Editorial
Erinnerungsarbeit

von Karl Mueller
06/07

trend
onlinezeitung

Als am 2. Juni vor 40 Jahren in Westberlin der Student Benno Ohnesorg von einem Zivilbullen heimtückisch erschossen wurde, brach in den Köpfen derer, die mit Benno Ohnesorg zusammen gegen den Besuch des vielfachen Mörders Reza Palewi, den Schah von Persien, demonstriert hatten, im wahrsten Sinne ein Welt zusammen.

Bekanntlich erhielt die in Ansätzen entstehende Jugend- und Studentenbewegung einen gewaltigen Aufschwung durch dieses Ereignis und radikalisierte sich: Sie stellte den Kapitalismus als Produktionsweise in Frage. Sie entdeckte das Proletariat als historisches Subjekte und musste bei ihrem Blick zurück nach vorn feststellen, dass Benno Ohnesorg nicht der Erste in der Geschichte der BRD und Westberlin war, der sein politisches Engagement mit dem Leben bezahlte. 25 Jahre zuvor, am 11. Mai 1952, als Jugendliche aus ganz Deutschland in Essen eintrafen, um mit der "Bundesjugendkarawane" gegen die Schaffung der Bundeswehrzu demonstrieren, erfuhren sie per Lautsprecherdurchsage, dass die Demonstration von den Behörden verboten worden war.  Doch Prügelorgien und Verhaftungen konnten nicht verhindern,


Philipp Müller

dass sich immer neue Demonstrationszüge bildeten. Trotz des Verbotes demonstrierten 30.000. Die Polizei hatte Schießerlaubnis und sie schoss. Der 21jährige Kommunist Philipp  starb am „Essener Blutsonntag“  durch einen Schuss in den Rücken.

Es kann nicht schaden, kontinuierlich einen Blick in die Geschichte der sozialen Kämpfe und ihrer revolutionären Organisationen (oder solcher, die es werden wollten) zu werfen, wenn  mensch nicht will, dass einerseits die eigene Geschichte untergeht oder andererseits zum Steinbruch verkommt, aus dem sich das herrschende Personal nach seinen Interessen Brocken heraus bricht, um diese zu Legitimationszwecken zu missbrauchen.

Der TREND hat seit 1996 kontinuierlich daran gearbeitet, solch einem Geschichtsverständnis den Weg zu versperren. Wir glaubten, dies am besten dadurch leisten zu können, indem wir Dokumente, historische Quellen und Zeugnisse linker und linksradikaler Geschichte durch das Internet vielen Menschen (kostenlos) wieder zugänglich machen. Daher freuen wir uns besonders, dass wir die komplette westberliner Ausgabe der AGIT883 anlässlich des 40. Jahrestages der Ermordung Benno Ohnesorgs der Öffentlichkeit zu Verfügung stellen können. Hier kann jede/r nun selber, feststellen, was Hype oder historische Wahrheit ist, wenn über die Folgen des 2. Juni geredet wird und so ihren/seinen Kopf gegen die breitflächige Denunziation einsetzen, "68" habe direkt zur RAF geführt - ja beides wäre sogar inhaltsidentisch. Freilich wird die hießige Linke aus ihrer gesellschaftlichen Isolation kaum herauskommen, wenn sie nur allein den Blick zurück drauf hat.

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"Make Capitalism History" ist wegen G8 allweil zur griffigen Parole geworden. Ihre Protagonisten wollen jedoch nur ganz bescheiden: "die Herrschaft des Kapitals, den Neoliberalismus und also die G8 delegitimieren" (A&K, Nr.512). Danke. Das schafft der Kapitalismus schon alleine.

Was die Linke statt dessen braucht, sind eine aus der Kritik des Kapitalismus entwickelte programmatische Konturen einer Gesellschaft jenseits des Kapitalismus. Robert Schlosser knüpft an dieser Fragestellung an und veröffentlicht mit dieser Ausgabe seinen 1. Teil der Eckpunkte einer kommunistischen Programmatik. Wir sind gespannt, ob wir dadurch - auch im TREND - in eine breitere Debatte über das, was KommunistInnen heute wollen- sollen, eintreten können.

Wie uns Robert Schlosser nun zwischenzeitlich mitteilte, arbeitet er sehr intensiv an seinen "Eckpunkten" und diskutiert darüber mit Leuten aus seinem politischen Umfeld. Dabei könnte ja rumkommen - so sehn wir es vom TREND - dass daraus ein TREND-Nachtgespräch in den Wintermonaten wird. Wir wollen auch nicht ausschließen, dass die Veranstaltung mal nicht in Berlin stattfindet.

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Entgegen dem sonstigen Brauch ist dieses Editorial erst im letzten Monatsdrittel fertig gestellt worden. Dies hatte seinen guten Grund darin, dass für Mitte Juni eine Beiratssitzung angekündigt worden war, worüber noch in der Nr. 6-07 und nicht erst in der Sommernummer 7-8/07 berichtet werden sollte.

Der politische Beirat befasste sich u. a. mit dem hier angesprochenem Thema "Erinnerungsarbeit" und beschloss für den Herbst 2007 eine entsprechende TREND-Veranstaltung vorzubereiten. Bereits der spontan gewählte Arbeitstitel BRD 1977 - Klassenkämpfe im Polizeistaat zeigt an, dass wir versuchen werden, dem gängigen Geschichtsbild vom "Deutschen Herbst" (1977) mit seiner "Bleiernen Zeit", die angeblich wie Mehltau auf der Linken gelastet haben soll, ein anderes entgegenzustellen.

Im Zusammenhang mit dem Thema "Erinnerungsarbeit" begrüßte der Beirat auch ausdrücklich die virtuelle  Veröffentlichung der westberliner Agit 883 durch die TREND-Redaktion. Schlussendlich - so betonten die GenossInnen - sei es nicht hinzunehmen, dass die Geschichte der radikalen Linken in Archiven weggeschlossen wird. Daher  wünschten sie, dass demnächst noch etliche Mirrorseiten von der Agit 883 im Netz geschaffen werden.

Des weiteren kamen Beirat und Redaktion überein, drei weitere Veranstaltungen für den Herbst/Winter 2007/8 zu planen. Im Gespräch waren dabei das Thema "Wieviel Populismus braucht die Linke" - gemeint ist die Elsässer-Schmidt-Kontroverse (siehe dazu den entsprechenden Artikel von B. Schmid) und zwei Koop-Veranstaltungen mit dem UNRAST-Verlag.

Wir werden Euch auf dem Laufenden halten! Versprochen.

 

Nachtrag

Sascha Stanicic von der SAV
, der ab und zu unserer Zeitung Artikel zur Verfügung stellt (diesmal
Eine Nachbetrachtung zum G8-Gipfel) war nicht zufrieden mit dem Text von Dieter Elken über die SAV (Irrwege der SAV), den wir in der letzten Ausgabe veröffentlichten. Sascha Stanicic befürchtet, dass darin einige Behauptungen aufgestellt werden, die "ein falsches Bild der SAV erzeugen". Er belegte dies in seiner Email mit einigen Beispielen, die uns schlüssig dargestellt erschienen. Wir baten ihn daher um einen entsprechenden Artikel. Er war nicht abgeneigt, musste aber angesichts Arbeitsbelastung durch die aktuellen Ereignisse G8, Parteibildungsprozess "Die Linke" usw. erstmal passen.