Rote Armee Fraktion
Das Konzept
Stadtguerilla /
April 1971
Flugschrift
im Besitz des Autors
Leseauszug
Primat der Praxis
Wer ein
bestimmtes Ding oder einen Komplex von Dingen
direkt kennen lernen will, muß
persönlich am praktischen Kampf zur
Veränderung der Wirklichkeit, zur Veränderung
des Dinges oder des Komplexes von Dingen
teilnehmen, denn nur so kommt er mit der
Erscheinung der betreffenden Dinge in Berührung,
und erst durch die persönliche Teilnahme
am praktischen Kampf zur Veränderung der
Wirklichkeit ist er imstande, das Wesen jenes
Dinges bzw. jenes Komplexes von Dingen zu
enthüllen und sie zu verstehen.
Aber der
Marxismus legt der Theorie darum und nur darum
ernste Bedeutung bei, weil
sie die Anleitung zum Handeln sein kann. Wenn man
über eine richtige Theorie verfügt, sie aber nur
als etwas behandelt, worüber man einmal schwatzt,
um es dann in die
Schublade zu legen, was man jedoch keineswegs in
die Praxis umsetzt, dann wird diese
Theorie, so gut sie auch sein mag,
bedeutungslos.
Mao
Tse-tung: Über die Praxis
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Die Hinwendung der
Linken, der Sozialisten, die zugleich die Autoritäten
der Studentenbewegung waren,
zum Studium des wissenschaftlichen Sozialismus, die
Aktualisierung der Kritik der politischen
Ökonomie als ihrer Selbstkritik an der
Studentenbewegung, war gleichzeitig ihre
Rückkehr zu ihren studentischen
Schreibtischen. Nach ihrer Papierproduktion zu
urteilen, ihren Organisationsmodellen, dem Aufwand,
den sie mit und in ihren Erklärungen treiben, könnte
man meinen, hier beanspruchten
Revolutionäre die Führung in gewaltigen
Klassenkämpfen, als wäre das Jahr 1967/68 das 1905
des Sozialismus in Deutschland.
Wenn Lenin 1903 in »Was tun?« das
Theoriebedürfnis der russischen Arbeiter
hervorhob und gegenüber Anarchisten und
Sozialrevolutionären die Notwendigkeit von
Klassenanalyse und Organisation und entlarvender
Propaganda postulierte, dann, weil massenhafte
Klassenkämpfe im Gange waren. »Das ist es ja
gerade, daß die Arbeitermassen
durch die Niederträchtigkeiten des russischen Lebens
sehr stark aufgerüttelt werden, wir verstehen
es nur nicht, alle jene Tropfen und
Rinnsale der Volkserregung zu sammeln und,
wenn man so sagen darf – zu konzentrieren, die aus
dem russischen Leben in unermeßlich größerer Menge
hervorquellen, als wir alle es uns vorstellen und
glauben, die aber zu einem gewaltigen
Strom vereinigt werden müssen.« (Lenin:
»Was tun?«)
Wir bezweifeln, ob
es unter den gegenwärtigen Bedingungen in der
Bundesrepublik und Westberlin überhaupt schon möglich
ist, eine die Arbeiterklasse vereinigende Strategie
zu entwickeln, eine Organisation zu schaffen, die
gleichzeitig Ausdruck und
Initiator des notwendigen
Vereinheitlichungsprozesses sein kann.
Wir bezweifeln, daß sich das Bündnis zwischen
der sozialistischen Intelligenz und
dem Proletariat durch programmatische
Erklärungen »schweißen«, durch ihren
Anspruch auf proletarische Organisationen
erzwingen läßt. Die Tropfen und
Rinnsale über die Niederträchtigkeiten des
deutschen Lebens sammelt bislang
noch der Springer-Konzern und leitet sie neuen
Niederträchtigkeiten zu.
Wir behaupten, daß
ohne revolutionäre Initiative, ohne die praktische
revolutionäre Intervention der Avantgarde, der
sozialistischen Arbeiter und Intellektuellen, ohne
den konkreten antiimperialistischen Kampf es keinen
Vereinheitlichungsprozeß gibt, daß das Bündnis nur in
gemeinsamen Kämpfen hergestellt
wird oder nicht, in denen der bewußte Teil der
Arbeiter und Intellektuellen nicht
Regie zu fahren, sondern voranzugehen hat.
In der
Papierproduktion der Organisationen erkennen wir
ihre Praxis hauptsächlich
nur wieder als den Konkurrenzkampf von
Intellektuellen, die sich
vor einer imaginären
Jury, die die Arbeiterklasse nicht sein kann, weil
ihre Sprache schon deren
Mitsprache ausschließt, den Rang um die bessere
Marx-Rezeption ablaufen. Es
ist ihnen peinlicher, bei einem falschen Marx-Zitat
ertappt zu werden als bei
einer Lüge, wenn von ihrer Praxis die Rede ist. Die
Seitenzahlen, die sie in
ihren Anmerkungen angeben, stimmen fast immer, die
Mitgliederzahlen, die sie
für ihre Organisationen angeben, stimmen fast nie.
Sie fürchten sich vor dem Vor-
wurf der revolutionären Ungeduld mehr als
vor ihrer Korrumpierung in bürgerli
chen Berufen, mit Lukács
langfristig zu promovieren, ist ihnen
wichtig, sich von Blanqui
kurzfristig agitieren zu lassen, ist ihnen suspekt.
Ihrem Internationalismus
geben sie in Zensuren Ausdruck, mit denen sie die
eine palästinensische Kommandoorganisation vor der
anderen auszeichnen – weiße Herren, die sich als
die wahren Sachwalter des
Marxismus aufspielen; sie bringen ihn in den
Umgangsfor men von
Mäzenatentum zum Ausdruck, indem sie befreundete
Reiche im Namen der Black
Panther Partei anbetteln und
das, was die für ihren Ablaß zu geben bereit sind,
sich selbst beim lieben Gott gutschreiben lassen –
nicht den »Sieg im
Volkskrieg« im Auge, nur um ihr gutes Gewissen
besorgt. Eine revolutionäre Interventionsmethode
ist das nicht.
Mao stellte in seiner
»Analyse der Klassen in der chinesischen
Gesellschaft« (1926) den
Kampf der Revolution und den Kampf der
Konterrevolution einander
gegenüber als »das Rote Banner der Revolution, hoch
erhoben von der III. Internationale, die alle
unterdrückten Klassen in der Welt aufruft, sich um
ihr Banner zu scharen; das
andere ist das Weiße Banner der Konterrevolution,
erhoben vom Völkerbund, der
alle Konterrevolutionäre aufruft, sich um sein
Banner zu scha ren.« Mao
unterschied die Klassen in der chinesischen
Gesellschaft danach, wie sie
sich zwischen Rotem und Weißem Banner beim
Fortschreiten der Revolution
in China entscheiden würden. Es genügte ihm nicht,
die ökonomische Lage der
verschiedenen Klassen in der chinesischen
Gesellschaft zu analysieren. Bestandteil
seiner Klassenanalyse war ebenso die
Einstellung der verschiedenen Klassen zur
Revolution.
Eine Führungsrolle
der Marxisten-Leninisten in zukünftige
Klassenkämpfen wird es nicht
geben, wenn die Avantgarde selbst nicht das Rote
Banner des Proletarischen Internationalismus
hochhält und wenn die Avantgarde selbst die Frage
nicht beantwortet, wie die Diktatur des
Proletariats zu errichten sein wird, wie die
politische Macht des Proletariats zu
erlangen, wie die Macht der Bourgeoisie zu
brechen ist, und durch keine Praxis darauf
vorbereitet ist, sie zu beantworten. Die
Klassenanalyse, die wir brauchen, ist nicht
zu machen ohne revolutionäre Praxis,
ohne revolutionäre Initiative.
Die »Revolutionären
Übergangsforderungen«, die die proletarischen Organisationen
landauf, landab aufgestellt haben, wie Kampf der
Intensivierung der Ausbeutung, Verkürzung der
Arbeitszeit, gegen die Vergeudung von
gesellschaftlichem Reichtum, gleicher Lohn für Männer
und Frauen und ausländische Arbeiter, gegen
Akkordhetze etc., diese Übergangsforderungen sind
nichts als gewerkschaftlicher Ökonomismus, solange
nicht gleichzeitig die Frage beantwortet wird,
wie der politische, militärische und
propagandistische Druck zu brechen sein
wird, der sich schon diesen Forderungen
aggressiv in den Weg stellen wird, wenn
sie in massenhaften Klassenkämpfen erhoben
werden. Dann aber – wenn es bei ihnen bleibt, sind
sie nur noch ökonomischer Dreck, weil es sich um sie
nicht lohnt, den
revolutionären Kampf aufzunehmen und zum Sieg zu
führen, wenn »Siegen heißt,
prinzipiell akzeptieren, daß das Leben nicht das
höchste Gut des Revolutionärs ist« (Debray). Mit
diesen Forderungen kann man gewerkschaftlich
intervenieren – »die tradeunionistische Politik der
Arbeiterklasse ist aber eben bürgerliche Politik der
Arbeiterklasse« (Lenin). Eine revolutionäre
Interventionsmethode ist
sie nicht.
Die sogenannten
proletarischen Organisationen unterscheiden sich,
wenn sie die Frage der
Bewaffnung als Antwort auf die Notstandsgesetze,
die Bundeswehr, den
Bundesgrenzschutz, die Polizei, die Springerpresse
nicht aufwerfen, opportunistisch verschweigen, nur
insoweit von der DKP, als sie noch weniger in den
Massen verankert sind, als sie wortradikaler
sind, als sie theoretisch mehr drauf
haben. Praktisch begeben sie sich auf das
Niveau von Bürgerrechtlern, die es auf
Popularität um jeden Preis abgesehen haben,
unterstützen sie die Lügen der
Bourgeoisie, daß in diesem Staat mit den
Mitteln der parlamentarischen Demokratie noch was
auszurichten sei, ermutigen sie das Proletariat zu
Kämpfen, die
angesichts des Potentials an Gewalt in diesem Staat
nur verloren werden können –
auf barbarische Weise. »Diese
marxistisch-leninistischen Fraktionen oder
Parteien« – schreibt Debray über die Kommunisten in
Lateinamerika – »bewegen sich
innerhalb derselben politischen
Fragestellungen, wie sie von der Bourgeoisie
beherrscht werden. Anstatt sie zu verändern, haben
sie dazu beigetragen, sie noch
fester zu verankern ...«
Den
Tausenden von Lehrlingen und Jugendlichen, die aus
ihrer Politisierung während
der Studentenbewegung
erstmal den Schluß gezogen haben, sich dem
Ausbeutungsdruck im Betrieb zu entziehen, bieten
diese Organisationen keine politische Perspektive
mit dem Vorschlag, sich dem kapitalistischen
Ausbeutungsdruck erstmal wieder anzupassen.
Gegenüber der Jugendkriminalität nehmen sie
praktisch den Standpunkt von Gefängnisdirektoren
ein, gegenüber den Genossen im Knast den Standpunkt
ihrer Richter, gegenüber dem Untergrund den Stand
punkt von Sozialarbeitern.
Praxislos ist die Lektüre des »Kapital« nichts als
bürgerliches Studium. Praxislos sind
programmatische Erklärungen nur Geschwätz.
Praxislos ist proletarischer Internationalismus nur
Angeberei. Theoretisch den Standpunkt des
Proletariats einnehmen, heißt ihn praktisch
einnehmen.
Die
Rote Armee Fraktion redet vom Primat der Praxis. Ob
es richtig ist, den bewaffneten Widerstand jetzt zu
organisieren, hängt davon ab, ob es möglich ist; ob
es möglich ist, ist nur praktisch zu ermitteln.
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