Editorial
Corona, Corona, Corona

von Karl-Heinz Schubert

06/2020

trend
onlinezeitung

"Der Ausnahmefall offenbart das Wesen der staatlichen Autorität am klarsten.
Hier sondert sich die Entscheidung von der Rechtsnorm, und (...)
die Autorität beweist, dass sie, um Recht zu schaffen,
nicht Recht zu haben braucht."

Carl Schmitt*

In den letzten drei Ausgaben veröffentlichten wir - teils in Rubriken zusammengefasst wie z.B. Corona und die Linke oder Frankreich im "sanitären Ausnahmezustand" von ca. 180 Artikeln rund ein Drittel zu Corona & Folgen. Was dieses Verhältnis anbelangt, so unterscheidet sich TREND kaum vom Durchschnitt der Berichterstattung in den bürgerlichen Medien, von deren Themen wir letztlich abhängen, auch wenn wir diese mit einer politisch grundsätzlich anderen Position behandeln. Insofern erweist sich hierdurch auch, dass es dem bürgerlichen Mainstream mit seiner Deutungshoheit gelungen ist, die sich vor dem Ausbruch der Pandemie bereits abzeichnende ökonomische Krise des globalisierten Kapitalismus in eine "Corona-Krise" umzudichten.

Unter dem Diktum, die "Volks"gesundheit zu schützen, begann im März das politische Personal der herrschenden Klasse mit dem Umbau der demokratischen Strukturen in autoritäre - beginnend mit der Selbstentmachtung der Parlamente und der Einschränkung der individuellen,  sogenannten bürgerlichen Freiheitsrechte, begleitet von allerei Rechtsakten zur Sicherung der Verwertungsbedingungen des Kapitals (siehe dazu: https://lexcorona.de/doku.php). Die "Dritte Gewalt" war bisher von diesen Strukturveränderungen nur marginal, aber nicht substantiell betroffen.

Sowohl die Milieu-Linke als auch die Klassen-Linke waren auf diese Entwicklung weder theoretisch noch politisch vorbereitet, obgleich dies möglich gewesen wäre. So war es nicht verwunderlich, dass sich der Widerstand als erstes bei wenigen Einzelnen regte, die aus der liberalen Mitte der bürgerlichen Gesellschaft kommend, aufgrund ihrer "Klassen"interessen besonders sensibel auf den autoritären Umbau des Staates reagierten, wobei denen allerdings der Zusammenhang zwischen dem Ausnahmezustand und den Verwertungsbedingungen des Kapitals schnurzpiepe ist.

Als in den 1960er Jahren die Pläne reiften, die BRD in einen NATO-"Notstandsstaat" für revanchistische Zwecke zu transformieren, gelang es der außerparlamentarischen Linken (ab 1956 illegalisierte KPD, SDS, Falken, Friedensbewegung - Ban the Bomb!) eine breite demokratische Front gegen die 1968 verabschiedeten Notstandsgesetze der Großen Koalition - CDU/CSU & SPD, 1966-69 - also gegen die Parteien zu schmieden, die heute wieder zusammen regieren und erneut die Hand an demokratische Strukturen legen. Damals wurde ein breites Bündnis möglich, weil die linken Akteure bereit waren, sich mit liberalen Kräften gegen die Notstandspläne zu verbünden, ohne von ihnen zu verlangen, die Kapitalismuskritik der Linken im gemeinsamen demokratischen Kampf zu übernehmen.

Obgleich die damalige Lage der Linken ebenfalls von einem ideologisch-politisch vermittelten Zirkelwesen geprägt war und die Zirkel zudem durch den Antikommunismus als Staatsdoktrin  gesamtgesellschaftlich schroff isoliert wurden, waren sie zu klassenübergreifenden Bündnissen subjektiv fähig. Heute ist dies nicht der Fall, weil im Vergleich zu den 1960er Jahren ein qualitativer Unterschied existiert: Die Spaltung zwischen Milieu- und Klassenlinken, was sie zur überwiegenden Beschäftigung mit sich selbst anhält.  Der Begriff von der Patchwork-Linken, der gern zur Beschreibung des heutigen Zirkelwesens benutzt wird, lässt hingegen diesen prinzipiellen Riss, der das heutige Zirkelwesen charakterisiert, assoziativ verschwinden. Unter dieser selbstverschuldeten Bedingung waren die linken Zirkel jedenfalls bei Ausbruch der "Corona-Krise" nicht in der Lage, gemeinsam auf diese liberalen Kräfte zuzugehen.

Die ebenfalls aus der Mitte der Gesellschaft kommenden, an ihrem rechten Rand agierenden  parlamentarischen Kräfte (AFD) und vor allem die mit ihr assoziierten Rechtsextremen und Faschisten hatten von daher im Gegensatz zur Linken taktisch überhaupt keine Schwierigkeiten, sich den lokalen Minigrüppchen aus dem liberalen Lager anzuschließen. Sie begannen zunächst die öffentlichen Proteste mit ihren Gefolgsleuten personell zu dominieren und in einem zweiten Schritt, nachdem sie die Mehrheit stellten, das politisch-ideologische Profil zu prägen.

Das herrschende politische Personal, ihre NGO's und die sie unterstützenden Medien reagierten darauf postwendend uni sono: Sie schlugen den Sack und meinten den Esel, indem sie deren öffentliche Proteste als "Hygiene-Demos"  durchgeknallter "Verschwörungstheoretiker" diffamierten, um mithilfe dieser Zuschreibungen von den eigenen Absichten und Handlungen abzulenken. Diese Zuschreibungen übernahmen viele linke Zirkel, um damit ihren selbstverschuldeten begrenzten politischen Handlungsspielraum im Kampf gegen den Umbau der BRD in eine autoritäre Demokratie zu kaschieren.

In der Mai-Ausgabe von TREND veröffentlichten wir zwei Artikel, an denen sich der aktuelle Diskussionsstand der Linken im Hinblick auf politische Interventionen in der "Corona-Krise" exemplarisch nachvollziehen lässt:

In ihrem Beitrag "Das Querfront-Virus" widmen sich Markus Lehner und Wilhelm Schulz von der Gruppe ArbeiterInnenmacht den öffentlichen Auftritten der bürgerlich-liberalen Kräfte zusammen mit dem rechtem Gesindel.  Sie ziehen daraus folgenden Schluss: 

"Auch die Tatsache, dass jetzt viele „normale Menschen“, viele „Betroffene“ da sind, die doch „nicht alles Nazis“ sein können, macht die Sache nicht besser. Im Gegenteil – unter den gegebenen Kräfteverhältnissen können solche Mobilisierungen nur in die Hände der Rechten spielen."  

Daher kann die Antwort für die Genossen Lehner und Schulz nur lauten:

"Es ist daher mehr als angebracht, sich entschieden gegen diese rechten Mobilisierungen zu stellen."

Woraus sich für sie als Klassen-Linke folgende Conclusio ergibt:

"Eine solche, wirksame und reale klassenkämpferische Politik gegen Regierung und Kapital ist ohne Kapitalismuskritik und ohne unzweideutige Abgrenzung gegen eine rechte Scheinopposition nicht möglich."

Mal abgesehen davon, dass die außerparlamentarische Linke aufgrund ihres desolaten Zustands sowie mangels Masse zu einer solchen Politik praktisch gar nicht fähig ist, wiegt das Manko, dass ihr dafür die theoretischen Voraussetzungen fehlen noch viel schwerer. Dies gilt besonders für den Beitrag der beiden Genossen. Die taktische Überlegung, mit dieser "Ansammlung aus LinksreformistInnen, AltstalinistInnen oder kleinbürgerlichen SelbstdarstellerInnen" zu einer gemeinsamen Plattform für den Kampf um demokratische Rechte zu kommen, gehört nicht zu ihrem politischen Repertoir. Die Erklärung dafür liefert wie so oft der ideologische Steinbruch "Geschichte der Arbeiter*innenbewegung", in dem die beiden Genossen ihre eigene Nische haben, um sich dort mit Totschlag-Argumenten zu munitionieren: der Volksentscheid zum Sturz der preußischen Regierung 1931 und der Streik der Berliner Verkehrsbetriebe 1932. Klassenanalyse der Verhältnisse des "Hier und Jetzt" für eine Bestimmung der Widersprüche mit ihren Neben- und Hauptseiten als Voraussetzung einer revolutionär-sozialistischen Politik auf wissenschaftlicher Grundlage: Fehlanzeige!

Der Beitrag "Unsere Aufgaben im Kampf gegen die faschistische Demagogie" der Genoss*innen vom Kommunistischen Aufbau hebt sich von solch einer selbstgefälligen Ignoranz wohltuend ab.

Zunächst wird festgestellt, warum es in den seit Wochen anhaltenden öffentlichen Events gegen die Einschränkung der Grundrechte rechten und faschistischen Kräften gelingen konnte, diese unangefochten politisch-ideologisch zu dominieren:

"Die explosionsartige Entwicklung der Hygienedemos müssen wir uns vor allem selbst anlasten, weil es uns nicht gelungen ist, einen ausreichend großen Widerstandspol gegen die staatlichen Einschränkungen zu schaffen, konnten faschistische Demagogen diese Lücke scheinbar füllen."

Diese Genoss*innen haben zumindest ein Gespür dafür, die Fehler auch bei sich selbst zu suchen, um unter solchen Voraussetzungen trotzdem wieder politikfähig werden können:

"Wir haben keinen ausreichenden Überblick über alle Hygiene-Demos und ihre ideologischen Zwillingsgeschwister, um abzuschätzen, wo es richtig wäre, an derartigen Aktionen teilzunehmen, um demagogische Inhalte offensiv zu bekämpfen und ihnen den Standpunkt der ArbeiterInnenklasse und der Revolution entgegen zu setzen."

Aus diesen Einschätzungen leiten sie drei "Aufgaben gegenüber der momentanen Bewegung der Hygienedemos" ab, die sie mit folgendem Fazit abschließen:

"Wenn nicht nur die Rechten, sondern auch wir diese Krise als Chance ergreifen wollen, dann müssen wir in die offene politische Konfrontation gehen. Dann dürfen wir nicht einen Teil unserer Klasse den Faschisten und ihrer Demagogie überlassen!"

Im Vorwort zu ihrem theoretischen Organ "Kommunismus" Nr. 13 / 2018  schreiben sie, daß sich Programm, Strategie und Taktik "nicht auf Glauben, Wünsche, Vorurteile und Dogmen, sondern auf Wissenschaft gründen müssen". Leider ist in ihrem Beitrag davon nichts zu bemerken. Dies ist insofern fatal, als der jetzige Ausnahmezustand zwar alle betrifft, aber entsprechend der Klassenstruktur und den politischen Kräfteverhältnissen ungleich wirkt. Gleichwohl vermittelt der Staat als ideeller Gesamtkapitalist den Ausnahmezustand als ein gesamtgesellschaftlich notwendiges Erziehungsprogramm zur Unterwerfung unter die staatliche Autorität. Auf diesen Widerspruch reagieren Klassenindividuen auf unterschiedliche Weise, wobei Klassenlage und Bewußtsein nicht einander entsprechen (müssen). Diese Dialektik in ihrer Konkretheit zu erfassen, geht nur, wenn mensch an den "Corona"-Kämpfen entsprechend theoretisch vorbereitet teilnimmt.

Teilnahme im Sinne einer intervenierenden, klassenanalytischen Untersuchung kann m. E. nicht auf die Durchführung von konkurrierenden "Gegendemonstrationen" zu den "Hygienedemos" verkürzt werden. Diese Art von teilnehmender Beobachtung wäre nur Aufklärung im schlechtesten Sinne. In dieser Ausgabe haben wir daher drei Berichte herausgesucht, wo Akteur*innen im liberal-bürgerlichen Raum unter der Prämisse des dialektischen Verhältnisses von Aktion und  Aufklärung interveniert haben:

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Die politisch-ideologische Spaltung der außerparlamentarischen Zirkel in Milieu- und Klassen-Linke widerspiegelt sich auch in dem Beitrag Thesen zum "Leninismus", den Achim Schill uns mit dem Interesse an Stellungnahmen zur Veröffentlichung  gegeben hat.

In seiner etwas verschwurbelten Einleitung erfahren die Leser*innen, dass der Autor ein "orthodoxer Trotzkist" gewesen ist, der nun den Realsozialismus als Neuentstehung einer "asiatischen Produktionsweise" begreift und dass seine Leninismus-Thesen im wesentlichen von der "leninistischen Konzeption der Partei" handeln werden. Vor der Behandlung des Parteikonzepts möchte Achim Schill allerdings den "Begriff der Arbeiterklasse" problematisieren. Dazu räumt er ein, dass er weder "Philosoph" noch "Historiker" sei. Unbeschadet dessen sei Lenin für ihn jedoch so etwas wie ein "Postmoderner", weil er angeblich in "Was tun?" von einer "Trennung von Ökonomie und Bewußtsein" ausgeht.

Dieses Etikett ist zwar Unsinn, aber entspricht dem Zeitgeist. Aktuell wird z.B. Hölderlin gerade diskursiv zum Postmodernen ernannt, weil er "die Moderne in die Postmoderne hin" übersprang.  Hier zeigt sich, dass das (klein)bürgerliche Bewußtsein, wenn es durch (sozial)wissenschaftliche Betätigung zu sich kommt, sich Zuschreibungen erdenkt, um mit deren Hilfe - ganz im Sinne von Foucaults Diskurstheorie - Begriffe für gesellschaftliche Verhältnisse zu konstruieren bzw. zu dekonstruieren. Gerade die studierende Linke hat sich nach 1989 diese Ideologie zu eigen machen müssen, um in dem universitären Gedankengefängnis voranzukommen. Seit dem ist im universitären Mainstream das persönliche Individuum kein Klassenindividuum mehr, sondern wird als ein Konglomerat aus intersektionellen Zuschreibungen durch soziale und kulturelle Milieus gedacht.

Dieses Menschenbild bildet m.E. den Subtext von Achim Schills Leninismus-Thesen, weil er die materialistische Dialektik durch narrative mechanistische Konstruktionen ersetzt, die nicht an Zeit und Raum gebunden erscheinen. In diesem Sinne hat Achim Schill  in seinen Thesen ein Patchwork an Aspekten montiert, in dem Geschichte keine Entwicklungsrichtung hat und in der das Proletariat keine historisch entscheidende Rolle mehr spielt.

Wäre Genosse Schill freilich seiner ehemaligen politisch-ideologischen Orientierung treu geblieben, dann wäre ihm aufgefallen, dass Lenins Klassenanalyse Russlands (Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland, 1896-99) die materialistische Grundlage seiner Parteikonzeption (Was tun?, 1902) war, deren Ableitung er später durch seine Imperialismustheorie (Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, 1916) erweiterte. Seitdem sind über hundert Jahre vergangen und die Frage steht im Raum, was davon noch gültig ist.

Würden wir einem Leninismus-Begriff anhängen, für den Lenin nur den Namen liefert und Stalin den Begriffsinhalt,

Der Leninismus ist der Marxismus der Epoche des Imperialismus und der proletarischen Revolution. Genauer: Der Leninismus ist die Theorie und Taktik der proletarischen Revolution im Allgemeinen, die Theorie und Taktik der Diktatur des Proletariats im Besonderen.

J.W. Stalin: Über die Grundlagen des Leninismus

dann könnten wir uns die Suche nach einer Antwort ersparen.

Lenins "Was tun?" als ewig gültige Blaupause für das Parteikonzept der Klasse zu behandeln, um es dann zu bemäkeln, geht gar nicht. Denn Lenin steht für die dialektisch-materialistische Methode. Sie ist die Methode der Klassenanalyse, mittels derer eine revolutionär-sozialistische Politik ihre wissenschaftliche Grundlage erhält. Und wer heute das Verhältnis von der proletarischen Klasse und ihrer politischen Organisation vermittelt über das Programm zur Aufhebung des Kapitalismus gemäß der heutigen Klassenverhältnisse abklären will, der wird an Lenins Methode und Maos Weiterentwicklungen nicht vorbeikommen.

Zur historischen Bedeutung Lenins und seines umfassenden theoretischen Werks empfehlenn wir den Beitrag von W. Adoratsky "Lenins Theorie und Praxis" und die dort aufgeführten weiteren Beiträge, die dazu bei TREND bisher erschienen sind.

(*) Carl Schmitt, Politische Theologie - Vier Kapitel von der Lehre der
     Souveränität, München Leipzig, 1934, Seite 22

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Abschließend wieder ausgewählte aktuelle Web-Traffic-Zahlen von ALEXA.

Bis Juli 2019 gab es bei ALEXA kostenlos systematisierte Übersichten, wie sich der Web-Traffic einzelner Websites entwickelte und welchen Rang die jeweilige Website in ihrer Rubrik belegte. Die nachfolgende Liste wurde von uns  "handverlesen" bei ALEXA erstellt. Sie besteht aus zehn von uns ausgewählten Websites der Klassen-Linken.

ALEXA Rank in global internet traffic and engagement over the past 90 days:

www.infopartisan.net # 967,044
http://diefreiheitsliebe.de/ # 1,367,612
www.labournet.de/ # 1,419,407
www.lowerclassmag.com # 2,268,108
www.revoltmag.org  # 2,378,072
www.sozialismus.info # 2,420,445
www.akweb.de/ # 2,445,491 
www.scharf-links.de # 3,129,329
www.rf-news.de # 4,810,607
www.unsere-zeit.de We don’t have enough data for this site.

Stand 31.5.2020

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