Von Bertolt Brecht lernen!
Welche Haltung sollten Linke zur Wiederholung der MSA-Mathe-Prüfung wegen Täuschung sowie zur Einrichtung eines Schülerknast einnehmen? Welches wären die Grundzüge einer radikalen Schulkritik?

06/08

trend
onlinezeitung

Zwei Ereignisse die Staatsschule betreffend beschäftigten in den letzten Tagen (nicht nur) die Berliner Lokalpresse:

Der Schülerknast

Im Januar 2008 hatte der rechte Rotterdamer Bürgermeister, Ivo Opstelten, Berlin besucht, um das sozialdemokratische politische Personal von Berlin über sein "Integrationskonzept, das alle Einwohner in die Pflicht nimmt und sie zugleich anregt, aktiv am Stadtleben zu partizipieren" zu unterrichten, nämlich:

Einladung zum TREND-Stammtisch
mit lecker VoKü


am Freitag., den 27.6.08 (EM spielfrei)
 um 20 Uhr in der
Lunte
Stadtteil- & Infoladen
Weisestr. 53, 12049 Berlin
U-Bhf. Boddinstr.
Tel.: 030 - 622 32 34
Fax: 0721 151441380
funke@dielunte.de

 

Razzien ohne Vorankündigung, No-Go-Areas, gläserne BürgerInnen, "keine Prävention ohne Repression" gegen "Parallelgesellschaften" und und und....

SPD Rechtsausleger und Bürgermeister von Neukölln, Heinz Buschkowsky, erstattete im Juni einen Gegenbesuch  und kehrte begeistert zurück. Sofort ließ er die Presse wissen, dass ihm Rotterdam ein Vorbild sei und dass auch er repressive Maßnahmen gegen "'Unruhestifter" ergreifen werde.

Seine rechte Hand der Neuköllner SPD-Kreisvorsitzende, Freund der Bundwehr. Dr. Felgentreu, Alt-Philologe und Spezialist für Sicherheit, Ordnung und Verfassungsschutz im Berliner Abgeordnetenhaus legte zeitgleich ganz in diesem Sinne  die so genannte Groß-Pinnower Erklärung vor. Dieses Papier für den bildungspolitischen Landesparteitag der Berliner SPD im September 2008 mit dem bezeichnenden Titel, Schule und Schulpflicht ― Grundstein der gesellschaftlichen Integration, schlägt vieles vor, was Rotterdam  vorexerziert: So genannte Schulschwänzer - besonders jene mit Migrationshintergrund - sollen vom regulären Schulbesuch ausgeschlossen und in einer Art Heimschule weggeschlossen werden, von wo aus sie dann schulentlassen werden. Die evangelische Kirche wird Betreiber sein. Den Eltern wird mit Überwachung, Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts und des Kindergeldes, ja sogar mit Führerscheinentzug gedroht.

Die MSA-Prüfung in Mathe

Rund 3.000 SchülerInnen demonstrierten am 16. Juni vor dem Berliner Roten Rathaus mit der Forderung, der Senat solle die für den 23. Juni angekündigte Wiederholung der MSA-Prüfung im Fach Mathematik zurücknehmen. Aufgaben sollten im Vorfeld des Tests bis an die 80 Schulen gelangt sein, so dass es hätte möglich gewesen sein können, dass sich SchülerInnen auf die Prüfung vorbereiten.

Es wurden seitens der Presse täglich reichlich Vermutungen breit gestreut, so dass sich ein Kreis von Schülern entschloss, sozusagen aus dem Stand, eine Demo zu mobilisieren. Aber wie es immer so ist, die organisierte Spontaneität ist die beste. Und so stellte sich schließlich heraus, dass die organisierenden Kräfte in oder entlang der Schülerunion zu finden sind.

Erreicht wurde nichts, außer dass hier einige Lehrstunden in praktischer Staatsbürgerkunde verabreicht wurden. Den krönenden Abschluss dieser Unterweisung bildete das Scheitern eines Verwaltungsgerichtsverfahrens zur Verhinderung der Prüfungswiederholung.

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Beide Ereignisse überlagerten sich in der öffentlichen Wahrnehmung. Doch durch die reale Bewegung auf der Straße rückte die MSA-Frage in den Mittelpunkt - jedoch nicht bei den Linken - abgesehen von der Gruppe REVOLUTION und AIR deren Berichterstattung wir hier übernehmen.

Ganz anders bei der Frage der Einrichtung von Schülerknästen. Hier hatten wir mit einer schnellen  Reaktion im linken Spektrum erwartet. Zumindest von Zusammenhängen, wie das Tommy-Weisbecker oder das Rauchhaus - Projekte, die einmal im Kampf gegen den Heimterror entstanden sind.

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Wir meinen, dass diese Zurückhaltung darauf beruht, dass die radikale Linke über keine prinzipielle Kritik der Staatsschule verfügt und daher Schul- und Bildungsfragen den reformistischen Kräften von Grünen, SPD und Linkspartei überlässt.

Wir wollen, wie bereits vor einem Jahr am Beispiel Rütli während des Sozialforums von uns versucht, auf dem Gebiet der Entwicklung einer prinzipiellen Kritik an der Staatsschule ein wenig vorankommen. Da der Rahmen diesmal unser TREND-Stammtisch ist, meinen wir, dass es passend wäre, mit einer literarischen Vorlage, die im Kern beide hier angesprochenen Ereignisse zum Gegenstand hat, die Debatte wieder zu eröffnen.

Hier ist sie. Bertolt Brecht: Flüchtlingsgespräche

ÜBER DEN UNMENSCHEN
GERINGE FORDERUNGEN DER SCHULE
HERRNREITTER

Ziffel ging beinahe täglich in das Bahnhofrestaurant, denn in dem großen Lokal war ein kleiner Stand für Tabakwaren, und zu unregelmäßigen Zeitpunkten erschien ein Mädchen, die, ein paar Tüten unterm Arm, aufschloß und dann 10 Minuten lang Zigarren und Zigaretten verkaufte. Ziffel hatte schon ein Kapitel von seinen Memoiren in der Brusttasche und lauerte auf Kalle. Als er eine Woche lang nicht kam, dachte Ziffel schon, er habe das Kapitel umsonst geschrieben, und stoppte alle weitere Arbeit. Er kannte außer Kalle niemand in H., der deutsch sprach. Aber am zehnten oder elften Tag erschien Kalle und zeigte keine besonderen Anzeichen von Schrecken, als Ziffel sein Manuskript hervorzog.

Ziffel

Ich fange an mit einer Einleitung, in der ich in bescheidenem Ton darauf aufmerksam mache, daß meine Meinungen, die ich vorzubringen gedenke, wenigstens bis vor kurzem noch die Meinungen von Millionen waren, so daß sie also doch nicht ganz uninteressant sein können. Ich überspring die Einleitung und noch ein Stück und komm gleich auf die Ausführungen über die Erziehung, die ich genossen habe. Diese Ausführungen halt ich nämlich für sehr wissenswert, stellenweise für ausgezeichnet, beugen Sie sich ein wenig vor, daß der Lärm hier Sie nicht stört. Er liest: »Ich weiß, daß die Güte unserer Schulen oft bezweifelt wird. Ihr großartiges Prinzip wird nicht erkannt oder nicht gewürdigt. Es besteht darin, den jungen Menschen sofort, im zartesten Alter in die Welt, wie sie ist, einzuführen. Er wird ohne Umschweife und ohne daß ihm viel gesagt wird, in einen schmutzigen Tümpel geworfen: Schwimm oder schluck Schlamm!

Die Lehrer haben die entsagungsreiche Aufgabe, Grundtypen der Menschheit zu verkörpern, mit denen es der junge Mensch später im Leben zu tun haben wird. Er bekommt Gelegenheit, vier bis sechs Stunden am Tag Roheit, Bosheit und Ungerechtigkeit zu studieren. Für solch einen Unterricht wäre kein Schulgeld zu hoch, er wird aber sogar unentgeltlich, auf Staatskosten geliefert.

Groß tritt dem jungen Menschen in der Schule in unvergeßlichen Gestaltungen der Unmensch gegenüber. Dieser besitzt eine fast schrankenlose Gewalt. Ausgestattet mit pädagogischen Kenntnissen und langjähriger Erfahrung erzieht er den Schüler zu seinem Ebenbild.

Der Schüler lernt alles, was nötig ist, um im Leben vorwärts zu kommen. Es ist dasselbe, was nötig ist, um in der Schule vorwärts zu kommen. Es handelt sich um Unterschleif, Vortäuschung von Kenntnissen, Fähigkeit, sich ungestraft zu rächen, schnelle Aneignung von Gemeinplätzen, Schmeichelei, Unterwürfigkeit, Bereitschaft, seinesgleichen an die Höherstehenden zu verraten usw. usw.

Das Wichtigste ist doch die Menschenkenntnis. Sie wird in Form von Lehrerkenntnis erworben. Der Schüler muß die Schwächen des Lehrers erkennen und sie auszunützen verstehen, sonst wird er sich niemals dagegen wehren können, einen ganzen Rattenkönig völlig wertlosen Bildungsgutes hineingestopft zu bekommen. Unser bester Lehrer war ein großer, erstaunlich häßlicher Mann, der in seiner Jugend, wie es hieß, eine Professur angestrebt hatte, mit diesem Versuch aber gescheitert war. Diese Enttäuschung brachte alle in ihm schlummernden Kräfte zu voller Entfaltung. Er liebte es, uns unvorbereitet einem Examen zu unterwerfen, und stieß kleine Schreie der Wollust aus, wenn wir keine Antworten wußten. Beinahe noch mehr verhaßt machte er sich durch seine Gewohnheit, zwei bis drei Mal in der Stunde hinter die große Tafel zu gehen und aus der Rocktasche ein Stück nicht eingewickelten Käses zu fischen, den er dann, weiterlehrend, zermummelte. Er unterrichtete in Chemie, aber es hätte keinen Unterschied ausgemacht, wenn es Garnknäuelauflösen gewesen wäre. Er brauchte den Unterrichtsstoff, wie die Schauspieler eine Fabel brauchen, um sich zu zeigen. Seine Aufgabe war es, aus uns Menschen zu machen. Das gelang ihm nicht schlecht. Wir lernten keine Chemie bei ihm, wohl aber, wie man sich rächt. Alljährlich kam ein Schulkommissar und es hieß, er wolle sehen, wie wir lernten. Aber wir wußten, daß er sehen wollte, wie die Lehrer lehrten. Als er wieder einmal kam, benützten wir die Gelegenheit, unsern Lehrer zu brechen. Wir beantworteten keine einzige Frage und saßen wie Idioten. An diesem Tage zeigte der Mensch keine Wollust bei unserem Versagen. Er bekam die Gelbsucht, lag lange krank und wurde, zurückgekehrt, nie wieder der alte, wollüstige KäsemummlerjDer Lehrer der französischen Sprache hatte eine andere Schwäche. Er huldigte einer bösartigen Göttin, die schreckliche Opfer verlangt, der Gerechtigkeit. Am geschicktesten zog daraus mein Mitschüler B. Nutzen. Bei der Korrektur der schriftlichen Arbeiten, von deren Güte das Aufrücken in die nächste Klasse abhing, pflegte der Lehrer auf einem besonderen Bogen die Anzahl der Fehler hinter jedem Namen zu notieren. Rechts davon stand dann auf seinem Blatt die Note, so daß er einen guten Überblick hatte. Sagen wir, 0 Fehler ergab eine I, die beste Note, 10 Fehler ergaben eine II usw. In den Arbeiten selber waren die Fehler rot unterstrichen. Nun versuchten die Unbegabten mitunter, mit Federmessern ein paar rote Striche auszuradieren, nach vorn zu gehen und den Lehrer darauf aufmerksam zu machen, daß die Gesamtfehlerzahl nicht stimmte, sondern zu groß angegeben war. Der Lehrer nahm dann einfach das Papier auf, hielt es seitwärts und bemerkte die glatten Stellen, die durch die Politur mit dem Daumennagel auf der radierten Fläche entstanden waren. B. ging anders vor. Er unterstrich in seiner schon korrigierten Arbeit mit roter Tusche einige vollkommen richtige Passagen und ging gekränkt nach vorn, zu fragen, was denn da falsch sei. Der Lehrer mußte zugeben, daß da nichts falsch sei, selber seine roten Striche ausradieren und auf seinem Blatt die Gesamtfehlerzahl herabsetzen. Dadurch änderte sich dann natürlich auch die Note. Man wird zugeben, daß dieser Schüler in der Schule denken gelernt hatte.

Der Staat sicherte die Lebendigkeit des Unterrichts auf eine sehr einfache Weise. Dadurch, daß jeder Lehrer nur ein ganz bestimmtes Quantum Wissen vorzutragen hatte und dies jahraus, jahrein, wurde er gegen den Stoff selber völlig abgestumpft und durch ihn nicht mehr vom Hauptziel abgelenkt: dem sich Ausleben vor den Schülern. Alle seine privaten Enttäuschungen, finanziellen Sorgen, familiären Mißgeschicke erledigte er im Unterricht, seine Schüler so daran beteiligend. Von keinerlei stofflichem Interesse fortgerissen, vermochte er sich darauf zu konzentrieren, die Seelen der jungen Leute auszubilden und ihnen alle Formen des Unterschleifs beizubringen. So bereitete er sie auf den Eintritt in eine Welt vor, wo ihnen gerade solche Leute wie er entgegentreten, verkrüppelte, beschädigte, mit allen Wassern gewaschene. Ich höre, daß die Schulen oder wenigstens einige von ihnen heute auf anderen Prinzipien aufgebaut seien als zu meiner Schulzeit. Die Kinder würden in ihnen gerecht und verständig behandelt. Wenn dem so wäre, würde ich es sehr bedauern. Wir lernten noch in der Schule solche Dinge wie Standesunterschiede, das gehörte zu den Lehrfächern. Die Kinder der besseren Leute wurden besser behandelt als die der Leute, welche arbeiteten. Sollte dieses Lehrfach aus den Schulplänen der heutigen Schulen entfernt worden sein, würden die jungen Menschen diesen Unterschied in der Behandlung, der so unendlich wichtig ist, also erst im Leben kennen lernen. Alles, was sie in der Schule, im Verkehr mit den Lehrern, gelernt hätten, müßte sie draußen im Leben, das so sehr anders ist, zu den lächerlichsten Handlungen verleiten. Sie wären kunstvoll darüber getäuscht, wie sich die Welt ihnen gegenüber benehmen wird. Sie würden fair play, Wohlwollen, Interesse erwarten und ganz und gar unerzogen, unge-rüstet, hilflos der Gesellschaft ausgeliefert sein. Da wurde ich doch ganz anders vorbereitet! Ich trat ausgerüstet mit soliden Kenntnissen über die Natur der Menschen ins Leben ein.

Ich hatte, nachdem meine Erziehung einigermaßen abgeschlossen war, Grund zu der Erwartung, daß ich, mit einigen mittleren Untugenden ausgestattet und einige nicht allzu schwere Scheußlichkeiten noch erlernend, halbwegs passabel durchs Leben kommen würde. Das war eine Täuschung. Eines Tages wurden plötzlich Tugenden verlangt.« Und damit schließ ich für heut, weil ich Sie jetzt gespannt habe.

Kalle

Ihr milder Standpunkt gegenüber der Schule ist ungewohnt und sozusagen von einer hohen Warte aus. Jedenfalls seh ich erst jetzt, daß auch ich was gelernt hab. Ich erinner mich, daß wir gleich am ersten Tag eine gute Lektion erhalten haben. Wie wir ins Klassenzimmer gekommen sind, gewaschen und mit einem Ranzen, und die Eltern weggeschickt waren, sind wir an der Wand aufgestellt worden, und dann hat der Lehrer kommandiert: »Jeder einen Platz suchen«, und wir sind zu den Bänken gegangen. Weil ein Platz zu wenig da war, hat ein Schüler keinen gefunden und ist im Gang zwischen den Bänken gestanden, wie alle gesessen sind. Der Lehrer hat ihn stehend erwischt und ihm eine Maulschelle gelangt. Das war für uns alle eine sehr gute Lehre, daß man nicht Pech haben darf.

Ziffel

Das war ein Genius von einem Lehrer. Wie hat er geheißen?

Kalle

Herrnreitter.

Ziffel

Ich wunder mich, daß er einfacher Volksschullehrer geblieben ist. Er muß einen Feind in der Schulverwaltung gehabt haben.

Kalle

Ganz gut war auch ein Brauch, den ein anderer Lehrer eingeführt hat. Er hat das Ehrgefühl erwecken wollen, hat er gesagt. Wenn einer . . .

Ziffel

Ich bin immer noch bei Herrnreitter, entschuldigen Sie. Ein wie feines Modell im Kleinen der aufgestellt hat mit seinen einfachen Mitteln, einem gewöhnlichen Klassenzimmer mit zu wenig Bänken, und doch habt ihr die Welt, die euch erwartet hat, klar vor Augen gehabt nach so was. Nur mit ein paar kühnen Strichen hat er sie skizziert, aber doch ist sie plastisch vor euch gestanden, von einem Meister hingestellt! Und ich wett, er hats ganz instinktiv gemacht, aus der reinen Intuition heraus! Ein einfacher Volksschullehrer!

Kalle

Jedenfalls erfährt er so eine späte Würdigung. Das andere war viel gewöhnlicher. Er war für Reinlichkeit. Wenn einer ein schmutziges Sacktuch benutzt hat, weil seine Mutter ihm kein reines gehabt hat, hat er aufstehen und mit dem Sacktuch winken und sagen müssen: »Ich habe eine Rotzfahne.«

Ziffel

Das ist auch brav, aber nicht mehr als Mittelmaß. Sie sagen selbst, er wollt Ehrgefühl erwecken. Das ist ein konventioneller Geist. Herrnreitter hatte den Funken. Er gab keine Lösung. Er stellte nur groß das Problem hin, spiegelte nur die Wirklichkeit wider. Überließ die Schlußfolgerung völlig euch selbst! Das wirkt natürlich ganz anders befruchtend. Für die Bekanntschaft mit diesem Geist bin ich Ihnen zu Dank verpflichtet. . , ..

Kalle

Bittschön.

Kurz darauf schieden sie voneinander und entfernten sich, jeder an seine Statt.

Und wer es gern etwas theoretischer möchte, hier der Altmeister:

Karl Marx: Kritik des Gothaer Programms

Die deutsche Arbeiterpartei verlangt als geistige und sittliche Grundlage des Staats:

1. Allgemeine und gleiche Volkserziehung durch den Staat. Allgemeine Schulpflicht. Unentgeltlichen Unterricht."

Gleiche Volkserziehung? Was bildet man sich unter diesen Worten ein? Glaubt man, daß in der heutigen Gesellschaft (und man hat nur mit der zu tun) die Erziehung für alle Klassen gleich sein kann? Oder verlangt man, daß auch die höheren Klassen zwangsweise auf das Modikum Erziehung - der Volksschule - reduziert werden sollen, das allein mit den ökonomischen Verhältnissen nicht nur der Lohnarbeiter, sondern auch der Bauern verträglich ist?

"Allgemeine Schulpflicht. Unentgeltlicher Unterricht." Die erste existiert in Deutschland, das zweite in der Schweiz [und] den Vereinigten Staaten für Volksschulen. Wenn in einigen Staaten der letzteren auch "höhere" Unterrichtsanstalten "unentgeltlich" sind, so heißt das faktisch nur, den höheren Klassen ihre Erziehungskosten aus dem allgemeinen Steuersäckel bestreiten. Nebenbei gilt dasselbe von der unter A. 5 verlangten "unentgeltlichen Rechtspflege". Die Kriminaljustiz ist überall unentgeltlich zu haben; die Ziviljustiz dreht sich fast nur um Eigentumskonflikte, berührt also fast nur die besitzenden Klassen. Sollen sie auf Kosten des Volkssäckels ihre Prozesse führen?

Der Paragraph über die Schulen hätte wenigstens technische Schulen (theoretische und praktische) in Verbindung mit der Volksschule verlangen sollen.

Ganz verwerflich ist eine "Volkserziehung durch den Staat". Durch ein allgemeines Gesetz die Mittel der Volksschulen bestimmen, die Qualifizierung des Lehrerpersonals, die Unterrichtszweige etc., und, wie es in den Vereinigten Staaten geschieht, durch Staatsinspektoren die Erfüllung dieser gesetzlichen Vorschriften überwachen, ist etwas ganz andres, als den Staat zum Volkserzieher zu ernennen! Vielmehr sind Regierung und Kirche gleichmäßig von jedem Einfluß auf die Schule auszuschließen. Im preußisch-deutschen Reich nun gar (und man helfe sich nicht mit der faulen Ausflucht, daß man von einem "Zukunftsstaat" spricht; wir haben gesehn, welche Bewandtnis es damit hat) bedarf umgekehrt der Staat einer sehr rauhen Erziehung durch das Volk.

Doch das ganze Programm, trotz alles demokratischen Geklingels, ist durch und durch vom Untertanenglauben der Lassalleschen Sekte an den Staat verpestet oder, was nicht besser, vom demokratischen Wunderglauben, oder vielmehr ist es ein Kompromiß zwischen diesen zwei Sorten, dem Sozialismus gleich fernen, Wunderglauben.

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kamue für red. trend