche Lehren habt Ihr gezogen?

RADIKAL: In einer der letzten Interims wurde das Papier der Gruppe Y2K veröffentlicht mit Fragen dazu: inwieweit ist/war diese Struktur ein soziales Gefüge? Diese Frage beantwortet sich aus den Aufarbeitungspapieren selbst, in dem dazu nichts drin steht. Eine soziale Struktur war großteils nicht vorhanden. Darauf wollen wir beim Neuaufbau solcher Strukturen achten. Schnell überfordern sich Gruppen und Kleingruppen, überlastet mit der Tatsache, in solcher Klandestinität irgendwas zu machen.Wir brauchen Strukturen, die so etwas auffangen können. Das Scheitern ist angelegt, wenn man nur noch durchpowert, es nicht mehr möglich ist, zu sagen: Ich kann nicht mehr, es wächst mir über den Kopf. Wir leben in einer Gesellschaft, in der kollektives Arbeiten und kollektives Leben - Sprengel in Hannover beispielsweise oder Marchstraße in Berlin - sich auch in unseren Bereichen immer mehr auflösen. Es fällt immer schwerer da etwas entgegenzusetzen, aber daran müssen wir arbeiten. Und das geht über die Organisierung einer Zeitung hinaus.

INTERIM: Die Gesellschaft hat sich in den vergangenen Jahren verändert, die Lohnarbeitsbedingungen, das Wohnumfeld. Der Druck, sich in das gesellschaftliche System einzupassen und zu funktionieren, ist auf allen Ebenen gewachsen und damit sind auch die Spielräume für linksradikale Politik kleiner geworden. Deshalb klingt das, was Ihr sagt aktuell und anachronistisch zugleich. In welchem Verhältnis stehen verbesserte politische Strukturen und die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen?

RADIKAL: Es gibt so viele Versuche zu analysieren, warum die radikale Linke keine Bedeutung mehr hat. Jenseits des großen Gejammers bleibt dabei stets stehen: der Sozialismus ist tot als Alternative. Wenn das die Erkenntnis sein soll, brauche ich mich nicht mehr zu bewegen. Es stimmt, daß der Druck größer wird, auch die Ängste. Aber das liegt doch auch gerade dran, daß der soziale Rückhalt verloren geht. Deshalb müssen wir uns darauf konzentrieren, unsere eigenen Utopien zu leben. Und dazu gehört auch die Kollektivität. Wir müssen deshalb nicht alle wieder in Fabriketagen ziehen. Es kommt auch darauf an, den eigenen Anteil am Nichtfunktionieren von Kollektivität zu überprüfen und politisch damit umzugehen. Das gilt auch für unser Projekt, Euer Projekt und auch für jede/n Einzelnen.

INTERIM: Aber da greifen doch viele Ansätze zu kurz. Was früher die linksradikale Druckerin im Kollektiv war, ist doch heute vielleicht der Multimediaprofi, der alleine für sich wurschtelt aber fähig ist, mit anderen, die informell aktiv sind, zusammenzuarbeiten. Mit der alten Vorstellung von viel Zeit und immer alles gemeinsam schließt mensch heute doch auch viele Leute aus. Außerdem vernachlässigt Ihr ja die realen Weiterentwicklungen des realexistierenden Kapitalismus. Insofern, als der realexistierende Sozialismus nicht mehr als externes Korrektiv existiert und den Kapitalismus zwingt, sich als besseres Modell zu präsentieren. Da zieht der Rückbau sozialer Sicherung noch an. Die Konsequenzen spiegeln sich bei den kollektiven Projekten wieder, und da nur auf erhöhte Kollektivität zu setzen, klingt falsch.

RADIKAL: Ja, aber dem Rückbau wird nichts entgegengesetzt. Kapitalistische Umstrukturierung setzt uns unter Druck. Angesichts solch einer Entwicklung müssen wir uns fragen, wie kann ich widerständig überleben, ohne mich dem Druck ganz zu beugen. In einem sozialen Gefüge geht das bessere als alleine. Die Interim macht doch auch nicht nur für die Leute Sinn, die ein Forum für Ihre Beiträge haben. Der Sinn liegt doch auch darin, daß die Leute, die beteiligt sind, eine Zufriedenheit spüren, etwas Gemeinsames zu produzieren, Auseinandersetzungen zu führen, gemeinsam in Auseinandersetzungen zu stehen, Veränderungen zu besprechen. Es wird nur dann frustrierend, wenn bei Euch nur noch Streit, Spaltungen dominieren und Leute aufhören, wenn sich nur noch zehn einzelne Leute alle vier Wochen treffen, um Organisatorisches zu klären. Dann setzt mensch dem reinen Funktionieren dieses Scheißsytems gar nichts mehr entgegen. Dem, was mensch mit dem Projekt Zeitungsmachen an Utopien umsetzen könntest, dem gäbest Du dann schon gar keinen Raum mehr.

INTERIM: Wenn man Schülerinnen in Berlin oder Dresden erzählt, "Gib Dich voll in ein Kollektiv rein, in den politischen Prozeß und wir sind einen Schritt weiter zu einer besseren Gesellschaft" dann stimmt das zwar, aber hat kaum eine Anziehungskraft. Das ist doch von deren Alltag Lichtjahre entfernt. Viele Leute haben sich auch von der radikalen Linken verabschiedet, weil sie nicht mehr das soziale Gefüge ist, das sie mal war. Andere nehmen das als Ausrede dafür, sich von der Politik zu verabschieden, weil die Sturm- und Drangphase eben vorbei ist und es nicht mehr in ist, linksradikal zu sein. Das stimmt, aber es sagt auch was darüber aus, wie attraktiv wir für die Leute sind - oder eben nicht. Was Ihr sagt heißt doch: entweder Du gehst ganz in der Kollektivität auf, klebst vormittags Plakate, bist abends auf dem Plenum, oder Du fällst raus und diskutierst nur noch abends mit dem Freund oder der Freundin am Küchentisch die neuesten Kriegsnews. Und dazwischen gibt es nichts.

RADIKAL: Es gibt doch sehr viele Zwischenformen zwischen gar nichts und Eurem Angstgespenst. Das ist nicht der Anspruch. Es geht darum, Kollektivität wieder als politischen Wert zu begreifen. Der normale Szenemensch geht heute doch 30 oder 40 Stunden arbeiten, lebt in der Zweierkiste, trifft ab und an in der Kneipe Freunde aus Politzeiten,... Die Tendenz geht zum isolierten Anti-Kollektivstil. Und wir müssen fragen: Wie können wir dem etwas entgegensetzen. Zu Euren Schülerinnen in Berlin und Dresden: früher war es uns in dem Alter doch wichtig, was anderes zu finden, Bestätigung zu erfahren, Gemeinsamkeit, Alternativen. Jenseits der ganzen Zerfleischung in gescheiterten Projekten wollen wir doch über unsere Projekte attraktive Alternativen aufzeigen. Und es ist zu einfach zu sagen, die politischen Rahmenbedingungen werden immer schlechter.

INTERIM: Einverstanden. Aber man muß doch feststellen, daß die Jüngeren nicht gerade in Massen in die Kollektive stürzen. Das hat doch auch Gründe jenseits der eigenen Veränderung. Und eine zweite Frage wäre, warum statt der Kollektive die ganzen Jugend-Antifagruppen einen solchen Zulauf haben. Das kollektive Wehren gegen die gesellschaftliche Zustände, angefangen vom Kampf gegen die Faschisten, hat offensichtlich mehr Attraktität. Das Konkrete statt des Utopischen.

RADIKAL: Es geht doch auch nicht darum, einfach unverändert weiterzumachen. Aber nur weil das eine nicht funktioniert, heißt das doch nicht, das das Gegenteil richtig ist. Das Gleiche hast Du doch auch mit der Anti-Sexismus-Diskussion. Das kippt jetzt einfach alles um. Deshalb waren doch die anti-patriachalen Analysen nicht falsch.

INTERIM: Die Erkenntnisse sind sicher nicht falsch, nur weil sich das Drumherum geändert hat. Aber der Umgang, die Vermittlung muß sich ändern. Nicht die antipatriarchale Analyse ist falsch. Doch es bewegt wenig, griesgrämigr verharrt zu bleiben angesichts dessen, daß es offensichtlich wieder ist, sexistische Sprüche zu machen sexistisches Verhalten an den Tag zu legen. Wie erreichen wir andere Leute? Wie überzeugen wir sie ewa von antipatriarchalen Inhalten? In der Szene ist es doch weitverbreitet, die Wahrheit mit Löffeln gefressen zu haben, das arrogant zu zelebrieren und sich nicht zu bewegen. Was für eine Ausstrahlung hat denn das?

RADIKAL: Sicher, damit wollen wir auch nichts zu tun haben. Es geht uns um eine positive Ausstrahlung. Und die geben immer noch viele Kollektive. Politische und persönliche Gemeinsamkeit, Ideale.

INTERIM: Nach alle dem, was m, von Euch gelesen hat, war bei Euch in der radikal ja das Gegenteil der Fall. Ihr habt Euch ja teilweise gut zerfleischt. Es gab lange nicht mal die Offenheit, die aufgetauchten Fehler zu besprechen, vieles kam erst über den Umweg Akten raus. Mit Offenheit hatte das nichts zu tun, wie Ihr selbst schon schriftlich niedergeschrieben habt. Was zieht Ihr daraus?

RADIKAL: In Zukunft stellen wir persönlich uns vor, daß es in vielen verschiedenen Städten Gruppeni gibt, die aus mehr als nur ein-zwei-drei Personen bestehen und für es das wichtigste ist, zusammen politische Arbeit zu leisten. Das heißt Diskussionen vorzubereiten, in Diskussionen einzugreifen und natürlich auch das Zeitungsmachen. Und für die Zukunft setzen wir auf ein größeres Bewußtsein dafür, wann sich Hierarchien ausbilden. Zum Beispiel zwischen Städten, die größer sind und denen die klein sind. Frankfurt, Hamburg, Berlin etwa bilden schnell einen Kern gegenüber Städten wie Bamberg, Bayreuth, Castrop-Rauxel oder Winsen an der Luhe. In den großen Städten organisiert man sich in diesem Land einfach besser. Wir müssen den Versuch machen, solche Hierarchien möglichst klein zu halten. Auch um die gemachten Fehler nicht zu wiederholen. Wie schnell passiert es, daß jemanden mit dem Anspruch aus "den großen Metropolen" einfach überfordert ist. Klandestines Arbeiten ist in den Großstädten einfacher, das haben wir nicht genug bedacht. Dort ist der Austausch, der Rückhalt, auch die soziale und politische Kontrolle innerhalb gegeben. Unsere künftige Struktur muß auf stabileren Beinen und auf sozialeren Beinen stehen.

INTERIM: In Eurer Aufarbeitung haben ehemalige aus der radikal gesagt, daß früher die Weitergabe von Informationen sehr breit gehandhabt wurde. Papiere sehr weit verbreitet wurden und daß sei Euch auf die Füße gefallen. Wie wollt Ihr künftig damit umgehen? Arbeitsteiliger vorgehen, Spezialistinnentum?

RADIKAL: Im Moment ist die Basis für Spezialistinnentum gar nicht groß genug. Im Moment sind alle Spezialistinnen. Diese Einschätzung, daß Papiere zu weit rum gegangen sind, wurde von einigen innerhalb des Projektes radikal formuliert. Das ist die Einschätzung einer kleinen Fraktion. Es sind einfach viele unsinnige Papiere rumgegangen. Es ist absolut maßgeblich, wenn ein inhaltlicher Schwerpunkt gemacht wird, daß die anderen davon wissen. Nur so klappt die Auseinandersetzung. Überflüssig sind allerdings Informationen darüber, welche Probleme es gerade mit dem Drucken gegeben hat. Man muß auch nicht mit 20 Leuten über die Papierart diskutieren. Die Bullen sind am 13.6. zwar über Fehler, aber eigentlich mehr durch einen dummen Zufall an die Struktur rangekommen. Nicht über die Organisation der Technik. Die Diskussion, die wir führen müssen, heißt also nicht: wie ändere ich die Technik, damit die Bullen nicht ran kommen. Die Frage ist vielmehr: wie gehen wir damit um, daß gerade in Zeiten der aktuellen Produktion der Streß größer wird? Machen wir uns gegenseitig an? Oder nehmen wir uns das Recht heraus, Treffen lang nur zusammenzusitzen, Spaß zu haben und über Fußballergebnisse zu reden? Das ist für mich die Qualität, die so ein Projekt ausmacht. Um etwas zu verändern, brauche ich einen entsprechenden gefühlsmäßigen Hintergrund.

INTERIM: Nach der Repression war unklar, wie es mit der Radi weitergehen würde. Dann kam die neue Nummer - in Anlehnung an linke Tradition könnte man sagen: Neue Folge, Nummer 155, praktisch die "dritte Generation". Wie war denn die Reaktion darauf?

RADIKAL: Vor allen Dingen erstmal die Überaschung "ach, die gibt's ja noch", "hätten wir ja gar nicht mit gerechnet". Die Zuschriften waren großteils "schön, daß es Euch noch gibt" und das hat uns sehr gefreut. Persönlich muß ich aber sagen, daß mir die Nummer überhaupt nicht gefallen hat. Weder ein roter Faden zu entdecken, noch eine inhaltliche Tiefe. Es ist immer wieder frustrierend, wie wenig auf Diskussionen, die in anderen Publikationen, in Broschüren, in den diversen Gruppen geführt werden, eingegangen wird. Etwa ein Text in der letzten Ausgabe zur Militanz - man hat den Eindruck, der Text nimmt überhaupt keinen Bezug auf Diskussionen der letzten zwei-drei Jahre im Zusammenhang mit K.O.M.I.T.E.E. oder der Kabelschnittkombo aus Frankfurt/ Main. Dann braucht man sich über eine gewisse Isolation nicht zu wundern. Momentan sind wir noch in der Wiederaufbauphase. Wir wollen das Projekt auf Beine stellen, die es auch längerfristig tragen können. Und dabei sind die Rückschläge eher größer als die Fortschritte.

INTERIM: Auch was die Bullen angeht?

RADIKAL: Nein da nicht, da haben wir Ruhe. Aber in dieser Phase haben wir überlegt, lassen wir jetzt einfach wieder über Ewigkeiten gar nichts mehr von uns hören. Mit dem Effekt, daß die Attraktivität für andere Gruppen, auch einzusteigen nicht gerade steigt. Oder teilen wir unseren Stand mit und kommen in absehbarer Zeit mit einer kleinen unaufwendigen Nummer raus?

INTERIM: Es gab lange die These, die Radi sei gar nicht mehr gelesen worden, bis die Bullen kostenlose Werbung gemacht haben. Das ist etwas polemisch, aber ein Kern ist damit schon getroffen. Die Zeitung hat ihr Gesicht seitl986/87 wenig verändert. Und damit meinen wir nicht (nur) das Layout. Auch inhaltlich spiegeln sich die epochalen Umbrüche gerade auch in der radikalen Linken - mit der Auflösung von RAF und RZ etc. - nicht in dem Maße in der Radi wieder...

RADIKAL: Die Analyse stimmt. Das läßt sich ja auch in den Auswertungspapieren nachlesen: es hatte sich eine Erstarrung eingeschlichen. Sowohl inhaltlich als auch strukturell, was es den Bullen übrigens auch leicht gemacht hat. Deshalb kommt es ja jetzt gerade darauf an, Auseinandersetzungen in unserer unzensierten Struktur zu führen,Teil der stattfindenden Diskussionen zu sein, und darüberhinaus Multiplikator. Wir wollen Gruppen, wie zum Beispiel den Verfasserinnen des "Y2K"-Papiers ein Forum bieten. In der Zeitung sollen Frage diskutiert werden wie: Wie ist es möglich, wieder eine Gegenmacht zu bilden? Wir wollen nach vorne gerichtete, den veränderten Rahmenbedingungen entsprechende Debatten führen, diesen veränderten Rahmenbedingungen auf den Grund gehen. Jobberinitiativen oder Arbeitsloseninis etwa sind an der Frage schon weiter. Da gehören auch Fragen dazu wie die, ob die Entwicklung tatsächlich auf amerikanische Verhältnisse rausläuft, und was vor diesem Hintergrund Begriffe wie Kollektivität, soziales Netz bedeuten können.

INTERIM: Also auch wieder mehr Gesellschaftschaftsanalyse? Ihr habt ja sehr stark die Szene wiedergespiegelt, autonome Aktionen, viele kleine Antifa-Geschichten, Militanzdebatte. Dann habt Ihr Euch irgendwann etwas geöffnet, beispielsweise bei "Gegen das Vergessen "oder zum Thema Computer. Das waren Sachen, die nach unserer Meinung auf das größte Interesse gestoßen sind.

RADIKAL: Für einen Teil der Struktur ist das der Weg, den wir gehen wollen. "Gegen das Vergessen" hat für uns eine Richtung vorgegeben. Das war das letzte mal in der Radi, daß etwas eine größere Relevanz gehabt hat. Ende der 80er Jahre gab es einen relativ homogenen Haufen, der sich autonome Szene genannt hat. So etwas wie Szene, auf die sich die radi früher gestützt hat, gibt es jetzt gar nicht mehr. Die Auflösungsprozesse der Radi sind Ergebnis der Auflösungsprozesse der autonomen Szene. Insofern wäre es absurd an einem Konzept der Nabelschau festzuhalten. Das wäre der Schritt in die Selbstisolierung. Und das wäre genau der falsche.

INTERIM: Es machte immer den Eindruck, Ihr wärt recht weit weg von der Antifabewegung. Ihr habt zwar viel gemacht zur AA/BO-Debatte und der Organisierungsfrage, aber das blieb eine sehr theoretische Diskussion. Viel näher wart Ihr an den klassischen Autonomen. Sehen wir diese Distanz richtig?

RADIKAL: Ja, das seht ihr wohl richtig.

INTERIM: Mit der Nähe zu den Autonomen wart Ihr teilweise an dem dran, was die radikale Linke interessiert hat, beispielsweise bei Anti-Atomsachen oder bei Debatten um die RAF. Seit Jahren aber verschiebt sich das Gewicht immer mehr hin zur Antifa. Und wie vorhin schon gestreift: dorthin zieht es die Jüngeren, die auf der Straße aktiv sein wollen. Dort finden aktuelle gesellschaftliche Auseinandersetzungen in großem Maßstab statt. Wollt Ihr an das, was passiert auch wieder näher ran? Ändert sich die Zeitung?

RADIKAL: Ich denke auch wir kommen daran nicht vorbei, daß gerade im Antifabereich eine noch relativ große Mobilisierungsfähigkeit vorhanden ist. Für viele von uns greift der Antifabereich aber viel zu kurz und das werden wir in Zukunft sicherlich zu thematisieren versuchen, nicht in der Form der bekannten Überheblichkeit von wegen wir wissen wo es lang geht. Die Entwicklung des Antifakampfes ist eben an vielen Orten die eines reinen Abwehrkampfes und sollte nicht unkommentiert bleiben und es ist zu vermuten, daß an tragfähigen sozialen Strukturen, in denen herrschaftsfreie Lebensversuche sich ausbreiten können, nicht viel übrig bleiben wird.

INTERIM: Wäre es nicht Aufgabe der radikal, zu brennenden politischen Themen wie jetzt dem Krieg konkret zu mobilisieren, den illegalen Spielraum auszunutzen? Konkret zu Aktionen zu mobilisieren, Bauanleitungen zu veröffentlichen usw.? Und das ganze möglichst umgehend, zur Not auch mit etwas weniger umfassenden Nummern? Debattiert ihr in die Richtung?

RADIKAL: Wie weiter oben schon mal gesagt stehen wir vor einem strukturellen Problem und je kleiner unsere personelle Basis ist, desto schwieriger wird auch das Reagieren auf aktuelle Geschehnisse. Unsere Vorstellungen gehen sicher in diese Richtung und was für uns klar ist, ist, wir werden unsere versteckte Struktur auch weiterhin nutzen um die Sachen, die sonst keinen Platz finden, zu veröffentlichen. Ein ganz wichtiger Punkt sind dabei Bastelanleitungen, die so einfach zu handhaben sind, daß ein Nachbau bzw. Nachmachen nicht nur von Spezialistinnen leistbar ist. Dies hat schon immer ein Stück radikal ausgemacht und in Bezug darauf werden wir diese Tradition fortsetzen. Ansonsten wird viel von unseren personellen, strukturellen, sozialen und natürlich auch finanziellen (!!) Möglichkeiten abhängen.

INTERIM: Wird die nächste radikal eine Nummer sein, wo unklar ist, wie es weitergeht, oder ist klar: das ist die Nummer vor der nächsten Nummer? Und die dann hoffentlich früher als ein Jahr später erscheint...

RADIKAL: Es wird dann die Nummer sein vor der Situation, daß die Basis größer geworden ist (Lachen)

INTERIM: Also zieht Ihr nach der nächsten Nummer so etwas wie ein Resümee mit der Absicht, Euch zu erweitern, und wenn daraus nichts wird, dann macht Ihr auch nicht weiter?

RADIKAL: Wenn die Basis nicht breiter wird, dann wird es nicht mehr viele Nummern geben, aber so weit sind wir noch lange nicht. Deswegen gilt auch weiterhin, lebt, lest und kauft die radikal! INTERIM: Wir danken euch für dieses Gespräch!

die interim 477 / 1999

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