Wie der Maoismus nach Westberlin kam
Materialien zum Referat

Plattformen und programmatische Entwürfe zur Gründung maoistischer Organisationen
 

06/2016

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onlinezeitung

Rote Armee Fraktion
Das Konzept Stadtguerilla / April 1971
Flugschrift im Besitz des Autors

Leseauszug
 
Primat der Praxis

Wer ein bestimmtes Ding oder einen Komplex von Dingen direkt kennen lernen will, muß persönlich am praktischen Kampf zur Veränderung der Wirklichkeit, zur Veränderung des Dinges oder des Komplexes von Dingen teilnehmen, denn nur so kommt er mit der Erscheinung der betreffenden Dinge in Berührung, und erst durch die persönliche Teilnahme am praktischen Kampf zur Veränderung der Wirklichkeit ist er imstande, das Wesen jenes Dinges bzw. jenes Komplexes von Dingen zu enthüllen und sie zu verstehen.

Aber der Marxismus legt der Theorie darum und nur darum ernste Bedeutung bei, weil sie die Anleitung zum Handeln sein kann. Wenn man über eine richtige Theorie verfügt, sie aber nur als etwas behandelt, worüber man einmal schwatzt, um es dann in die Schublade zu legen, was man jedoch keineswegs in die Praxis umsetzt, dann wird diese Theorie, so gut sie auch sein mag, bedeutungslos.

Mao Tse-tung: Über die Praxis

Die Hinwendung der Linken, der Sozialisten, die zugleich die Autoritäten der Studentenbewegung waren, zum Studium des wissenschaftlichen Sozialismus, die Aktualisierung der Kritik der politischen Ökonomie als ihrer Selbstkritik an der Studentenbewegung, war gleichzeitig ihre Rückkehr zu ihren studentischen Schreibtischen. Nach ihrer Papierproduktion zu urteilen, ihren Organisationsmodellen, dem Aufwand, den sie mit und in ihren Erklärungen treiben, könnte man meinen, hier beanspruchten Revolutionäre die Führung in gewaltigen Klassenkämpfen, als wäre das Jahr 1967/68 das 1905 des Sozialismus in Deutschland. Wenn Lenin 1903 in »Was tun?« das Theoriebedürfnis der russischen Arbeiter hervorhob und gegenüber Anarchisten und Sozialrevolutionären die Notwendigkeit von Klassenanalyse und Organisation und entlarvender Propaganda postulierte, dann, weil massenhafte Klassenkämpfe im Gange waren. »Das ist es ja gerade, daß die Arbeitermassen durch die Niederträchtigkeiten des russischen Lebens sehr stark aufgerüttelt werden, wir verstehen es nur nicht, alle jene Tropfen und Rinnsale der Volkserregung zu sammeln und, wenn man so sagen darf – zu konzentrieren, die aus dem russischen Leben in unermeßlich größerer Menge hervorquellen, als wir alle es uns vorstellen und glauben, die aber zu einem gewaltigen Strom vereinigt werden müssen.« (Lenin: »Was tun?«)

Wir bezweifeln, ob es unter den gegenwärtigen Bedingungen in der Bundesrepublik und Westberlin überhaupt schon möglich ist, eine die Arbeiterklasse vereinigende Strategie zu entwickeln, eine Organisation zu schaffen, die gleichzeitig Ausdruck und Initiator des notwendigen Vereinheitlichungsprozesses sein kann. Wir bezweifeln, daß sich das Bündnis zwischen der sozialistischen Intelligenz und dem Proletariat durch programmatische Erklärungen »schweißen«, durch ihren Anspruch auf proletarische Organisationen erzwingen läßt. Die Tropfen und Rinnsale über die Niederträchtigkeiten des deutschen Lebens sammelt bislang noch der Springer-Konzern und leitet sie neuen Niederträchtigkeiten zu.

Wir behaupten, daß ohne revolutionäre Initiative, ohne die praktische revolutionäre Intervention der Avantgarde, der sozialistischen Arbeiter und Intellektuellen, ohne den konkreten antiimperialistischen Kampf es keinen Vereinheitlichungsprozeß gibt, daß das Bündnis nur in gemeinsamen Kämpfen hergestellt
wird oder nicht, in denen der bewußte Teil der Arbeiter und Intellektuellen nicht Regie zu fahren, sondern voranzugehen hat.

In der Papierproduktion der Organisationen erkennen wir ihre Praxis hauptsächlich nur wieder als den Konkurrenzkampf von Intellektuellen, die sich  vor einer imaginären Jury, die die Arbeiterklasse nicht sein kann, weil ihre Sprache schon deren Mitsprache ausschließt, den Rang um die bessere Marx-Rezeption ablaufen. Es ist ihnen peinlicher, bei einem falschen Marx-Zitat ertappt zu werden als bei einer Lüge, wenn von ihrer Praxis die Rede ist. Die Seitenzahlen, die sie in ihren Anmerkungen angeben, stimmen fast immer, die Mitgliederzahlen, die sie für ihre Organisationen angeben, stimmen fast nie. Sie fürchten sich vor dem Vor- wurf der revolutionären Ungeduld mehr als vor ihrer Korrumpierung in bürgerli chen Berufen, mit Lukács langfristig zu promovieren, ist ihnen wichtig, sich von Blanqui kurzfristig agitieren zu lassen, ist ihnen suspekt. Ihrem Internationalismus geben sie in Zensuren Ausdruck, mit denen sie die eine palästinensische Kommandoorganisation vor der anderen auszeichnen – weiße Herren, die sich als die wahren Sachwalter des Marxismus aufspielen; sie bringen ihn in den Umgangsfor men von Mäzenatentum zum Ausdruck, indem sie befreundete Reiche im Namen der Black Panther Partei anbetteln und das, was die für ihren Ablaß zu geben bereit sind, sich selbst beim lieben Gott gutschreiben lassen – nicht den »Sieg im Volkskrieg« im Auge, nur um ihr gutes Gewissen besorgt. Eine revolutionäre Interventionsmethode ist das nicht.

Mao stellte in seiner »Analyse der Klassen in der chinesischen Gesellschaft« (1926) den Kampf der Revolution und den Kampf der Konterrevolution einander gegenüber als »das Rote Banner der Revolution, hoch erhoben von der III. Internationale, die alle unterdrückten Klassen in der Welt aufruft, sich um ihr Banner zu scharen; das andere ist das Weiße Banner der Konterrevolution, erhoben vom Völkerbund, der alle Konterrevolutionäre aufruft, sich um sein Banner zu scha ren.« Mao unterschied die Klassen in der chinesischen Gesellschaft danach, wie sie sich zwischen Rotem und Weißem Banner beim Fortschreiten der Revolution in China entscheiden würden. Es genügte ihm nicht, die ökonomische Lage der verschiedenen Klassen in der chinesischen Gesellschaft zu analysieren. Bestandteil seiner Klassenanalyse war ebenso die Einstellung der verschiedenen Klassen zur Revolution.

Eine Führungsrolle der Marxisten-Leninisten in zukünftige Klassenkämpfen wird es nicht geben, wenn die Avantgarde selbst nicht das Rote Banner des Proletarischen Internationalismus hochhält und wenn die Avantgarde selbst die Frage nicht beantwortet, wie die Diktatur des Proletariats zu errichten sein wird, wie die politische Macht des Proletariats zu erlangen, wie die Macht der Bourgeoisie zu brechen ist, und durch keine Praxis darauf vorbereitet ist, sie zu beantworten. Die Klassenanalyse, die wir brauchen, ist nicht zu machen ohne revolutionäre Praxis, ohne revolutionäre Initiative.

Die »Revolutionären Übergangsforderungen«, die die proletarischen Organisationen landauf, landab aufgestellt haben, wie Kampf der Intensivierung der Ausbeutung, Verkürzung der Arbeitszeit, gegen die Vergeudung von gesellschaftlichem Reichtum, gleicher Lohn für Männer und Frauen und ausländische Arbeiter, gegen Akkordhetze etc., diese Übergangsforderungen sind nichts als gewerkschaftlicher Ökonomismus, solange nicht gleichzeitig die Frage beantwortet wird, wie der politische, militärische und propagandistische Druck zu brechen sein wird, der sich schon diesen Forderungen aggressiv in den Weg stellen wird, wenn sie in massenhaften Klassenkämpfen erhoben werden. Dann aber – wenn es bei ihnen bleibt, sind sie nur noch ökonomischer Dreck, weil es sich um sie nicht lohnt, den revolutionären Kampf aufzunehmen und zum Sieg zu führen, wenn »Siegen heißt, prinzipiell akzeptieren, daß das Leben nicht das höchste Gut des Revolutionärs ist« (Debray). Mit diesen Forderungen kann man gewerkschaftlich intervenieren – »die tradeunionistische Politik der Arbeiterklasse ist aber eben bürgerliche Politik der Arbeiterklasse« (Lenin). Eine revolutionäre Interventionsmethode ist sie nicht.

Die sogenannten proletarischen Organisationen unterscheiden sich, wenn sie die Frage der Bewaffnung als Antwort auf die Notstandsgesetze, die Bundeswehr, den Bundesgrenzschutz, die Polizei, die Springerpresse nicht aufwerfen, opportunistisch verschweigen, nur insoweit von der DKP, als sie noch weniger in den Massen verankert sind, als sie wortradikaler sind, als sie theoretisch mehr drauf haben. Praktisch begeben sie sich auf das Niveau von Bürgerrechtlern, die es auf Popularität um jeden Preis abgesehen haben, unterstützen sie die Lügen der Bourgeoisie, daß in diesem Staat mit den Mitteln der parlamentarischen Demokratie noch was auszurichten sei, ermutigen sie das Proletariat zu Kämpfen, die
angesichts des Potentials an Gewalt in diesem Staat nur verloren werden können – auf barbarische Weise. »Diese marxistisch-leninistischen Fraktionen oder Parteien« – schreibt Debray über die Kommunisten in Lateinamerika – »bewegen sich innerhalb derselben politischen Fragestellungen, wie sie von der Bourgeoisie beherrscht werden. Anstatt sie zu verändern, haben sie dazu beigetragen, sie noch
fester zu verankern ...«

Den Tausenden von Lehrlingen und Jugendlichen, die aus ihrer Politisierung während der  Studentenbewegung erstmal den Schluß gezogen haben, sich dem Ausbeutungsdruck im Betrieb zu entziehen, bieten diese Organisationen keine politische Perspektive mit dem Vorschlag, sich dem kapitalistischen Ausbeutungsdruck erstmal wieder anzupassen. Gegenüber der Jugendkriminalität nehmen sie praktisch den Standpunkt von Gefängnisdirektoren ein, gegenüber den Genossen im Knast den Standpunkt ihrer Richter, gegenüber dem Untergrund den Stand punkt von Sozialarbeitern.

Praxislos ist die Lektüre des »Kapital« nichts als bürgerliches Studium. Praxislos sind programmatische Erklärungen nur Geschwätz. Praxislos ist proletarischer Internationalismus nur Angeberei. Theoretisch den Standpunkt des Proletariats einnehmen, heißt ihn praktisch einnehmen.

Die Rote Armee Fraktion redet vom Primat der Praxis. Ob es richtig ist, den bewaffneten Widerstand jetzt zu organisieren, hängt davon ab, ob es möglich ist; ob es möglich ist, ist nur praktisch zu ermitteln.