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von Robert Hamm
03/02
 
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Bildung - Was ist das überhaupt? 

Wovon redet man/frau denn, wenn von Bildung geredet wird? Da wir alle ‘Bildung’ erfahren haben, und zwar aufgrund der seit gut 100 Jahren durchgesetzten Schulpflicht in der Regel in staatlichen Anstalten des Typs Normalschule (in seiner dreigliedrigen Version), verstehen wir uns vermeintlich ohne den Begriff der Bildung überhaupt noch thematisieren zu müssen. 

Das Bildungs-System ist demzufolge einfach das System, das Bildung vermittelt und was Bildung ist, wissen wir ja alle von vornherein ... oder etwa nicht? 

Schließlich gibt es ständige Debatten um Inhalte der schulischen Lernveranstaltungen, seit einiger Zeit auch angezettelt von Seiten der Industrie und aufgegriffen von prominenten Vertretern der Politik, die einen nach dem anderen Bildungsnotstand ausrufen - und dabei kräftige Schützenhilfe von den per Definition Ungebildeten, nämlich den Insassen der Bildungsanstalten, SchülerInnen und StudentInnen bekommen. Fast alle sind sich zur Zeit einig, daß ‘wir’ ‘zu wenig Bildung’ in der Schule erreichen, und daß das so doch nicht weitergehen könne, und daß es höchste Zeit sei, da doch mal richtig was zu unternehmen. 

'Wir' wollen hier zuerst einmal auf das Mißverständnis eingehen, die Schule sei dazu da, ‘Bildung’ zu vermitteln.

Das Bildungssystem (nicht nur) in diesem Land hat vier Funktionen.

1. Qualifikation - verkürzt: die Herstellung von Kenntnissen und materiellen Fähigkeiten, die im gesellschaftlichen Verwertungsprozess in als ‘Arbeit’ verwandelte Tätigkeit einsetzbar sind,

2. Legitimation - verkürzt: die Herstellung der Akzeptanz der ideologischen Grundlagen des herrschenden Verhältnisse,

3. Sozialisation - verkürzt: die Herstellung der für die möglichst reibungslose Einfügung in den gesellschaftlichen Verwertungsprozeß menschlicher Tätigkeit notwendigen Fähigkeiten, z. B. Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, etc.,

4. Selektion - die Herstellung einer Differenzierung unter den Individuen, die als Grundlage für ihre Positionierung innerhalb des Verwertungsprozesses dienen kann; wobei die Reihenfolge beliebig ist.

Organisiert wird das Erreichen dieser Ziele, die sozusagen noch VOR DER ANWESENHEIT EINER NACHWACHSENDEN GENERATION dieser als Forderung gegenüber stehen, durch den Staat. Dieser greift sich die Kinder, spätestens in der Schule, und führt sie den oben beschriebenen (Herstellungs-)Prozessen zu. Die ‘Krönung der Schullaufbahn’, das Abitur, eröffnet dann den Weg auf die Hochschule und ins Studium. Und da setzt sich der (spätestens) seit dem sechsten Lebensjahr inszenierte Prozeß auf einem ‘höheren Niveau’ fort.

Qualifikation, Legitimation, Sozialisation und Selektion bestimmen auch hier VON STAATS WEGEN den Alltag.

So ist ‘Bildung’ im Sinne des Bildungssystems das Heranbilden einer für die Erhaltung des bestehenden politischen und wirtschaftlichen Systems funktional ‘gebildeten’ nachwachsenden Generation. 

Davon ist ganz eindeutig der Begriff der Bildung zu unterscheiden, die jedeR einzelne für sich selber als relevant ansieht. 

Im individuellen Bildungsprozeß spielen vielmehr die jeweiligen ‘Fragen an die Welt’ die entscheidende Rolle, die jedeR einzelne gerade mit sich herumträgt. ‘Bildung’ in diesem Sinne bezeichnet die Erweiterung des Weltverständnisses, des Weltaufschlusses, den ein Mensch erlangt.

Dieses Interesse der Einzelnen findet sich jedoch im Bildungssystem als bestimmender Faktor nicht wieder. 

Letztlich ist es egal, ob Peter gerade etwas über Blitz und Donner erfahren will, weil er sich am Vorabend fasziniert das Gewitter am Fenster angeschaut hat oder ob Susanne die Frage nach dem Nutzen von Ohrwürmern umtreibt, die sie im Vorgarten gefunden hat. Das Bildungsinteresse der Einzelnen spielt im Bildungssystem eben keine maßgebliche Rolle. Vielmehr bestimmt das Interesse der Abnehmer der Produkte des Bildungssystems die Inhalte (und die ‘Bildung’) die darin vermittelt werden. Deshalb ist es eine schlicht vernebelnde Praxis, unkommentiert von ‘Bildung’ zu sprechen. Die Verwendung des Begriffes in der so üblichen Form setzt ‘Bildung’ schlicht gleich mit dem Angebot der Schule - und das ist genauso schlicht: falsch. 

Daher ist die ‘Bildungsexpansion’, die sich in den letzten Jahrzehnten (nicht nur) in Deutschland abgespielt hat, auch nicht mit einer Erweiterung des Weltverständnisses gleichzusetzen - sondern lediglich mit einem Ausbau des Bildungssystems. Es gibt eben mehr Schulen und längere Schulzeiten, aber mehr Bildung gibt es deshalb noch lange nicht. 

Wert der Bildung 

Bildung ist was Wert, das wissen wir alle.  Allerdings liegt auch hier ein Mißverständnis vor.

Mal angenommen, Peter und Susanne wären anhand ihrer ‘Fragen an die Welt’ im Bildungssystem ‘gebildet’ worden, hätten also ihre Art, die Welt zu verstehen, an ihren eigenen Interessen entlang entwickelt, so wäre das für sie sicher von großem Wert. Aber kaufen könnten sie sich davon noch lange nix, sprich: ihr Wissen, ihre ‘Bildung’ wäre relativ wertlos.

Das liegt einfach daran, daß der Wert einer Sache, genauso wie der Wert einer Kompetenz im kapitalistischen System alleine über die Verwertbarkeit im Sinne des Profits definiert wird. Was sich nicht verkaufen läßt, mag für den/die BesitzerIn noch so viel ‘Wert sein’, erst der Tauschakt, der den Wert in Geld realisiert läßt den Wert materialisieren, also realen Wert werden.

Das ist bei der Bildung nicht anders.

Das Tauschwertinteresse dominiert daher auch die Anstrengungen der SchülerInnen. Und wo es das nicht tut, da werden sie in der staatlicherseits hergestellten Konkurrenz als nicht im Sinne der Abnehmer der Endprodukte des Bildungssystems vernutzbare Ware in die entsprechenden Lager- und Produktionshallen geschickt - Hauptschule, Sonderschule ... Punkt!

So lernen die SchülerInnen im Durchlaufen des Bildungssystems die Interessen der Abnehmer als ihre eigenen zu übernehmen. Wer zu lange die eigenen ‘Fragen an die Welt’ stellt, dem gibt das Schulsystem die Antwort mittels Fünfen und Sechsen. Nur wer frühzeitig lernt, die angebotenen Antworten, die durch die LehrerInnen als ‘Stoff’, den es zu bewältigen gilt, vorgegeben werden, als diejenigen zu akzeptieren, nach denen man/frau doch eigentlich zu fragen gehabt hätte, hat eine Aussicht, im Bildungssystem eine ‘Bildung’ zu erlangen, die einen realen Wert hat.

Schließlich gipfelt die Schulkarriere in der Verleihung eines Abschlußzeugnisses, und hieran richtet sich dann der Marktwert des neu auf den Arbeitsmarkt geworfenen Nachwuchses aus. Kein Wunder also, daß im Rahmen einer 'Bildungsexpansion' die paradoxe Situation eintritt, in der Zertifikate sowohl auf- als auch gleichzeitig abgewertet werden. Schließlich funktioniert der Arbeitsmarkt nach genau den gleichen Konkurrenzgesetzen, nach denen der kapitalistische Markt gemeinhin organisiert ist.

Chancengleichheit I

Interessanterweise gilt die Konkurrenz auch im Kapitalismus nicht für alle gleichermaßen. Da gibt es zum einen die per Dekret Sonderbehandelten, z. B. weil sie das Pech hatten, in Islamabad zur Welt zu kommen.

Zum anderen aber, und nicht minder interessant, gibt es für diejenigen, die als nachwachsende Generation der Klasse der Abnehmer der Produkte des Bildungssystems angehören - und die, welche Errungenschaft, eben auch der Pflicht zum Durchlaufen des Bildungssystems nachzukommen haben - durchaus Möglichkeiten, sich innerhalb dieses Systems einen ‘etwas begünstigteren’ Startplatz im Rennen um ‘Bildung’ zu verschaffen.

„Begabt ist jedes Kind ... doch die Begabung braucht Möglichkeiten sich zu entfalten.

Die Schule Schloß Neubeuren bietet als Landerziehungsheim, also als Internat mit besonderer pädagogischer Prägung, ideale Voraussetzungen für die ganzheitliche Betreuung ihres Kindes. Im Sinne des Reformpädagogen Hermann Lietz werden ‘Kopf, Herz und Hand’ gleichermaßen geschult und Begabungen individuell gefördert. Schule und Sport, Kunst und Handwerk sind in Neubeuren sinnvoll aufeinander bezogen - ein idealer Ort, um neben einer anspruchsvollen schulischen Qualifikation auch soziale und kreative Fähigkeiten zu erlangen.

Die traumhaft schöne Lage der Schule vor der Kulisse der Alpen, der Charme des Schlosses und die einzigartige Landschaft prägten Generationen von Jungen und Mädchen. Viele berühmte Persönlichkeiten und Schüler aus aller Herren Länder haben in diesem ländlich-familiären und gleichzeitig internationalen Klima fürs Leben gelernt. (...)

In dieser familiären Gemeinschaft bieten sich den rund 200 Schülerinnen und Schülern Chancen, die eine öffentliche Schule nicht bieten kann. Kleine Klassen und Kollegstufenkurse ermöglichen auch im Schulbetrieb ein hohes Maß an individueller Förderung. Der sehr persönliche Unterricht wird durch intensive Betreuung während der täglichen Arbeitsstunden unterstützt. Schule und Freizeit, Leben und Lernen sind eng miteinander verknüpft. ...“ [1]

So etwas hat seinen Preis. In Neubeuren z. B. monatlich DM 3225,-; in Schloß Bieberstein bei Fulda DM 3430,-; in der ‘Steinmühle’ bei Marburg/Lahn DM 2550,-; in Brillantmont in der Schweiz Sfr 4000,- usw.

Wenn also wirklich mal ein Kind aus ‘besseren Kreisen’ die

„Übertrittsempfehlung für das Gymnasium knapp verfehlt ...

Die Schülerin Martine M., die derzeit die 4. Klasse einer Grundschule in Bayern besucht, hat die Übertrittsempfehlung für das Gymnasium nur knapp verfehlt. Statt des geforderten Notendurchschnittes von 2,3 hat sie leider nur einen Durchschnitt von 2,6 erreicht.

Martina bleibt jetzt in Bayern eigentlich nur noch eine Chance, nämlich den allseits gefürchteten Probeunterricht für den Übertritt auf das Gymnasium durchzuführen. Es ist allgemein bekannt, daß dies für die betroffene Schülerin und auch die Familie einen großen Streß bedeutet. Weiterhin ist die Durchfallquote bei diesem Probeunterricht sehr hoch.

Was wäre eine mögliche Alternative?

Bei dem jetzt erreichten Notendurchschnitt von 2,6 könnte Martina leicht in ein anderes Bundesland wechseln und dort ein staatlich anerkanntes Gymnasium (z. B. in Bieberstein bei Fulda ... R. H.) besuchen. Aufgrund der staatlichen Anerkennung ist später wieder ein Wechsel nach Bayern möglich und in diesem frühen Kindesalter wird das Mädchen von einer Menge Schulstreß verschont.“[2]

Nicht verzagen, für läppische 3000 Mark im Monat werden wir das schon wieder hinbiegen! ‘Bildung’ hat eben einen hohen Wert und was einen hohen Wert hat, darf auch einen hohen Preis haben!

Die Chancengleichheit in der Bildungskonkurrenz gilt eben doch nicht für alle gleich. Das Portemonnaie der Eltern spielt da eben doch noch eine große Rolle. [3]

Chancengleichheit II 

Interessanterweise führte die ‘Bildungsexpansion’, wie sich anhand entsprechender Daten nachvollziehen läßt [4], zu einer verstärkten sozialen Auslese nach ‘schichtspezifischen Kriterien’ innerhalb des Bildungssystems, obwohl das Anliegen derjenige, die sie initiierten gerade der Ausbau der Chancengleichheit, der Bildungsgerechtigkeit, der ‘Durchlässigkeit’ war.  

Dennoch bleiben diese Schlagworte als ideologische Untermauerung der an der nachwachsenden Generation vollzogenen Behandlung leitende Motive. 

„Mit der Chancengleichheit wird die schulische Lernleistung zum bestimmenden Kriterium für die Sortierung nach geistiger Brauchbarkeit erklärt. Damit grenzt sich das demokratische Bildungswesen von vorbürgerlichen und faschistischen Auswahlverfahren ab. Weder die Herkunft noch der Nachweis, zur bevorzugten Rasse zu gehören, sind heute noch gültige Persilscheine. [5] Diese Kriterien sind vielmehr in den Ruf geraten, nicht nur ungerecht, sondern auch sonst moralisch äußerst zweifelhaft zu sein ...

Es sind Zweckmäßigkeitserwägungen, die (den bürgerlichen Staat) dazu bewogen haben, die Auswahl für die ‘gehobenen Stände’ nach dem Prinzip der Chancengleichheit zu veranstalten. An die Stelle einer vor der Beschulung erfolgten Auslese tritt die Verbindung des Bildungsprogramms mit der gesellschaftlichen Sortierung. Chancengleichheit ist die Installierung des Ausschlusses von weiterführender Bildung nicht vor sondern durch die Bildung.“ [6]

„Das Prinzip der Chancengleichheit ist in den Ruf gekommen, eine soziale Großtat ersten Ranges eingeleitet zu haben. (...) Bereits in der Primarstufe wird gelernt, daß man sich über Gleichheit zu begeistern und Ungleichheit zu beklagen hat. Dabei gibt es an Gleichheit ebenso wenig etwas zu feiern, wie es an Ungleichheit für sich etwas zu bemängeln gibt. Worin Menschen gleich oder ungleich sind, sollte allemal von größerem Interesse sein als der abstrakte Egalitarismus oder sein Gegenteil. Das ist auch dem Veranstalter der Schule durchaus geläufig. Er selbst sieht in der Chancengleichheit nicht ein bedingungslos zu verfolgendes Ziel, sondern ein praktisches Mittel seiner Auslese und verfällt deswegen selbst keineswegs dem von ihm propagierten Gleichberechtigungskult. Bei anderen Ausleseprozessen hält er denn auch das Kriterium der natürlichen Eignung für durchaus angebracht und schreitet nicht ein, wenn etwa Unternehmer Leute von ihren Lohnlisten streichen, die ihr Arbeitsvermögen in der Fabrik gelassen haben oder diejenigen gar nicht erst aufnehmen, die zufälligerweise weiblichen Geschlechts und um ‘gebärfähigen’ Alter sind. Und auch eine Auslese nach Herkunft, also nach Stand und Vermögen weiß er zu schätzen, wenn es paßt. Das zeigt sich nicht nur an der Einladung zum ‘Wiener Hofball’ oder an der Vergabe von Bundesverdienstkreuzen. So ist es hierzulande beispielsweise ganz selbstverständlich, daß bei einer Konkurrenz um Kredite bevorzugt diejenigen bedient werden, die über Reichtum in der einen oder anderen Form bereits verfügen.“ [7]

Und daß derlei Auseinanderklaffen sozialer Realität und ideologischer Zurichtung den davon Betroffenen nicht verborgen bleiben wird, ist nicht schwer nachzuvollziehen.

So ist es angesichts einer Millionenzahl von Arbeitslosen auch kein Wunder, daß die ideologische Peitsche der Behauptung, Arbeitslosigkeit entstehe aufgrund von Faulheit und Asozialität der Betroffenen nicht mehr zieht. Das glaubt doch keineR mehr!  

Und genauso im Bildungswesen. Die Entkoppelung des im Zeugnis/Diplom gegebenen Versprechens von der Bereitstellung eines der jeweiligen ‘Qualifikation’ entsprechenden Arbeitsplatzes mit dementsprechender Bezahlung ist durch die realen Verhältnisse schon gegeben. Wenn es ihnen paßt, machen die Unternehmen doch auch heute schon Einstellungstests (und es paßt ihnen flächendeckend immer öfter - es ist sogar eher ungewöhnlich, wenn das nicht passiert), und haben ihre je eigenen Kriterien, nach denen sie Arbeitsplätze vergeben.

Das wissen natürlich auch die SchülerInnen - und verhalten sich entsprechend.

Crisis? What crisis?

So ist die Krise des Bildungssystems auch in erster Linie nicht eine Krise auf der Ebene der Qualifikation des Nachwuchses - so sehr die Presse auch die entsprechenden Gebete der Industrie nachbetet. Vielmehr handelt es sich um eine Legitimationskrise ersten Ranges. 

Als Folge der neuen Qualifikationsanforderungen, die die Abnehmer der Produkte des Bildungssystems formulieren (vgl. die gesamte breit angelegte Kampagne um den Mangel an sozialen Fähigkeiten, bzw. das Konstrukt des Konzeptes ‘Lernen-zu-Lernen’, des ‘life-long-learning’) einerseits und der Entkoppelung der Arbeitsplatzversprechen von den erworbenen Zertifikaten gerät nämlich die gesamte institutionalisierte Bildungsveranstaltung ins Zwielicht. 

Schon seit jeher weit davon entfernt, das was ihnen da als Stoff präsentiert wird, für die Antwort auf ihre je eigenen ‘Fragen an die Welt’ zu erkennen, glauben die SchülerInnen eben auch zunehmend nicht mehr an das Verwertungsversprechen der ihnen zur Bewältigung gegebenen Aufgaben. Wenn das Wissen, welches in einem Beruf relevant ist, innerhalb von wenigen Jahren veraltet, mithin das, was heute gelernt wird, schon morgen veralten und übermorgen museumsreif ist, bricht ein wesentliches Argument seitens der LehrerInnen weg. Völlig zurecht interessiert es die SchülerInnen auch unter dem Aspekt der Verwertung der Qualifikation im Erwerbsleben NICHT, was ihnen per Lehrplan angeboten wird.

Und erst recht fehlt angesichts der völlig unkalkulierbaren beruflichen Zukunft zunehmend die Bereitschaft, sich dem schulischen Regiment (erinnere: Sozialisationsfunktion), welches in der Tradition der preußischen Obrigkeitsstaatlichkeit auf den Elefantenfüßen des Beamtentums thront, zu unterwerfen. Resultat, von LehrerInnen zunehmend beklagt [8]: die SchülerInnen spielen nicht mehr mit! 

„Während in der modernen BRD-Gesellschaft in und jenseits der Produktionssphäre ständische Strukturen wegschmelzen, soziale Milieus zerfallen und sich auf anderer Grundlage neu bilden, existiert die Staatsschule weiterhin mit ihrem Zwangscharakter und ihrer ständischen Schulzweiggliederung und gerät so als Disziplinierungssystem sowohl in Gegensatz zu den Erfordernissen moderner Arbeitsprozesse als auch zu den Bedingungen veränderter Kindheit. Der sich abzeichnende Niedergang der BRD-Staatsschule erfolgt daher nicht durch Implosion, sondern durch die Inkompatibilität des ganzen Systems zu den laufenden gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse.

Es handelt sich daher nicht um eine zyklisch im Kapitalismus auftretende Funktionskrise sondern um die Legitimationskrise eines für die gesamtgesellschaftliche Reproduktion zentralen gesellschaftlichen Bereiches. Der Umbau des Staats zum sogenannten schlanken Staat forciert die Auflösung antiquierter schulischer Strukturen. Damit wird der Staat als kollektiver Volkserzieher (ungewollt) gleich mit in Frage gestellt.“ [9]

Wie geht das zusammen - Bildungsexpansion und Legitimationskrise? 

Diese beiden Begriffe, die scheinbar widersprüchlich gegenüber stehen, ergänzen sich letztendlich zu einem der REALITÄT DES BILDUNGSSYSTEMS ENTSPRECHENDEN paradoxen Gesamtbild.

Antonio Lettieri (1972): „Für die meisten jungen Amerikaner von 18 bis 24 Jahren ist die Schule die einzige Möglichkeit, um der Armee oder der Arbeitslosigkeit zu entgehen. In den letzten fünf Jahren hat sich die Lage erheblich verschlimmert. Ende 1970 lag die Zahl der Arbeitslosen über 5 % der erwerbstätigen Bevölkerung, und nahezu 18 % dieser Arbeitslosen waren junge Menschen auf der Suche nach ihrer ersten Stellung. Die Schule ist somit zu einer Institution geworden, deren Funktion darin besteht, die überschüssigen Arbeitskräfte zu absorbieren, die Produktivkräfte, die das kapitalistische System nicht gebrauchen kann, verkümmern zu lassen. (...) Das Studium stellt so eine unproduktive unbezahlte Zwangsarbeit dar. Das ist eine der dehnbarsten Formen der Ausbeutung, die gleichzeitig den stärksten Entfremdungseffekt hat. Diese Tatsachen ... zeigen die Unzulänglichkeit der herkömmlichen Analyse, die sich damit begnügt, die ‘Funktionalität’ der Schule in Bezug auf die kapitalistische Produktion zu entlarven. Das trifft nur auf eine bestimmte Phase zu. Darüber hinaus kommt der Schule die Funktion der Unproduktivität, der Verschwendung, der Trennung der Jugend von der Arbeitswelt, vom Leben der Erwachsenen zu. DER NIVEAUVERLUST DER SCHULE ENTSPRICHT IHREM EBENSO UNGEHEUERLICHEN WIE SINNLOSEN WACHSTUM.“ [10] 

Die Ausbildungsplatzsituation in Deutschland hat sich in den letzten fünf Jahren ständig verschlechtert. Die Anzahl der Ausbildungsplätze auf je 100 BewerberInnen [11] betrug: 

 

West

Ost

91/92

188

67

92/93

165

64

93/94

128

58

94/95

110

52

95/96

97

44

96/97

87

45

Parallel dazu verzeichnen „berufliche Schulen, die Jugendlichen ohne Lehrstelle Zusatzqualifikationen vermitteln, ... einen besonders starken Zuwachs. Wie das Statistische Bundesamt in ‘Wiesbaden mitteilte, stieg die Schülerzahl im sogenannten Berufsvorbereitungsjahr um 16,1 Prozent, im Berufsgrundbildungsjahr um 7,7 Prozent und an Berufsfachschulen um 6,9 Prozent.“ [12] 

Um die gesamte Dimension zu ermessen ist es hilfreich sich die absoluten Zahlen zu vergegenwärtigen: Während 1995 an sog. Beruflichen Schulen 2.600.000 SchülerInnen zugerichtet wurden, befanden sich von diesen lediglich 1.600.000 in einer Ausbildung. Das heißt, eine Million Jugendliche und junge Erwachsene drehten ihre Runden innerhalb des Bildungssystems wie in einem Parkhaus von einem Stockwerk zum anderen! 

Glaubt irgend jemand ernsthaft, daß die da eine ‘intrinsische Motivation’ mitbrächten, die ihnen dargebotenen Lehrinhalte überhaupt einer tieferen Würdigung zu unterziehen? Und dennoch werden sie auch dort im Rahmen schulischer Strukturvorgaben in Form der auf die Ideologie des Leistungsprinzips verpflichteten Notenkonkurrenz mit der Anforderung konfrontiert, das abgekartete Spiel mitzuspielen. DAS IST DIE LEGITIMATIONSKRISE AUF DER EBENE DER MIKROPHYSIK DER SCHULE!

Anhang

1. Exkurs Geld 

Bildung kostet. Und zwar nicht wenig: 

1995 wurden an deutschen Schulen durchschnittlich DM 8100,- jährlich pro SchülerIn ausgegeben. Diese Summe gliedert sich in 6600,- DM für Personal, 800,- DM für Sachmittel und 700,- DM für Investitionen. 

Bei einer Gesamtzahl von 10.150.000 SchülerInnen (1997) errechnet sich daher ein Gesamtvolumen von: 82.215.000.000 DM, das von der Seite des Staates als Bildungsausgaben an die Schulen verteilt wurde. [13]  

Zu diesen 82 Milliarden kommen noch weitere Gelder für z. B. schulische Sonderprogramme (‘Schulen ans Netz’), SchülerInnenaustausch, etc. sowie die privaten Ausgaben in Höhe von 6,7 Milliarden jährlich, die direkt für die schulische ‘Bildung’ verwendet werden. [14] 

Darüber hinaus entstehen private Ausgaben für Weiterbildungs- und Nachhilfemaßnahmen, sowie Ausgaben, die indirekt mit der Schule zusammenhängen, z. B. für bestimmte Kleidung (Turnschuhe für den Sportunterricht).

Das Bildungswesen ist ein immenser Wirtschaftsfaktor. Die Vernutzung von Lebenstätigkeit im Sinne geldwerter Austauschprozesse findet hier in großem Stil statt. Und daß die derartigen Potentiale in diesem Bereich noch nicht mal ansatzweise ausgeschöpft sind, belegt die Debatte um ‘Öffnung der Schulen’ für Investoren (McDonalds-Werbung in der Pause über den Schullautsprecher ... dauert nicht mehr lange, dann ist das Alltag, wetten daß!)

2. Was fehlt 

Der Hinweis auf die Debatte vom Bildungsnotstand der sechziger Jahre und der Bezug zum historischen Prozeß der Systemkonkurrenz - Mauerbau und Stop der Wanderung der FacharbeiterInnen von Ost nach West.

Die Frage (und die Antwort) was eigentlich Lernen ist und warum in der Schule dieser Begriff in einer völlig unverstandenen Weise in Praxis umgesetzt wird. 

Die Darstellung der Schule als soziales Interaktionssystem mit Regeln, deren Befolgung schichtspezifische Unterschiede aufgrund der familiären Sozialisationsbedingungen notwendigerweise nach sich zieht.

Die Kritik der Sprache als entscheidendes Medium der Bildungsvermittlung im Zuge der Trennung von Hand- und Kopfarbeit. 

Eine tiefergehende Beschäftigung mit der Rolle des Staates und seiner AgentInnen im gesellschaftlichen ‘Spiel der Kräfte’. 

Eine adäquate ‘Würdigung’ der Anstrengungen der linken Schulkritik und der Gesamtschulbefürworter. 

Gargamel, der auf dem Weg zum Sarsaparillefeld von der Ordnungsmacht aufgegriffen und in die nächst JungarbeiterInnenklasse gesteckt wurde, wo er jetzt gemeinsam mit dem Griesgram-Schlumpf in einer Schulbank sitzend den ergötzlichen Ausführungen eines kurz vor der Verrentung stehenden Studienrates zum Problem des Konjunktives in Bewerbungsschreiben an Personalabteilungen von Betrieben mit mehr als 100 Beschäftigten südlich des 50. Breitengrades folgt. 

Ein gutes Ende!


[1] Fachbuch Internatsschulen 1997 der Euro Internatsberatung, S.60 ff; München 1997
[2] ebd. S. 39
[3] Auf den Preis, den Martina dabei zu zahlen hätte, können wir hier aus Platzgründen nicht näher eingehen. Es sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt, daß darin ein weiteres Problem liegt.
[4] siehe: Rainer Geißler, ‘Die Sozialstruktur Deutschlands’, Opladen 1996
[5] wenngleich, wie wir gesehen haben, durchaus noch Größen, die die Karriere im Bildungssystem beeinflussen können!
[6] Freerk Huisken; Weder für die Schule noch fürs Leben;  Hamburg 1992; S. 51 ff.
[7] ebd. S. 53 ff.
[8] und je nach argumentativer Geschicklichkeit als Asozialiltät, Zunahme der Gewalt oder ähnliches denunziert ...
[9] Karl-Heinz Schubert, Referat auf der Berliner Volksuni, Pfingsten 1995
[10] Antonio Lettieri; „Fabrik und Schule“; in: A. Gorz (Hrsg.); „Schule und Fabrik“; Berlin 1972;S. 68
[11] nach. Sozialpolitische Umschau 42/97; S. 15; Bonn 1997
[12] nach. Sozialpolitische Umschau 15/97; S. 22; Bonn 1997
[13] nach: Sozialpolitische Umschau 15/98; S. 50 ff.; Bonn 1998
[14] nach: Sozialpolitische Umschau 7/97; S. 15; Bonn 1997

Editoriale Anmerkung:

Der Autor schrieb:

Datum:
Wed, 27 Feb 2002 21:14:24 +0000
Von:
beniro <beniro@gmx.net>


hallo...

ich habe grade in einer verstaubten datei den angefügten artikel gefunden und dachte, vielleicht mögt ihr den irgendwo im trend einstellen. er ist schon ein paar tage alt (geschrieben 1997), daher die zahlen von 96/97, aber in der tendenz doch bestimmt nicht veraltet....