Wie der Maoismus nach Westberlin kam
Materialien zum Referat

Ezra Gerhardt: Verwirrungen
Eine Kritik an der antiautoritären Schüler*innenbewegung

06/2016

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In Perioden der Stagnation der Schülerbewegung gewann bei den aktivierten Schülern der Gedanke an Kommune immer größere Attraktivität. Bevor ich je­doch auf den Einfluß der Kommune auf die Schülerbewegung eingehe, möchte ich noch einiges zur Kommune (KI in Berlin) selbst bemerken.

Die Kommune tritt mit dem Anspruch auf, experimentell das vorwegzunehmen, «was Menschsein in emanzipierter Gesellschaft beinhalten könnte». Obwohl sie die «gegenseitige Durchdringung von Kommune und Außenwelt, Außenwelt und Kommune» voraussetzt, glaubt sie dennoch, die Emanzipation der Individuen schon in der alten Gesellschaft realisieren zu können, glaubt sie an die Möglichkeit der Revolutionierung der Individuen, bevor die objektiven Bedingungen dafür geschaffen sind. Sie übersieht, daß gerade jene «gegenseitige Durchdringung» auch die Reproduktion der Widersprüche der Gesellschaft in der Kommune bedingt, die Widersprüche erst im fortschreitenden Kampf gegen die Gesellschaft tendenziell aufhebbar werden. Die völlige Emanzipation der Individuen wird sich jedoch erst verwirklichen in der neuen Gesellschaft. Was im Grunde Ziel des Kampfes ist, wird für die Kommune zu dessen Voraussetzung. Sie glaubt über die Revolutionierung des Mikrokosmos, die Gesellschaft revolutionieren zu können. Sie sagt: «Die Entfaltung der menschlichen Wesenskräfte wird nur dann möglich, wenn die ganze Welt aus den Angeln gehoben wird...», entwickelt dann aber eine Praxis, die durch ihren partiellen Charakter (die individuellen Probleme «lösen») dem Gesagten zuwiderläuft.

Um die Probleme der einzelnen wenigstens im Ansatz lösen zu können, stellte es sich als notwendig heraus, die Geschlossenheit der Kommune zu erreichen. Gleichzeitig degenerierte ihre Praxis der Provokationen, die anfänglich initiierende Funktionen übernommen hatten, zu simplen Praktiken, die nicht mehr im Zusammenhang mit der Bewegung reflektiert wurden. Die Geschlossenheit der Kommune und ihre permanenten Provokationen, die zum Selbst­zweck wurden, sich verselbständigten, führten zur totalen Isolation der Kommune in der Bewegung, da sie sich nurmehr Verständnislosigkeit gegenübersah. Auf diese Erscheinung reagierte die Kommune mit einer verhängnisvollen Polarisierung: wir (die Kommune) und die anderen. So wurden Genossen und Establishment zu einer konstruierten Feindkoalition der Nichtkommunarden.

Vielen bereits aktivierten Schülern erschien dieses Verhalten als das Anti­autoritäre par excellence. Für sie wurde die Kommune endgültig zu der Trauminsel, welche die Erfüllung jener Bedürfnisse versprach, die man bislang unterdrücken mußte. Das Maß der Unterdrückung dieser revoltierenden Schüler schien auch das Maß für die Verklärung zu sein, die der Kommune bei ihnen widerfuhr. Da es ihnen aber gerade auf Grund der Aktualität der Repression, die sich ihnen in Form von Elternhaus, Schule und Jugendamt darstellte, verweigert war, selbst Kommune zu machen, blieb ihnen nur noch die Übernahme ihrer verselbständigten Praktiken. So wurden auch sie in die Isolation getrieben, da es ihnen nicht gelang, die Vermittlung zwischen sich und den anderen zu finden, Kommunikation herzustellen. Bei den Wenigen, die sich ihnen anschlossen, reichten sich meist Systemfeindlichkeit und unversöhnlicher Antikommunismus die Hand.

Bei solchen Gruppen macht sich zumeist die Ideologie des «alles ist gut, was Spaß macht» breit. Dort, wo der Spaß für sie aufhört, findet auch das Engage­ment für sie ein Ende.

Dieser Versuch einer Kritik des Kommunegedankens und dessen Auswirkungen auf die Praxis der Schülerbewegung behält - zugegeben - ein hohes Maß an Unverbindlichkeit. Die Anhäufung von Abstraktionen verhindert, daß sich z. B. Schüler in dieser Darstellung wiedererkennen, es fehlt ihr das Beschreibende. An Hand der kritischen Beschreibung einer Schüler- und Lehrlingsgruppe («Terror-Gruppe Neuruppin») möchte ich deshalb versuchen, die Momente der Verselbständigung und die sich daraus ergebenden Gefahren aufzuzeichnen.

Die «Terror-Gruppe Neuruppin» zeichnete sich aus durch ihren Mangel an Strukturiertheit. Sie setzte sich zusammen aus Oberschülern, kaufmännischen Lehrlingen und Lehrlingen aus Kleinbetrieben. Die Gruppe bildete eine Verschmelzung zweier Gruppen. Die eine konzentrierte sich um zwei Studenten, die auf einer Demonstration zu einigen Lehrlingen Kontakt aufgenommen hatten. Man hatte sich vorgenommen, Freizeitkommune zu machen. Die andere Gruppe scharte sich um ein paar Schüler, die sich zum Ziel gesetzt hatten, verschiedene isoliert agierende Gruppen zu vereinigen. (Dabei trat eine typische Erscheinung auf: Die Autoritäten der jeweiligen Gruppen wollten stets die an­dere Gruppe an die eigene Gruppe anschließen, die sie als ihre eigene begrif­fen. Natürlich sahen sie in der Vereinigung mit einer anderen Gruppe ihren alten Herrschaftsanspruch in Gefahr.) Diese Schülergruppe sah ihre Hauptauf­gabe in der Organisierung theoretischer Arbeit, wobei die Methode des Lern­prozesses mit reflektiert werden sollte. Die Gruppe hatte etwas äußerst Elitäres, da Diskussionen über geplante Aktionen aus den Arbeitskreisen in den exklu­siven Zirkel der Autoritäten verlegt wurde, wodurch die anderen zu deren Exe­kutive degradiert wurden. Das übliche Autoritätsproblem vermochte man in den Arbeitskreisen nicht zu lösen, man blieb in der Artikulation der aufgetre­tenen Probleme stecken, fand aber keinen Ansatz, diese aufzuheben.

Beide Gruppen kamen über eine Osteraktion zusammen, die Zeugnisverbrennung. Man wollte damit versuchen, direkt an die Probleme der Schüler zu appel­lieren. Dafür war der Tag der Zeugnisausgabe tatsächlich der markanteste Ter­min, denn die Szenen in Schule und Elternhaus, die sich um die Zeugnisse ab­spielen, lassen etwas von der wahren Brutalität dieses Systems des Leistungs­zwanges ahnen, der sich hinter der Maske der Freiheit versteckt hält. Der An­satzpunkt war also richtig. Jedoch bildeten bei der Vorbereitung der Aktion hektische Aktivität und Desorganisation eine Einheit. Die Redner versuchten sich während der Aktion in der Rolle des SDS-Agitators und schafften nicht den Sprung zu einer ihnen adäquaten Aktionsform. So hatte das Ganze etwas sehr Aufgesetztes an sich. Während der gemeinsamen Vorbereitung der Aktion hoben sich die Grenzen der beiden Gruppen auf, und es kam zur Bildung von ingroups. Dadurch wurden einige, die nicht den neuen Kriterien entsprachen, zu Randfiguren gemacht. Die blieben schließlich weg. Diese Tatsache registrierte man mit Achselzucken, ohne daß sie Anstoß für eine kritische Überprüfung der Gruppenstruktur gegeben hätte. Man bemerkte nicht, daß die politischen Kriterien hinter den persönlichen zurückgetreten waren. Was anfangs eine positive Funktion hatte (zusammen wegzugehen etc.), da es die Fremdheit, mit der man sich gegenüberstand, überwand, wurde nun zur Hauptfunktion des gemeinsamen Treffens. Das Interesse verlagerte sich vom Politischen ins Private, und es ergab sich eine Pop-Clique im politischen Rahmen.


Linkeck Nr. 4/1968

Wichtig für die weitere gemeinsame Entwicklung war ein gemeinsam ver­brachtes Wochenendseminar. «Gruppen aller politischen Färbung» waren ver­treten, und ein geschniegelter Diskussionsleiter verband mit seinem ewigen Ge­plapper die einzelnen Diskussionsbeiträge und faßte gelegentlich zusammen, wobei er «jedem Standpunkt gerecht wurde». Man kann sich vorstellen, was dabei herauskam. Nach anfänglicher Beteiligung begann die Gruppe, das Ganze in ein permanentes Happening aufzulösen. Man redete die ganze Nacht, und die Erfahrung der Gemeinsamkeit ließ in den Gesprächen den Gedanken an Kommune wiederkehren.

In der Folgezeit wurde für die Gruppe Happening, das auf dem Wochen­endseminar noch Ausdruck spontanen Protestes war, zum Prinzip. Man fühlte sich zwar noch verpflichtet, zum I. Mai etwas Aktivität an den Tag zu legen, wobei das beste Flugblatt entstand, das die Gruppe jemals produzierte (Lehr-lingsflugblatt). Man organisierte am I. Mai gemeinsam mit anderen auch noch einen Schüler- und Lehrlingsblock (s. Buchumschlag), danach sah man aber kei­nen Termin mehr, der Aktivität erforderlich gemacht hätte. Man setzte sich auch keinen neuen. Man wollte sich endlich der Gruppenarbeit zuwenden, zu­sammen theoretisch arbeiten, was für die Gruppe wichtig war, wollte sie die absolute Dominanz einiger Leute aufheben. Die Lehrlinge sollten ihre Aus­bildungssituation analysieren, die Schüler sich mit diversen Schulmodellen be­fassen, um schließlich Möglichkeiten für eine antiautoritäre Schule zu entwer­fen. Man wollte sich also aufteilen. Für die Planung weiterer gemeinsamer Ak­tivität und die Diskussion auftretender Gruppenprobleme wurde ein wöchent­liches Plenum eingerichtet.
Inzwischen hatte sich jedoch ein merkwürdiges Phänomen eingeschlichen.

Es breitete sich eine allgemeine Zärtlichkeit in der Gruppe aus. Da der große Teil der Gruppe aus Jungen bestand, wurden die Zärtlichkeiten vorwiegend unter Jungen ausgetauscht. Doch machten sie dabei vor dem Bett halt. Der Wunsch, mit einem Mädchen zu schlafen, war allen Jungen gemeinsam. Der allgemeine Austausch von Zärtlichkeiten und die gemeinsam erlebten Frustra­tionen in den Beat-Kneipen verstärkten die Geschlossenheit der Gruppe und schufen eine ungeheure Solidarität. Diese Entwicklung bedingte das Scheitern der gemeinsamen politischen Arbeit. Das Plenum wurde zur allgemeinen Be­ratungsstelle, wohin man gehen wolle. Auch die Arbeitskreise erlitten dasselbe Schicksal. Auch sie wurden zum allgemeinen Treffpunkt. Die Gruppe war nicht mehr aufzuteilen, nicht mehr zu trennen. Die Beschäftigung mit der eigenen Problematik, Ausbildung und Schulmodelle, langweilte eher und löste sich des­halb auf im Austausch von Zärtlichkeiten, Unterhaltung etc. In diesem Stadium tauchte der Name «Terror-Gruppe Neuruppin» auf.(1)

In der folgenden Zeit zeigten sich in der anfänglichen Selbstironie Spuren von Wahrheit. Das drückte sich erstmals auf einer Fete aus: Nachdem man -sich selbst überlassen - eine Weile sich unterhalten, ein wenig geliebt und schließlich ferngesehen hatte, stöberte zufällig einer ein Bücherregal durch. Dabei nahm er ein Buch aus dem Regal, machte eine abfällige Bemerkung, lachte schließlich und warf das Buch auf den Boden in die Mitte des Zimmers. Als er bei seiner weiteren Suche auf noch mehr solcher Bücher stieß, begann sich auf dem Boden ein kleiner Stapel anzuhäufen. Darauf begannen die ande­ren, ihm bei der Auslese, die nach politischen Kriterien verlief, zu helfen. Das Ganze endet in einem allgemeinen Gelächter.

Als der Gastgeber aus dem Nebenzimmer, in dem sich die anderen Party-Gäste befanden, hereinkam, wurde er wütend und forderte die Gruppe auf, die Wohnung zu verlassen, da inzwischen auch seine Freunde gegangen seien. Die Neuruppiner wollten jedoch erst über die Bücher diskutieren und hielten so lange das Zimmer besetzt. Was sich daran anschloß, war eher eine Zänkerei als eine Diskussion. Schließlich ging man. Zwar versuchte diese Aktion sich noch politisch zu legitimieren, die spätere Wiederholung solcher Vorgänge ent­larvte jedoch diesen Versuch als eine Farce.
Aus dem früher antiautoritären Verhalten war ein autoritärer Akt geworden. (Später stellte sich heraus, daß die Frau des Gastgebers, angeregt durch die Terror-Gruppe, zwei Tage nach dem Vorfall die aussortierten Bücher in den Kel­ler verfrachtete.(2)

Die letzte Entwicklungsphase der Terror-Gruppe zeichnete sich durch absolu­te Inaktivität aus. Man sah seine Aufgabe im Happening, gefiel sich in der Rolle des ewigen Akteurs. Indem man auf diese Weise alle in die Rolle au­ßenstehender Betrachter gedrängt hatte, vertiefte man den Widerspruch zwi­schen erklärter Offenheit und faktischer Geschlossenheit der Gruppe. Sie be­gann genau dahin zu tendieren, was sie als ihren eigenen Tod definierte, die Isolation der Kommune. Manchmal wurden die Probleme durchaus diskutiert, und man sah dann sehr wohl, daß das Prellen von Zechen, das Auffliegenlassen von Festen etc. anscheinend doch am falschen Punkt einsetzte. Jedoch die allge­meine Zärtlichkeit, die anfangs die Aufgabe der Verdrängung der Konflikte übernommen hatte, erhielt nun eine neue Funktion: Die Konsequenzen zu verhindern, die die Diskussionen eigentlich hätten nach sich ziehen müssen. Die
Praxis der ewigen Provokationen setzte sich fort, ging Hand in Hand mit der Unfähigkeit, dabei Kommunikation zu anderen herzustellen. Auch das erkann­te man, und einige Male klang die Frage nach der Funktion der Gruppe an. Nichts anderes erfuhr aber eine größere Verdrängung als gerade diese Frage.
Um die politische Existenzberechtigung der Gruppe wiederherzustellen, flüch­tete man sich zurück in den Ruf nach theoretischer Arbeit. Zahlreiche Versuche wurden unternommen, um diese wiederaufzunehmen, sie scheiterten jedoch an der allzu großen Beliebigkeit, die in der Gruppe herrschte. Erstes Postulat war eben die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse geworden. Die Gruppe selbst war lediglich noch eine kuriose Art der Konsumgenossenschaft mit der Gratisware Zärtlichkeit.

In dieser verfahrenen Situation zog ein einzelner (allerdings aus der Kern­gruppe der Neuruppiner) die Konsequenz aus dem, was in der Gruppe selbst schon als Selbstkritik geleistet worden war. Die Kritik an der Unfähigkeit der Gruppe, den politischen Anspruch, mit dem sie aufgetreten war, in der Realität einzulösen, die ganze alte Kritik, die als reines Lippenbekenntnis ohne jedwede Konsequenz über die Bühne gelaufen war, wurde von ihm zusammengefaßt, in den richtigen Kontext gestellt und führte für ihn zu der letzten Endes einzig möglichen Konsequenz: zu gehen, um Neues zu versuchen, sich von dem Alten zu lösen, um nach kritischer Überprüfung der Vergangenheit ohne den Hemm­schuh des Alten das Neue beginnen zu können. Nicht das Wegbleiben eines ein­zelnen war die Bedrohung, sondern das Neue, das geschaffen werden sollte, um das Alte aufzuheben, seine Funktionslosigkeit durch die Praxis zu dokumen­tieren. Auf eine derartige Bedrohung der libidinös in sich geschlossenen Gruppe - so widersprüchlich diese libidinösen Beziehungen auch gewesen sein mö­gen - konnte diese nur aggressiv gegen den reagieren, der die Gruppenexi­stenz derart massiv anzugreifen drohte. Der Schwall an Kritik, der nun aus­brach, bezog sich weniger gegen die Gruppe selbst, ging nicht inhaltlich auf das Geschehene ein, sondern wurde vielmehr Kampfinstrument zur Verteidi­gung der gefährdeten Gruppenexistenz. Was dabei an Selbstkritik abfiel, kann man nur als Nebenprodukt des geführten Streites verstehen, diente wohl auch mehr der Neutralisierung der Gruppenkritik. Nach einiger Zeit heftig geführ­ter gemeinsamer Diskussionen sah man allgemein ein, daß man die alte Grup­penexistenz aufgeben mußte, wenn man wieder zusammen politisch arbeiten wollte. Indem man die Gruppe in einen neuen organisatorischen Rahmen setzt, in dem die Identität von formaler und faktischer Offenheit gewährlei­stet ist, heben sich ihre Grenzen von selbst auf. Die gemeinsame Vergangenheit tritt nur noch als positiver Faktor in Erscheinung, als praktische Solidarität auf Demonstrationen und in der gemeinsamen Arbeit.

Allzuleicht wird man die Beschreibung der «Terror-Gruppe Neuruppin» als die Beschreibung eines Sonderfalles abtun wollen. Ich glaube jedoch, daß unter den Bedingungen einer längeren Stagnation der Bewegung, besonders in mittelgroßen und Großstädten, Gruppen eine ähnliche Entwicklung durchlaufen können und werden, wenn die aufgezeigten Gefahren der Verselbständigungen nicht ständig reflektiert werden. Die gemeinsam erlebten Frustrationen und die daraus entstehenden Aggressionen können diesen Gruppen terroristi­schen Anstrich verleihen. Was sich positiv auf Aktionen auswirken kann, wo manche ihre Angst hinter zur Phraseologie erstarrten Zitaten aus dem "Linksradikalismus ..." Lenins verstecken zu müssen glauben, erfährt Momente der Verselbständigung im allgemeinen Auftreten der Gruppe. Wenn diese Schüler an Hand ihrer eigenen Bedürfnisse aktiviert worden sind und ihnen nur auf ho­her Abstraktionsebene die gesellschaftliche Bedingtheit der Unterdrückung ihrer Bedürfnisse klargemacht worden ist, was ja wiederum auf den objektiven Tatbestand der immer größer werdenden Anonymität der Unterdrückungsinstan­zen zurückgeführt werden muß, dann richtet sich ihr Aufstand gegen alles und jeden, wird der im Emanzipationskampf berechtigte Terror für die Schaffung einer freien Gesellschaft zum prinzipiellen Terror gegen alles, was sich nicht direkt mit den sich Auflehnenden in Verbindung bringen läßt, verzichtet man in seinem Widerstand auf die Differenzierung zwischen Unterdrückern und Unterdrückten. Indem dieser Terror sich seiner politischen Intention beraubt, seine Funktion nicht mehr reflektiert wird, läßt er sich leicht abschieben auf das Gleis des rein Kriminellen, was die Gewaltanwendung der Herrschenden wieder legitim erscheinen läßt. Die politische Gruppierung wird zur Bande und der geleistete Widerstand neutralisiert sich selbst, verliert seinen subversiven Charakter, seine Gefährlichkeit für das System.

Anmerkungen

1) In der Autorendiskussion haben wir uns lange darüber gestritten, ob der Gebrauch des Wortes «Terror» in diesem Beitrag nicht mißverständlich sei und der Intention des Aufsatzes zuwiderlaufe. Wir haben uns schließlich entschie­den, den Terminus beizubehalten. Verständlich wird diese Entscheidung aber nur, wenn man etwas über die Ursache der Namensgebung weiß. Neuruppin ist eine kleine Stadt in der DDR, in der sich ein Irrenhaus befindet. Die Bezeich­nung Terror-Gruppe ist als Reaktion auf den in der Öffentlichkeit gegen die antiautoritäre Bewegung erhobenen Terrorvorwurf zu verstehen. Die selbstiro­nische Namensgebung verlor aber, wie dieser Beitrag zeigt, ihre spielerische Be­deutung, weil die Gruppe, wenn zwar nicht Terror, so doch terroristische Mo­mente entwickelte. Dabei richtet sich dieser Terror nicht, was unter bestimmten historischen Bedingungen richtig wäre, gegen die «feindliche Gesellschaft», son­dern gegen die diese Gesellschaft bekämpfende antiautoritäre Bewegung selbst, aus der die Gruppe hervorging. Das gilt auch für die Kommune in Berlin (K I).

2) Tatsächlich hatte schon dieser Vorfall - und nicht erst spätere - keinerlei politischen Anstoß, wenn nicht Langeweile und Aggressivität politisch sind. Die Auswahlkriterien für solche «symbolische Bücherverbrennungen waren nicht ganz eindeutig, betrachtet man die sortierten Bücher. Sie schienen in einigen Fällen von Unkenntnis oder durch negative Schulerfahrung motiviert, wobei übersehen wurde, daß das, was die Schule aus einem Buch machen kann, nicht identisch sein muß mit dem, was das Buch ist. Anstatt dem Lehrer in der Schule die Interpretation um die Ohren zu hauen, schmiß man die Bücher auf den Boden. Insofern war das Verhalten nicht nur autoritär, sondern - gemessen an den eigenen Ansprüchen - auch feige.

Quelle: aus: Ezra Gerhardt, Über die Praxis der Schülerbewegung, in:  Kinderkreuzzug, hrg.v. Günter Amendt, Reinbek November 1968, S.81-89