München
Z
wei "Corona-Demos" am 16. Mai

Ein Bericht von "
LM, KS"

06/2020

trend
onlinezeitung

Am Wochenende haben wieder Tausende Menschen in mehreren deutschen Großstädten gegen die Corona-Politik demonstriert. In München fanden zwei sehr unterschiedliche Kundgebungen statt.

Bei der »Hygiene-Kundgebung« auf der Theresienwiese war die genehmigte Teilnehmerzahl von 1.000 Personen bereits kurz vor Veranstaltungsbeginn erreicht. Da die Polizei keine weiteren Protestierer*innen auf den Platz ließ, versammelten sich lt. Presseberichten neben der eigentlichen Veranstaltung etwa 2.500 weitere Demonstrant*innen am Rande der Theresienwiese.

Beobachter*innen berichten, dass das Publikum sehr gemischt war: AfDler*innen, Esoteriker*innen, Verschwörungstheoretiker*innen, Impfgegner*innen, Hooligans, aber auch alternatives grünes Publikum, dass man auch auf progressiven Demos antreffen kann. Dazu viele Menschen, denen einfach die Hygieneauflagen auf den Geist gehen - Bayern hatte besonders strenge und willkürliche Einschränkungen, die der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) in seinen Regierungserklärungen wiederholt als "Charaktertest" bezeichnete - wie auch viele Interessierte, die sich das Spektakel einfach anschauen wollten.

Im besten Fall, wenn es nicht um »Impfplicht« oder eine große Verschwörung finsterer Mächte, die das Virus oder die Mittel zu seiner Bekämpfung aus Profitgier oder Allmachtsgelüsten in die Welt gesetzt hätten, drehen sich die Proteste um Einschränkungen individueller Bürger- und Freiheitsrechte, aber ohne irgendeinen Bezug zum gesellschaftlichen Inhalt und zu einer demokratischen, solidarischen Gesellschaft herzustellen.

Wirkliche Einschränkungen demokratischer Rechte, wie es z.B. der Bundestag nur ein paar Tage vorher, am Donnerstag (14.05.2020), mit der faktische Abschaffung des Erörterungstermins in allen relevanten umweltrechtlichen Verfahren gemacht hat, spielen bei diesen Protesten keine Rolle. Dabei können mit diesem Bundestagsbeschluss mindestens bis zum 31. März 2021 umstrittene Großprojekte ohne eine effektive Bürgerbeteiligung durchgesetzt werden. Nur die Linksfraktion versuchte zu verhindern, dass im Windschatten der Corona-Krise umstrittene Großprojekte genehmigt werden können, ohne dass die Öffentlichkeit und die Umweltverbände wirksam Einfluss nehmen können.
Aushebelung des Streikrechts etc., finden bei diesen Protesten, die angeblich die demokratischen Rechte verteidigen wollen, keine Erwähnung. Genau so wenig wird thematisiert, dass unter dem Deckmantel des Infektionsschutzes der Einsatz der Bundeswehr im Inneren geübt wird, bis hin zu den Versuchen, die Bundeswehr für Ordnungsmaßnahmen wie z.B. zur Bewachung von Erstaufnahmeeinrichtungen für Geflüchtete einzusetzen.

Die Organisatoren verstehen es jedoch, den aufgestauten Unmut derjenigen, die einfach gegen Gesichtsmasken sind– aus welchem Grund auch immer – und glauben, dass der Lockdown der Wirtschaft schadet oder die einfach ein bisschen gegen die Obrigkeit rebellieren wollen, zu instrumentalisieren.

Erschreckend sei gewesen, so heißt es von einem Beobachter, dass sich niemand den Nazis vom »Dritter Weg« entgegenstellte, die offen am Rand der Theresienwiese agitierten und sich unter Beifall der Zuhörer*innen als »Volkstribunen« aufspielten. Andererseits twitterte Moritz Steinbacher vom Bayerischer Rundfunk: "Auf der Demo wird die Nationalhymne angestimmt. Kaum jmd. singt mit. Jdfls hört man nix."

Obwohl die Schwafelei, dass IT-Milliardär Bill Gates die Weltherrschaft übernehmen will, und dass die Bundesregierung angeblich Zwangsimpfungen gegen das Coronavirus plant, offensichtlicher Unsinn ist, beschäftigen sich die »Tageschau« und die verschiedenen Talkshows zu bester Sendezeit wieder einmal stundenlang mit den Anliegen der "besorgten Bürger*innen« - zu denen diejenigen, die gegen das Sterben im Mittelmeer und für die Aufnahme von Geflüchteten aus den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln demonstrieren, offensichtlich nicht gehören. So tragen die etablierten Medien wieder einmal dazu bei, dass die Rechte in Deutschland die Diskurshoheit inne hat.

Abstand halten – auch zu Rechtsextremisten
und Demokratiefeinden

Das Bündnis "München ist bunt!" hatte von einer Teilnahme an dieser Demonstration abgeraten. Mit Hinweis auf die eine Woche vorher stattgefundene Demonstration heißt es in der Erklärung:

"Wir wissen, dass dort auch Menschen teilgenommen haben, die von ernsthafter Sorge um unserer Grundrechte angetrieben sind. Und es ist eine demokratische Selbstverständlichkeit, dass sie dafür das Versammlungsrecht für sich in Anspruch nehmen. Dabei muss aber klar sein: Zum Einsatz für die Grundrechte gehört die strikte Distanzierung von Rechtsextremisten und anderen Demokratiefeinden. Solange dies nicht deutlich und wahrnehmbar – auch von Seiten der Initiator*innen geschieht, raten wir von der Teilnahme an den Hygiene-Demos ab."

Weiter heißt es, dass "München ist bunt" eine breit angelegte Bewegung anstoßen möchte, "die drei Punkte vereint: Auf die Achtung der Grundrechte hinzuweisen, den Hygiene-Abstand zu wahren, um die Corona-Pandemie einzudämmen – und die klare Distanz nach Rechtsaußen und zu den anderen Feinden der Demokratie. Dazu suchen wir nach Aktionsformen in der realen, analogen Welt, die das unter den aktuellen Umgangsregeln möglich machen. Kurz gesagt: Wir wollen Münchens Straßen nicht den Demokratiefeinden überlassen und freuen uns über Vorschläge und Verbündete!"

Kundgebung an der »Münchner Freiheit«

Anderes Publikum, andere Stimmung und andere Themen prägten die Kundgebung gegen die Einschränkung von Grundrechten auf der »Münchner Freiheit«, die ebenfalls am Samstag in München stattfand.

"Liebe Freiheitsliebende - es geht jetzt auch darum, wie es in unserer Gesellschaft weitergeht.

Mit Solidarität statt Denunziation.
Mit einem Lächeln statt mit Gesichtsmasken.
Mit sozialem Engagement statt Ausgangssperren.
Mit einem grünen Wirtschaftsplan statt mit Kampfflugzeugen.
Mit Klimaschutz statt mit Unterstützung von Steuervermeidern.
Mit fairem Handel statt Freihandel und Ausbeutung.
Mit europäischer Solidarität statt mit Grenzschließungen.
Mit einer unabhängigen Untersuchungskommission, der die Regierung und ihre Behörden zur Rechenschaft zieht."

Mit diesen Worten skizzierte der Münchner Kinderarzt Martin Hirte (Foto links) in seiner Rede das Anliegen der Kundgebung, die für 100 Teilnehmer*innen genehmigt war. Werbung für die Kundgebung war verboten worden. Die Kundgebungsteilnehmer*innen und die am Rande stehenden Zuhörer*innen folgten unter Einhaltung der Abstandsregeln den Rede- und Musikbeiträgen.

Martin Hirte begründete seine Teilnahme:

"Ich bin hier, weil ich mir Sorgen mache um die psychische Gesundheit unserer Kinder, und auch vieler Erwachsener. Ich bin besorgt um die Lebensgrundlage vieler Menschen in unserem Land. Und ich mache mir Sorgen um die Situation in den ärmeren Ländern der Erde. Dort wird unsere Pandemie-Politik kopiert. Die Menschen leben von der Hand in den Mund und dürfen nicht mehr aus dem Haus. Die UN hat vor einer Hungersnot von biblischem Ausmaß gewarnt. Über 200 Millionen Menschen ohne etwas zu Essen. Weltweit sterben durch die Ausgangssperren hundertmal mehr Menschen an Hunger als am Coronavirus.
In vielen Ländern werden jetzt auch Menschen getötet, die sich für Umwelt oder Menschenrechte eingesetzt haben. Sie müssen wegen Corona zu Hause bleiben und sind leicht auffindbar.

Bei uns ist jeder vierte Arbeitnehmer in Kurzarbeit. Hunderttausende werden arbeitslos. Viele Selbstständige – vor allem im Kulturbereich und in der Gastronomie - verlieren ihre Existenz.
Der Stresspegel in vielen Familien steigt über das erträgliche Maß. Die Depressiven werden depressiver. Die Zwanghaften werden zwanghafter. Die Ängstlichen werden ängstlicher. Die Wütenden werden wütender.

Alte Menschen sterben vor Einsamkeit. Viele sind alleine gestorben. Keiner durfte ihre Hand halten. Die Abstandsregeln wurden eingehalten."

Hirte warnte: "Die Coronavirus-Krankheit ist nicht ungefährlich. Für pflegebedürftige alte Menschen kann sie das Ende bedeuten." Aber anstatt das gesellschaftliche und politische Leben lahm zu legen, wäre es sinnvoller "kreative Konzepte ohne Entwürdigung der Menschen, ohne Entwürdigung der Kinder, ohne Überwachung, ohne Zwang und Strafen" zum Schutz der verletzlichen Bevölkerungsgruppen anzuwenden.

Vehement wandte sich Hirte dagegen, Kinder als "Virenschleudern" zu sehen, und dass Kinder nicht gemeinsam spielen und lernen dürfen, Abstand halten müssten. Aus seiner kinderärztlichen Tätigkeit berichtete er, dass viele Kinder traurig seien. "Ihnen fehlt der Kontakt mit Freunden, mit den Großeltern. Es gibt jetzt auch mehr Kinder, die Angst haben. Sie haben Angst vor anderen Menschen, weil sie kaum noch Kontakt nach außen haben. Sie haben Angst vor anderen Menschen, weil man ihnen sagt, von denen geht eine Gefahr aus. … Wir sperren die Kinder ein, weil es von Beginn der Pandemie an hieß, sie sind Virenschleudern." Dies wies der Kinderarzt energisch zurück: "Kinder sind keine Coronavirusschleudern. Sie werden von diesem Virus nicht krank, und sind kaum ansteckend. So stand es kürzlich im Ärzteblatt, und wir wissen das aus Österreich, Schweden, Island, Italien und den Niederlanden."

"Die Pandemiemaßnahmen sind von Männern für Männer gemacht."

Und weiter: "Wenn wir Ansteckungen durch Kinder verhindern wollen, egal mit welchem Virus, dann müssen wir sie jeden Winter monatelang einsperren, und ihre Eltern gleich mit. Die Kinder wochenlang zu Hause, und dann noch Home Office. Wie sollen das die Eltern stemmen? Die alleinerziehenden Mütter? Warum gibt es für sie kein Betreuungsgeld, keinen Kündigungsschutz? Die Pandemiemaßnahmen sind von Männern für Männer gemacht."

Hirte machte sich für die sofortige Öffnung der Kindergärten und Schulen stark. "Kindergärten und Schulen müssen sofort wieder geöffnet werden, für alle und ohne Einschränkungen, ohne Maskenpflicht, ohne Abstandsregeln. Die Pandemie ist vorbei. Kinder stecken niemanden an. Es gibt ein Recht für Kinder auf Spiel mit anderen Kindern."

Er hob hervor, dass Kinderrechte selbstverständlich auch für minderjährige Flüchtlinge gelten und kritisierte, dass im Zusammenhang mit den Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie das Asylrecht seit Wochen ausgesetzt ist. "Ganze 47 Kinder sind aus griechischen Lagern nach Deutschland gekommen. 47 von mehreren Tausend."

"Das Parlament hat sich jedenfalls die Kontrolle bewahrt über den Ausnahmezustand – der Gesundheitsminister wollte das anders."

Trotz aller Einschränkungen und Übergriffigkeiten der Regierung funktioniere der Rechtsstaat noch, so Martin Hirte.

"Noch haben wir keine Gesundheitsdiktatur. Unsere Demokratie, unser Rechtsstaat funktionieren noch. Der Immunitätsausweis, den Herr Spahn wollte, ist vom Tisch. Sein zentralisiertes Gesundheits-App ist vom Tisch. Herbe Niederlagen für unseren Herrn Minister. Er lässt allerdings nicht locker – er will den Immunitätsausweis komme was da wolle. Das sagen nicht Verschwörungstheoretiker, sondern das sagt die Tagesschau.
Das Parlament hat sich jedenfalls die Kontrolle bewahrt über den Ausnahmezustand – der Gesundheitsminister wollte das anders.
Jetzt muss das Parlament diesen Spuk beenden – darum geht es heute."

Eine Rednerin bekannte, dass sie verbotenerweise eine »Untergrundschule« betrieben habe, weil sie nicht wollte, dass ihre Enkel "mit dem Internet-Unterricht vereinzeln und verblöden" und die Tochter einer befreundeten syrischen Flüchtlingsfamilie gänzlich von Schulunterricht und Bildung abgehängt werde - immer in Sorge, dass ein "Depp durch das Schlüsselloch" schaue und der Aufforderung des bayerischen Innenministers Hermann (CSU) folge, Verstöße gegen die Kontaktbeschränkungen anzuzeigen.

In allen Redebeiträgen wurde klar gegen Rassismus, rechtes Gedankengut, Antisemitismus und Verschwörungstheorien Stellung bezogen. Die Bedrohung gehe nicht von einer »Weltverschwörung« aus, sondern von einer Ökonomie der Ungleichheit, von einer Kürzungs- und Privatisierungspolitik, die die öffentlichen Gesundheitssysteme grundlegend aushöhlte. Auch die Solidarität mit Geflüchteten spielte eine Rolle und es wurde gefordert tausende Menschen aus Moria/Lesbos sofort hierher zu holen.

Der Veranstalter, ein Familienvater ohne politische Organisierung, war bis vergangene Woche noch im Team der Organisator*innen der großen »Hygiene-Kundgebung« auf der Münchener Theresienwiese, ist dann dort ausgestiegen, weil sie sich trotz seiner Forderung explizit weigerten, sich gegen Rechts zu positionieren. Auch sei nicht offengelegt worden, wo die mehrere Zehntausend Euro für die Finanzierung dieser Großkundgebung herkommen. Da die »Hygiene-Kundgebung« von rechten Kräften unterwandert ist, der Protest gegen Maßnahmen der Bundes- und Landesregierungen aber notwendig sei, habe er diese Kundgebung an der »Münchner Freiheit« organisiert.

Quelle: https://kommunisten.de/marxistische-linke/kopie-von-abdquoregionalgruppe-hhaldquo/7883-muenchen-zwei-sehr-unterschiedliche-corona-demos