Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe

von
Max Beer
06/04

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VI. Englische Utopien

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. Thomas Morus
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Thomas More (nach humanistischer Art in Morus verwandelt) wurde 1478 in London geboren. Sein Vater war Richter, der seinem Sohne eine gelehrte Erziehung gab. Thomas besuchte die Lateinschule, dann die Universität in Oxford, den Mittelpunkt der theologischen und humanistischen Gelehrsamkeit Englands. Auf Drängen seines Vaters studierte er auch Rechtswissenschaft in London und wurde Rechtsanwalt, folgte aber auch seiner Neigung zur Philosophie, Theologie und sozialen Forschung, studierte Plato und Augustinus und kam bald in den Ruf eines der größten humanistischen Gelehrten seiner Zeit. Er trug sich mit dem Gedanken, gleich seinen großen Vorgängern Duns Scotus und Occam, in den Franziskanerorden einzutreten, und nur die nach schwerer Selbstprüfung gewonnene Überzeugung, daß er das Keuschheitsgelübde nicht würde einhalten können, bestimmte ihn, Laie zu bleiben.

Er heiratete, wurde Vater, ging seiner Anwaltspraxis nach, und es gelang ihm bald, sich eine geachtete Stellung in London zu erringen. Er wurde Parlamentsmitglied, dann Vertrauensmann der Londoner Kaufmannschaft und schlichtete unter anderem ihre Streitigkeiten mit der deutschen Hanse in London. König Heinrich VIII. sandte ihn 1515 nach Antwerpen, um Handelsfragen zwischen England und Flandern zu erledigen; More fand noch Zeit, dort einen Teil der "Utopia" zu verfassen. 1518 trat er in Staatsdienst, 1529 wurde er Lordkanzler (höchster Beamter des Königreichs), wo er Gelegenheit hatte, die Schäden der englischen Gesellschaft kennenzulernen; er beklagte tief die Zertrümmerung der Dorfgemeinschaften, die Verwandlung der Äcker in Schaftriften, die Vertreibung der Bauern von ihren Ländereien, damit die Grundherren und die Äbte die Möglichkeit haben, Schafzucht zu betreiben und sich am Wollhandel mit Flandern zu bereichern.

Morus war selbstredend ein überzeugter Anhänger des Naturrechts. Die Entdeckung Amerikas und seiner gesellschaftlichen Organisationen schienen einen Beweis für die Richtigkeit des Naturrechts zu bilden. Er las mit innigem Interesse Amerigo Vespuccis "Mundus Novus" (Neue Welt), - eine kleine Flugschrift von acht Seiten, in der der berühmte Reisende seine zweite Reise, die er in Lissabon am 4. Mai 1501 angetreten hatte, beschreibt. Die Reise ging an den Kanarischen Inseln vorbei nach Kap Verde, "wo die Menschen naturgemäß leben; sie dürfen eher Epikuräer als Stoiker genannt werden. Sie haben kein Sondereigentum, alles ist gemeinschaftlich. Sie leben ohne König, ohne Oberherrschaft, jeder ist sein eigener Herr". Morus zweifelte nicht im geringsten an der sittlichen Vollkommenheit von Menschen, die im Naturzustände lebten: Naturzustand und Unschuldszustand waren ihm gleichbedeutend. In einem Briefe ah seinen Freund und einen der bedeutendsten englischen Humanisten und Lehrer, Johann Colet, spricht er mit hohem Lob von den Tugenden des ländlichen Lebens: "Auf dem Lande ist - im Gegensatz zur Stadt - das Angesicht der Erde froh und der Anblick des Himmels ist entzückend; man erblickt dort nur die segensreichen Gaben der Natur und die heiligen Spuren der Unschuld." In seiner "Utopia" er wähnt Morus mehrmals die "Gesetze der Natur" um "Leben nach der Natur".
Ein solcher Staatsmann mußte früher oder später in einen scharfen Gegensatz zum despotischen König Heinrich VIII. (1509-1547) geraten. Zum blutiger Austrag kam der Gegensatz, als Morus - von seinen katholischen Standpunkte aus - die Ehescheidungei des Königs nicht billigen konnte. Er wurde weger Hochverrats angeklagt und 1535 hingerichtet.

2. Utopia.

Morus' - 1516 erschienene - Utopia ist eine Anwendung der Ethik und Politik der Kirchenväter, so wie der Philosophie des Humanismus auf das größte weltliche Problem: die Organisation der menschlicher Gesellschaft im allgemeinen und der englischen Gesellschaft beim Übergang von der feudalen zur bürgerlichen Wirtschaft im besonderen. Sie zerfällt in zwei Teile: der erste ist sozialkritisch und untersucht die Wunden der auf Sondereigentum beruhenden Gesellschaft und des sozialen Körpers Englands irr 15. Jahrhundert; der andere Teil ist positiv und zeig) den Aufbau und die Zustände der kommunistischer Musterwirtschaft. In der Form ist die Utopia hauptsächlich erzählend. Die Hauptgestalt ist Raphael Hythlodäus, ein Weltreisender und humanistischer Philosoph, gelehrt, aufgeklärt, vollständig vertraut mit den besten Erzeugnissen des griechischen Denkens, ein entschiedener, kompromißloser und revolutionärer Kommunist: er ist der Entdecker Utopias und der Schilderer ihrer Vollkommenheit. Die zweite Gestalt ist Morus selber; er stimmt in jeder Beziehung mit der von Raphael geübten sozialen Kritik überein, aber nicht immer mit den praktischen Möglichkeiten des Kommunismus oder mit der Verwerfung von Kompromissen. Die dritte Gestalt ist Peter Ägidius, ein gebildeter, aber konservativer Kaufmann, ein im landläufigen Sinne guter Christ und Bürger, der den Handel gut versteht und mit den Gesetzen und Zuständen seines Landes zufrieden ist; er verteidigt die bestehende Ordnung; seine Rolle ist jedoch sehr untergeordnet, da die bestehende Ordnung theoretisch unhaltbar und gar nicht zu verteidigen ist; Ägidius dient nur als die Folie des Hythlodäus. Die Utopia zeigt demnach zwei soziale Gedankenrichtungen: die des revolutionären Kommunismus und die der Sozialreform. Hythlodäus ist überzeugt, daß "wo der Besitz privat und Geld das Maß aller Dinge ist, dort ist es schwierig oder fast unmöglich, dem Gemeinwesen gerechte Regierung und allgemeines Wohlergehen zu sichern". Morus hingegen kommt zum Schluß, daß, obwohl er nicht mit allem übereinstimmen könne, was Raphael gesagt habe, ,,so muß ich doch aussprechen und eingestehen, daß es viele Dinge im utopistischen Gemeinwesen gibt, die ich für unser Land eher wünschen, als auf sie hoffen kann".

3. Sozialkritik.

In einem Lande, wo die Adeligen, Goldschmiede, Wucherer (Bankiers), Hofleute usw. die größten Belohnungen und Gebühren erhalten, während für die Bauern, Landarbeiter, Schmiede, Tischler, Bergleute und andere Arbeitsleute, ohne die das Gemeinwesen gar nicht existieren könnte, gar keine Vorsorge getroffen wird, - in einem solchen Lande kann es keine Spur von Recht und Gerechtigkeit geben. Das Schicksal der Arbeitsleute ist sogar schlimmer als das der Arbeitstiere; Armut ist ihr Lohn, solange sie kräftig genug sind, beschäftigt zu werden, und Mittellosigkeit und Elend, wenn Alter und Krankheit sie arbeitsunfähig machen. Und die Gesetze sind stets gegen sie. Wenn wir dies alles im Auge behalten, ist es unmöglich, nicht zur Ansicht zu gelangen, daß die bestehende Ordnung nur eine Verschwörung der Reichen sei, um ihr eigenes Wohlergehen zu sichern. Geld und Hochmut sind die t Wurzeln aller Übel. Alle Verbrechen würden aufhören, wenn das Geld aufhörte; sogar die Armut, die doch scheinbar dem Mangel an Geld geschuldet ist, würde verschwinden, wenn das Geld verschwände. Die Reichen sehen dies zweifellos ein und wären bereit, die Gesellschaftsordnung zu ändern, aber der Hochmut, der König alles Unheils, hindert sie daran; der Gradmesser ihres Glücks ist das Elend anderer Leute. Eine andere Quelle des Unheils, die England eigentümlich ist, entspringt den Einhegungen und der Verwandlung des Ackerbodens in Schafweiden. Die Schafe, einst so milde und zahm, sind wild und raubgierig geworden. Sie verschlingen und zerstören den Bauer und seinen Acker. Wo die feinste Wolle gezogen wird, dort lassen die Edelleute und die Äbte keinen Boden für den Pflug übrig; sie sind nicht mehr zufrieden mit dem Einkommen, der Muße und den Vergnügungen, die der Ackerbau zu bringen pflegte, sondern sie suchen nach Reichtümern; unersättliche Habsucht veranlaßt sie, das Land zu entvölkern und es mit Schafen zu füllen; und sie tun dies mit Hilfe der gesetzlichen oder ungesetzlichen Betrügereien und Gewalttaten. Die Abnahme des Ackerbaues bewirkt eine Teuerung; die Teuerung bewirkt die Entlassung von Dienstboten, die hierdurch ihren Lebensunterhalt verlieren; das Steigen der Wollpreise erschwert den ärmeren Tuchmachern die Ausübung ihres Gewerbes. Der Reichtum des Landes wird von einer kleinen Zahl von Personen in Besitz genommen.

Die Habsucht der Wenigen hat das Wohl dieser Insel arg geschädigt. Die um sich greifende Armut und Beschäftigungslosigkeit führen zu Räubereien, Diebstählen und Landstreicherei. Die Arbeitslosen müssen entweder betteln oder stehlen; trotz der Verschärfung der Strafen nimmt die Zahl der Verbrechen nicht ab. Die Nation zieht Diebe und Landstreicher auf und bestraft sie dann. Ist dies Gerechtigkeit? Schreckliche Strafen werden den Dieben auferlegt, während man doch Vorsorge hätte treffen müssen, sie instand zu setzen, ihren Lebensunterhalt zu erwerben, so daß kein Mensch sich unter dem äußersten Zwange sehen sollte, vorerst zu stehlen und dann gehängt zu werden.

4. Reform oder Revolution.

Kann es irgendwelchen Nutzen bringen, den Königen und ihren Regierungen soziale Reformen vorzuschlagen? Oder - mit anderen Worten: Darf ein Kommunist in eine nichtkommunistische Regierung eintreten? Raphael antwortet: Nein. Reformvorschläge an nichtkommunistische Herrscher und Regierungen haben keinen Zweck. Morus aber meint, man dürfe die Möglichkeit der Verbesserungen durch Beratung der Könige nicht ausschalten, denn "man darf das Schiff inmitten eines Sturmes nicht deshalb aufgeben, weil man nicht imstande ist, den Sturm zu beherrschen; ebensowenig darf man mit Ratschlägen kommen, die aus neuen Idealen entspringen, die kein König - außer ein Philosophenkönig, der aber keine Ratschläge braucht - annehmen würde; man muß vielmehr klug zu Werke gehen und die Sache diplomatisch behandeln, so daß, wenn man nicht in der Lage ist, das Beste zu erreichen, man wenigstens das Schlimmste verhütet; denn es ist gar nicht möglich, daß alle Dinge gut sind, solange nicht alle Menschen gut sind, was aber noch viele Jahre braucht, ehe man auf einen derartigen Zustand rechnen dürfte. Hierauf antwortet Raphael: Fürsten und Regierungen kümmern sich hauptsächlich um Kriegsangelegenheiten (Eroberungen, Gebietserweiterungen, Armeen) und reichliche Staatsfinanzen. Ihre Minister und Berater helfen ihnen in der Ausführung dieser Pläne; deshalb werden sie geduldet; sie schmeicheln den königlichen Einfällen, preisen die königliche Weisheit; sie bedrücken und besteuern das Volk zur höheren Ehre der Fürsten. Was könnte ein Sozialphilosoph bei derartigen Fürsten ausrichten? Er würde entweder zur komischen Figur werden oder zu noch - Schlimmerem: er würde ebenso unsittlich werden wie die Regierung, oder das arme Volk würde ihn für schlecht halten und die ganze kommunistische Lehre verachten. Würde ein König auf den Rat eines Ministers hören, der ihm sagte, daß das Volk ihm die . Krone verliehen habe, nicht zu seinem persönlichen Wohle, sondern zum Wohle aller? Und würde er die Wahrheit begreifen, daß auch das kleinste Königreich viel zu groß ist, um von einem einzelnen Menschen beherrscht zu werden? Nein. Es ist nicht gut, in solchen Dingen diplomatisch zu sein. Alle Versuche, die sozialen Übel durch schlaue und reformistische Maßregeln zu lindern, führen zu nichts. Das einzige Heilmittel ist eine radikale Änderung des ganzen sozialen Systems. Plato handelte ganz richtig, als er es ablehnte, Gesetze für ein Land zu machen, wo das Sondereigentum herrscht. Derartige Länder mögen Gesetz auf Gesetz häufen, bis kein Jurist sie zählen kann, und dennoch werden sie nie Wohlergehen, Glückseligkeit und Frieden kennen. Denn solange das Sondereigentum herrscht, wird der größte und beste Teil der Nation zur Überarbeit und Armut verurteilt sein. Reformgesetze mögen einen Teil der Wunde heilen, aber sie verschlimmern gleichzeitig den anderen Teil der Wunde, so daß was einem Teile der Nation Nutzen bringt, dem anderen Teile Schaden zufügt.

Gegen diese revolutionäre Auffassung des Kommunismus wendet Morus ein: Die Entziehung des Ansporns zu persönlichem Gewinn, die Entziehung des Beweggrundes zu persönlichen Anstrengungen, wie dies unter einem System des Gemeineigentums der Fall sein muß, wird zur Nachlässigkeit in der Arbeit und zu allgemeiner Verarmung führen; und wenn dann der Druck der Armut das Volk aufregt und wenn auch keine Gesetze da sind, die Produktionsmittel und das Menschenleben zu schützen, werden dann nicht notwendigerweise Streitigkeiten, Feindschaften und Blutvergießen entstehen?

Auf diese Fragen, die seit der Aufstellung von kommunistischen Systemen an die Kommunisten gerichtet werden, gibt Raphael keine direkte Antwort, sondern er verweist auf das Beispiel der ütopier, die durch richtige Vernunft, eine weise Religion und gute Gesetze tugendhaft, pflichtbewußt und urteilsfreudig wurden. Raphael sagt deshalb, Morus' Beweisführung gegen die Möglichkeit des Kommunismus sei gesellschaftlichen Zuständen entnommen, die auf Sondereigentum beruhen, das nie gute Gesetze zuläßt, und das im Gegensatze steht zur rechten Vernunft und weisen Religiosität; der Geist und der Charakter der ütopier hingegen wurden durch eine kommunistische Lebensweise gebildet.

5. Aufbau und Einrichtungen Utopias.

Utopus, ein König im Sinne Platos und der Humanisten, eroberte die rauhe und regenlose Halbinsel Abraxa und verwandelte sie in eine wohlhabende Insel, die hinfort seinen Namen trägt und den Namen Eutopia, die Wohnstätte der Glückseligkeit, verdient. Die Einwohner, ursprünglich roh, arm und durch religiöse Zwistigkeiten zerrissen, wurden auf die Stufe der Vollkommenheit gebracht, und sie übertreffen alle Nationen der Erde an Menschlichkeit, guten Sitten, Tugendhaftigkeit, Gelehrsamkeit und ' materieller Wohlfahrt. Die Mittel, die Utopus zur Erreichung dieser Zwecke anwandte, waren Kommunismus und Erziehung; letztere im weiteren Sinne ' des Wortes: nicht nur durch Schulung, sondern durch die Bildung und Erfahrung, die die Umwelt, die Beschäftigung, die Sitten und die Gesetze bieten. Die Insel Utopia besteht aus 54 Kreisen mit je einer schönen und geräumigen Stadt als Mittelpunkt der Verwaltung, des Unterrichtswesens, des Handels, der Gewerbe, der Lagerhäuser, des auswärtigen Handels; die Krankenhäuser befinden sich in der Umgebung der Städte. Die Einwohner sprechen die gleiche Sprache und haben die gleichen Sitten und Gesetze; diese Gleichartigkeit fördert den Frieden und die Eintracht. Keiner der Kreise hat weniger als 20 Meilen (32 Kilometer) Grund und Boden; und keiner hat den Wunsch, sein Gebiet auszudehnen, denn die Einwohner betrachten sich als die Bebauer und nicht als die Eigentümer des Bodens. Im Mittelpunkte Utopias liegt die Hauptstadt Amaurote, der Sitz des Nationalrats. Die Republik Utopia ist ein demokratischer Bund autonomer Kreise. Die Zahl der Gesetze ist gering, aber genügend; die Einwohner kennen sie gut und dulden keine spitzfindigen Auslegungen. Die Zentralregierung besteht aus einem Senat oder Rat von 162 Mitgliedern, drei Mitglieder für jeden Kreis, die jährlich in Amaurote zusammentreffen, um die gemeinschaftlichen Angelegenheiten der Nation zu beraten. Der Senat hat manchmal über die ungelösten Fragen der Lokalkörperschaften zu entscheiden; ihm untersteht auch die Buchführung über die vorhandenen und verlangten Güter, damit das Gemeinwesen keinen Mangel leidet. Die wirkliche Verwaltung des Landes liegt jedoch in den Händen der Kreisregierungen (Lokalkörperschaften). Jeder Kreis zählt 6000 Familien oder Bauernhöfe; jede Familie nicht weniger als 40 Mitglieder und zwei Leibeigene; sie steht unter der Herrschaft eines pater- und einer mater-familias. Je 30 Familien wählen jährlich ihren Phylarchen oder Syphogranten (Landvogt); je 10 Phylarchien oder 300 Familien wählen ihren Hauptphylarchen oder Tranibor. Die Phylarchen wählen den Fürsten oder Hauptmagistrat des Kreises. Letzterer wird auf Lebenszeit gewählt und ist nur dann absetzbar, wenn begründeter Verdacht besteht, daß er nach der Tyrannei strebt. Die Hauptphylarchen oder Obermagistrate bilden den Rat des Kreises; sie versammeln sich in der Regel jeden dritten Tag und laden zu ihren Versammlungen zwei Phylarchen ein. Öffentliche Angelegenheiten dürfen nicht außerhalb des Rates oder des Wahlhauses des Phylarchen besprochen werden; auf Zuwiderhandlungen steht die Todesstrafe.

Die Landwirtschaft ist die wirtschaftliche Grundlage des Gemeinwesens; jeder Bürger Utopias muß sie theoretisch und praktisch lernen und verstehen. Jedes Jahr wechselt eine Anzahl Städter ihre Wohnsitze mit den Landwirten, so daß Stadt und Land einander nicht entfremdet werden. Außer Landwirtschaft lernt jeder Utopier irgendein notwendiges Handwerk: Tuchmacherei, Tischlerei, Schmiederei und Baukunst. Andere Handwerker gibt es in Utopia nicht, da das Leben schlicht und ohne Luxus ist. In der Regel lernt jeder das Handwerk seines Vaters. Die Hauptaufgabe der Phylarchen ist, darauf zu sehen, daß jeder Bürger seine Arbeitspflicht erfüllt. Müßiggänger werden aus dem Gemeinwesen ausgewiesen. Die Arbeitszeit beträgt sechs Stunden täglich. Wo alle arbeiten, dort gibt es keine Überarbeit. Nur Krankheit, Greisenalter und Hingabe an das Studium der Wissenschaften befreien von der körperlichen Arbeit. Ein Landwirt oder Handwerker, der in seiner Mußezeit studiert und zeigt, daß er durch das Studium der Wissenschaft dem Gemeinwesen größeren Nutzen bringen könnte als durch Handarbeit, wird in den Orden der Gelehrten befördert.

Alle beschwerlichen und schmutzigen Arbeiten werden von den Leibeigenen geleistet. Die Leibeigenen sind entweder Sträflinge, die für schwere Verbrechen verurteilt worden sind, die in anderen Ländern mit dem Tode bestraft werden; oder sie sind arme ausländische Arbeiter. Die ersteren werden strenge behandelt, während die letzteren eine milde Behandlung genießen und auf Wunsch nach ihrer Heimat zurückkehren dürfen; und sie werden nie mit leeren Händen weggeschickt.

Die Einehe wird streng durchgeführt; Ehebruch wird mit harter Leibeigenschaft bestraft. Auf voreheliche Keuschheit wird genau gesehen. Die Ehe wird als eine so feierliche und heilige Einrichtung betrachtet, daß die ütopier es für nötig erachten, daß Mann und Frau, die einander ehelichen wollen, auch einander kennen sollen. Es besteht deshalb die Sitte, daß eine tugendhafte Matrone dem Freier seine künftige Frau nackt vorführt und ein weiser Greis den nackten Mann dem Weibe vorstellt. Die Ütopier haben die Gelegenheit zu gemeinschaftlichen Mahlzeiten. In den Wohnungen des Phylarchen gibt es zu diesem Zwecke große Räume, wo gesunde Nahrung geboten wird. Jede Mahlzeit beginnt mit einer Vorlesung, die von guten Sitten und Tugend handelt. Während der Mahlzeit leiten die älteren Leute eine Konversation über ein ernstes, aber nicht unangenehmes Thema ein und ermutigen die jüngeren Leute, ihre Ansichten auszusprechen. Das Mittagessen ist kurz, das Abendessen etwas länger, worauf Musik und andere harmlose Unterhaltungen folgen. Um 8 Uhr wird zu Bett gegangen und um 4 Uhr aufgestanden. Die Morgenstunden und die Mußezeit werden den öffentlichen Vorlesungen, dem Studium und dem Spielen gewidmet.

Die Utopier betrachten den Krieg als eine grobe und grausame Ungerechtigkeit; sie unterziehen sich jedoch Militärübungen zum Zwecke der Selbstverteidigung, der Zurückweisung feindlicher Einfälle oder zur Befreiung irgendeines Volkes von der Tyrannei. Sie erklären auch den Krieg gegen jede Nation, die viel unbebauten Boden besitzt und die Einwanderung der überschüssigen Bevölkerung Utopias verbietet, die ihn zu bebauen und eine utopische Kolonie zu gründen wünscht. Ein derartiges Einwanderungsverbot betrachten sie als eine Verletzung des Naturrechts.

Die Verfassung der utopischen Republik zielt darauf ab, Arbeitszeit zu sparen und den Bürgern Muße zu gewähren für die freie Pflege des Geistes. Hierin, glauben sie, ist die Glückseligkeit des Lebens zu finden. Es besteht dort die allgemeine Schulpflicht. Die Kinder lernen Musik, Logik, Arithmetik und Geometrie, Astronomie und physikalische Geographie. Schüler, die besondere Fähigkeiten zeigen, werden von der körperlichen Arbeit befreit und widmen sich dem Studium; sie bilden sodann den Orden der Gelehrten.

Die Utopier diskutieren viel über moralphilosophische und metaphysische Gegenstände. Ihre Grundsätze sind: Die Seele ist unsterblich und durch Gottes Güte zur Glückseligkeit geschaffen; die Tugend wird im Jenseits belohnt und das Laster bestraft. Diese rein religiösen Wahrheiten, die über die Vernunft hinausgehen, denken sie auf logischem Wege beweisen zu können. Ihre Hauptauseinandersetzungen gelten jedoch der Glückseligkeit. Nach ihrer Ansicht entspringt diese dem Vergnügen, das sich von der Wollust unterscheidet - also dem guten und anständigen Vergnügen. Sie stimmen nicht mit den Stoikern überein, die den Quell der Glückseligkeit in einer Tugend finden, die Selbstqual und Selbstverleugnung einschließt. Unter einem Leben nach Natur und Vernunft verstehen sie ein solches, das Freude erzeugt durch gute Handlungen anderen und sich selber gegenüber. Sie unterscheiden zwischen wahrem und falschem Vergnügen. Jenes gewährt Erleuchtung dem Geiste, Zufriedenheit dem Gewissen; oder es entspringt aus dem Nachdenken über wissenschaftliche Wahrheit und über Kunst, dem Anhören von Musik, der Erinnerung an gute Taten in der Vergangenheit, sowie der Hoffnung auf zukünftige Glückseligkeit. Falsches Vergnügen entspringt der Ruhmredigkeit, den Ehrentiteln, dem Luxus: den sogenannten edlen Metallen und Edelsteinen, der Spielsucht, den Tierjagden und anderem grausamen Zeitvertreib, welcher Menschen und Tieren Schmerz verursacht.

Die Utopier genießen vollkommene Religionsfreiheit. Durch diese Einrichtung heilte Utopus die Wunden, die die Religionsstreitigkeiten dem Volke geschlagen hatten. Sie ermöglichte es ihnen, religiöse Fragen zu besprechen, die gegenseitigen Argumente abzuwägen und zu einer gewissen Übereinstimmung über das Wesentliche der Religion zu gelangen. Die große Mehrheit betet unter verschiedenen Formen eine oberherrliche geistige Macht an: den Schöpfer und Lenker des Weltalls, die ursprüngliche und letzte Ursache aller Dinge. Atheisten werden jedoch nicht als gute Bürger betrachtet!

Zusammenfassend sagt Hytiodäus: Die Utopia ist das einzige Gemeinwesen, das diesen Namen verdient. Sie ist wirklich eine Republik: ein Gemeinwesen und öffentlicher Reichtum. In allen anderen Ländern spricht man vom öffentlichen, allgemeinen Wohl, während jedermann bemüht ist, sein eigenes Wohl, seinen Sonderreichtum auf Kosten seines Nächsten zu fördern. Ganz anders in Utopia, wo nichts privat ist, sorgt jedermann für die gemeinschaftlichen Angelegenheiten, In anderen Ländern, wo niemand gegen Armut und Hunger gesichert ist, obwohl der Nationalreichtum beträchtlich sein mag, ist jedermann gezwungen, Vorsorge für sich selber zu treffen und hierbei die gemeinschaftlichen Interessen außer acht zu lassen. Wo aber alle Dinge gemeinschaftlich sind, dort braucht niemand den Hunger zu fürchten, solange die öffentlichen Magazine mit Gütern gefüllt sind; es ist deshalb das Interesse, aller, für das Gemeinwesen zu sorgen. In einer solchen Republik ist jedermann reich, obwohl niemand etwas sein eigen nennen kann. Diese Gesellschaftsform wird ewigen Bestand haben, denn durch die Beseitigung des Hochmuts und des Geldes haben die Utopier die Ursachen des Ehrgeizes, des Aufruhrs und aller derjenigen Laster, die in anderen Ländern zu inneren Kämpfen, Bürgerkriegen und schließlich zum Untergange und Zerfall der Nationen und Reiche führen, aufgehoben.

6. Lord Bacos "Neue Atlantis".

Der gewaltsame Tod Mores' (1535) kann symbolisch betrachtet werden als Beginn der Verdrängung des Katholizismus in England und des Kampfes um die Reformation. Das Ringen zwischen der alten und der neuen Kirche dauerte bis Ende des sechzehnten Jahrhunderts, das heißt, bis tief in die Regierungszeit der Königin Elisabeth (1558-1603). In dieser Periode legte England den Grundstein zu seinem Kolonialreiche; 1584 gründete Walter Raleigh die Kolonie Virginia; 1588 vernichtete eine - hauptsächlich aus Kauffahrern zusammengesetzte - englische Flotte die spanische Armada; 1600 entstand die Ostindische Handelsgesellschaft. Der Geist der neuen Zeit: Naturwissenschaft und Moralphilosophie, Experimente und induktive Logik (von der Erfahrung ausgehendes Denken) fanden Anhänger. Der Herold der neueren Zeit: Francis Baco (bekannt als Lord Baco von Verulam, geb. 1560, gest. 1626), sich auf die Lehren der italienischen Forscher Telesius und Galilei stützend, begründete in seinem "Novum Organum" die empirische (auf der Erfahrung beruhende) Methode, und in seiner "Neuen Atlantis" schuf er eine naturwissenschaftliche Utopie. Letztere Schrift entstand ohne Zweifel unter dem Einflusse der Utopie von Morus, aber beide haben fast nichts miteinander gemein. Baco glaubte, das Glück der Menschheit herstellen zu können durch die Anwendung der Naturwissenschaft auf die Produktion und nicht durch eine Änderung der Eigentumsverhältnisse.

Die Neue Atlantis ist eine Insel in der Südsee. Sie wurde von einem weisen Gesetzgeber regiert, der durch die angewandte Naturwissenschaft ein blühendes und glückliches Gemeinwesen begründete. Der Mittelpunkt der ncuatlantischen Gesellschaft ist "Sa-lomons Haus" oder die "Universität der Sechs Tage"; heute würden wir dies ein Polytechnikum nennen. Diese Lehrstätte, in der Hauptstadt Bensalem gelegen, hat zum Zweck, die Ursachen und die geheimen Bewegungen der Dinge zu erforschen und die Grenzen des menschlichen Wissens und Könnens so weit als möglich auszuweiten. Sie enthält allerhand Präparate und Instrumente für physikalische und technologische Experimente; tiefe Höhlen zur Erforschung des Innern der Erde; hohe Türme zum Studium der Luft und ihrer Erscheinungen; Laboratorien für die Erzeugung organischer und anorganischer Stoffe, sowie für das Studium der Medizin; landwirtschaftliche Versuchsstellen; Werkstätten für Kunst und Gewerbe; Öfen zur Erzeugung hoher Temperaturen; Hallen für Experimente in Licht und Schall. Es gibt dort auch Maschinenhäuser, wo die verschiedenartigsten Maschinen und Instrumente hergestellt werden. Die Forscher, die dort tätig sind, können den Flug der Vögel nachahmen; sie haben Schiffe und Boote, die sich unter Wasser bewegen. Ebenso gibt es dort Theoretiker, die die gefundenen Tatsachen prüfen, zusammenfassen und zu Lehrsätzen erheben. Die Bewohner dieses glücklichen wissenschaftlichen Gemeinwesens verehren die Erfinder und Entdecker. Für jede große Erfindung oder Entdekkung wird ihrem Urheber ein Denkmal errichtet und eine erhebliche Belohnung gewährt. Der Gottesdienst besteht dort in Lobpreisung Gottes für seine wundervollen Werke, sowie in Gebeten an ihn, seine Hilfe und seinen Segen den wissenschaftlichen Arbeiten angedeihen zu lassen und die Menschen zu befähigen, die neuen Errungenschaften zu guten Zwecken zu gebrauchen. Aus den Laboratorien, den Erfindungen und Entdeckungen kommen die Kräfte, die die Produktion heben, den Reichtum vergrößern und allen Bewohnern eine menschenwürdige Existenz ermöglichen.

7. Winstanleys "Gesetz der Freiheit".

Das Elisabethsche Zeitalter bedeutete, wie wir sahen, eine materielle und geistige Erstarkung der kaufmännischen und gewerblichen Schichten, sowie des mit ihnen verbundenen neuen Adels. Königin Elisabeth war klug genug, sich mit diesen Schichten durch Kompromisse zu einigen und Konflikte zu vermeiden. Anders ihre Nachfolger Jakob I. (1603 bis 1625) und der unglückselige Karl I. (1625-1649). Der letztere König insbesondere verstand nicht die Zeichen der Zeit, strebte nach Wiederherstellung des Absolutismus, betrachtete das Wirtschaftsleben nur als Steuerquelle, tastete die religiöse und geistige Freiheit des Bürgertums an und geriet in einen scharfen Gegensatz gegen die neueren Strömungen, die aus der städtischen Entwicklung, aus der Renaissance, der Reformation und der Naturwissenschaft entsprangen. 1642 entbrannte der Bürgerkrieg, dessen Führer Oliver Cromwell wurde, ein Mann von ungeheurer revolutionärer Energie, aber durchaus bürgerlich gesinnt. 1649 ließ er König Karl I. hinrichten.

Die revolutionären Vorgänge begünstigten das Wiederaufleben naturrechtlich-kommunistischer Ideen. Ihre Anhänger nannten sich die "wahren Gleichmacher" (engl. true Levellers) oder die Graber (Diggers), da sie sich nicht mit der politischen Freiheit, mit der Republik begnügten, sondern die Vergesellschaftung des Grund und Bodens verlangten und jedem Volksgenossen die Freiheit und Gleichheit zu verschaffen suchten, ein Stück Land zu bebauen, wobei die Diggers selber mit dem Beispiel vorangingen, mit Hacken und Spaten auszogen und brachliegendes Land in Anbau nahmen. In John Lilburne, einem Revolutionär von untadeligem Charakter, der schon seit frühester Jugend für die sozialen und religiösen Rechte des Volkes eingetreten und dafür vom König und den "Kavalieren" aufs grausamste verfolgt worden war, fanden sie einen mutigen und im Kampf geschulten Führer. Er gab zahlreiche revolutionäre Flugschriften heraus, wurde in unzählige Prozesse verwickelt und starb, vom Kampfe zermürbt, erst vierzigjährig 1657. Die Diggers hatten bereits ein eigenes, periodisch erscheinendes Organ "The Moderate" (eigentlich der Gemäßigte, soviel wie: Objektive), in dem die wichtigsten ihrer Kundgebungen erschienen. Der bedeutendste Schriftsteller der Diggers war Gerard Winstanley (geb. 1609). Aus seinen Schriften geht mit Klarheit hervor, daß er die ganze patristisch-kanonisch-naturrechtliche Geschichts- und Gesellschaftsauffassung kannte. Auf dieser theoretischen Grundlage baute er seine Kritik gegen die sozialen Zustände seiner Zeit auf: Als Gott oder die Vernunft die Welt erschuf, herrschte das kommunistische Naturrecht; dann kam der Sündenfall durch Selbstsucht, durch das "Mein" und "Dein" (Privateigentum), durch das Kaufen und Verkaufen, womit die Leidensgeschichte der Menschheit begann. Nur durch die Überführung des Grund und Bodens in Gemeinbesitz könnte die Selbstsucht eingedämmt und entwurzelt werden. In seinem 1652 veröffentlichten Werke "Law of Freedom" (Gesetz der Freiheit) entwarf er einen neuen Gesellschaftsplan, der auf Demokratie und Kommunismus begründet und Freiheit und Brot jedermann zusichern soll. Das ideale Gemeinwesen soll folgendermaßen regiert werden: An der Spitze steht ein vom ganzen Volke gewähltes Parlament, dessen Aufgabe es ist, Gesetze im Geiste des Naturrechtes und der Vernunft zu erlassen und über deren Ausführung zu wachen. Das Gesetz soll den Gemeinbesitz des Grund und Bodens sichern; die allgemeine Arbeitspflicht proklamieren; den Handel streng verbieten; alle alten tyrannischen und kirchlichen Gesetze und Gebräuche abschaffen. Die geernteten Früchte sollen in allgemeine Magazine und Vorratshäuser geschafft werden; ebenso die in den gewerblichen Werkstätten hergestellten Güter; wie überhaupt alle Gebrauchsartikel, Haustiere und sonstige Güter kommunistisch zu verwalten sind. Jede Familie soll nach ihren Fähigkeiten schaffen und nach ihren Bedürfnissen aus den Magazinen nehmen. Die Ausführung dieser Gesetze wird in die Hände von Beamten gelegt, die vom Volke gewählt werden. Es sollen Männer gewählt werden, die ruhigen, friedlichen Charakters sind; ferner, die unter der früheren tyrannischen Regierung viel zu leiden hatten und deshalb alle Unterdrückung verabscheuen; ebenfalls solche, die sich unter der früheren tyrannischen Regierung durch Mut, Offenheit und Opferfreudigkeit auszeichneten und deshalb zu Gefängnis- und Geldstrafen verurteilt wurden; schließlich soll ihr Alter über vierzig Jahre sein, denn diese dürften auch die nötige Erfahrung und Menschenkenntnis besitzen. Jede Gemeinde wählt außerdem Friedensrichter und Schiedsmänner, um Streitigkeiten zu schlichten. Sie soll auch Aufsichtsbeamte wählen, die die allgemeine Arbeitspflicht und die Ablieferung der erzeugten Güter beaufsichtigen. Die Aufsichtsbeamten sollen über sechzig Jahre alt sein. Außerdem wählt jede Gemeinde einen Zuchtmeister, der die wegen Arbeitsfaulheit verurteilten Genossen in Arbeit nimmt. Die Schulpflicht ist allgemein und obligatorisch. Die Kinder sollen hauptsächlich zu Produzenten und nicht zu Bücherwürmern erzogen werden. Wissen und Experiment sollen an die Stelle des Glaubens und Spintisierens treten. Einehe, sittliches Familienleben, geschlechtliche Reinheit müssen streng beachtet werden.

8. Chamberlen und Bellers als Sozialreformer.

Die revolutionäre und nachrevolutionäre Periode brachte auch eine Anzahl Sozialreformer hervor, unter denen Peter Chamberlen und John Bellers sich durch Arbeiterfreundlichkeit auszeichnen. In seinem 1649 erschienenen "Poor Man's Advocate" (Advokat des armen Mannes) vertritt Chamberlen die Lehre, daß die Arbeit die Quelle alles Reichtums ist. Die ärmeren Klassen oder die Arbeiter bilden überall die Stärke des Landes, denn diese verrichten alle notwendigen Arbeiten der Gesellschaft und schlagen als Soldaten die Schlachten der verschiedenen Staaten. Sie haben also dieselben Rechte wie die Reichen, ja, sie versorgen die Reichen mit allem, was diese genießen. Die letzteren müßten sich deshalb nur als Verwalter und nicht als Eigentümer der Besitzungen betrachten. Der Zweck aller Reichtumserzeugung ist nicht Genuß für die Reichen, sondern Abschaffung aller Armut. Chamberlen verlangt die Nationalisierung der königlichen und kirchlichen Domänen zugunsten der Gemeinwirtschaft der ärmeren Schichten der Bevölkerung.

John Bellers (geb. 1655, gest. 1725), ein Quäker, hielt in seiner 1696 veröffentlichten Schrift "Colledge of Industry" (Arbeitskolonien) den Reichen vor, daß sie ihre Existenz dem Schaffen der Armen zu verdanken haben. "Die Arbeit der Besitzlosen ist das Geld der Reichen." Er schlägt ihnen vor, genossenschaftliche Kolonien für je 300 besitzlose Personen zu gründen; diese Personen sind so auszuwählen, daß sie sämtliche landwirtschaftlichen Arbeiten verrichten könnten. Jede Kolonie würde einen Kostenaufwand von 18000 Pfund Sterling beanspruchen, die durch Aktien aufzubringen sind. "In einer solchen Kolonie würden die Besitzlosen ein Gemeinwesen nach urchristlichem Muster bilden." Das Wertmaß würde nicht Geld, sondern ein bestimmtes Arbeitsquantum sein.

Robert Owen und Karl Marx (der u.a. im I. Bde. des Kapitals S.430 eine wichtige Angabe von Bellers über die Verbindung von Unterricht und produktiver Arbeit zitiert) hatten eine sehr hohe Meinung von Bellers' Wissen.

9. Bürgerliche Sozialtheorien: Gesellschaftsvertrag. Hobbes, Locke, Smith und Paley.

Das Naturrecht, das, wie schon in Teil II bemerkt wurde, das gesellschaftliche Denken des Mittelalters beherrschte, bildete auch den Mittelpunkt der sozialen Theorien der neueren Zeit. Die Frage: Wie vollzog sich der Übergang vom ursprünglichen Kommunismus zum Sondereigentum? beschäftigte die besten Köpfe. Daß dieser Übergang sich einfach durch Usurpation, durch Gewalt und Hinterlist vollzogen haben sollte, wäre doch eine moralische Verurteilung der bürgerlichen Gesellschaft. Es galt nunmehr das Sondereigentum zu rechtfertigen, wie Occam und Wycliffe das Königtum gerechtfertigt hatten. Und die Rechtfertigung geschah auf ähnliche Weise. Unter dem Einflusse der wachsenden städtischen Wirtschaft, wo die gesellschaftlichen Beziehungen sich durch Verhandlungen und Verträge gestalteten, nahm man an, daß in dem Maße, wie die Urzustände verwickelter und schwieriger wurden (durch Zunahme der Bevölkerung und der Nachfrage nach Gütern, durch Tausch mit benachbarten Völkern), sich die Menschen, die doch alle frei und gleich waren, entweder durch öffentliches oder stillschweigendes Übereinkommen einigten, die Erde zu teilen, um jedem Kontrahenten Existenz und Freiheit zu ermöglichen; ebenso eine Regierung einzusetzen, die die einmal getroffene Ordnung aufrechterhalten soll. Sondereigentum und Staat seien also nicht durch Gewalt, sondern durch Vertrag (Gesellschaftsvertrag) entstanden. Die Folge war ein neues Recht, das ebenso gültig ist wie das Naturrecht.

Der englische konservative Staatswissenschaftler Thomas Hobbes, der während der englischen Revolution schrieb (1651), meinte, ursprünglich sei zwar alles gemeinsam gewesen, aber dieser Zustand sei doch ein Krieg aller gegen alle gewesen, deshalb seien die Menschen übereingekommen, Privateigentum einzuführen, einen Staat zu gründen und das Oberhaupt souverän (selbstherrlich) zu machen. Das Volk habe seitdem nichts mehr zu sagen: es habe sich seines Selbstbestimmungsrechts begeben.

Locke, der Anhänger der bürgerlichen Revolution war und den Sieg der Großbourgeoisie 1689 feierte, lehnte zwar Hobbes Auffassung über den souveränen König ab, meinte jedoch, daß das Privateigentum noch vor dem Gesellschaftsvertrag entstanden sei, also schon im Naturzustände existierte; demgemäß doppelt gerechtfertigt sei. Er stützt diese Behauptung durch folgende Beweisführung. (On Civil Government, Teil II, London 1691): Was die Natur an Schätzen und Früchten liefere, gehöre zwar allen Menschen gemeinschaftlich, aber erst die persönliche Arbeit gebe den Naturprodukten einen Wert. Da aber der Mensch nur sich selber gehöre, und da es seine Arbeit sei, die den Naturdingen einen Wert verleihe, so gehören die so geschaffenen Werte dem arbeitenden Menschen als Sondereigentum. "Was der Mensch aus dem Naturzustände nimmt, hat er mit seiner Arbeit vermengt und ihm etwas zugefügt, was seiner Persönlichkeit angehörte und wodurch er es zu seinem Eigentum machte. Diese Arbeit zog eine Grenzlinie zwischen den bearbeiteten Dingen und der Gemeinschaft. Diese Arbeit fügte ihnen etwas hinzu, was sie von der Natur, der gemeinschaftlichen Mutter, nicht besaßen und deshalb zu seinem Privatrecht wurde... Arbeit ist der Rechtstitel auf Eigentum." Und dieses Schaffen ging schon im Naturzustände vor sich, also herrschte schon damals das Privateigentum und ist demgemäß naturrechtlich legitimiert. Jedoch nur dasjenige, das aus eigener Arbeit hervorgegangen ist. Locke wollte durch diesen Satz keineswegs die kommunistische Lehre stützen, sondern die bürgerliche Auffassung gegenüber der feudalen; er nahm an, daß das bürgerliche Eigentum das Produkt der Arbeit sei, während der adelige Grundbesitz nur aus Raub herstammte. Später aber wurde Lockes Lehre von der Arbeit als Schöpferin des Eigentums als sozialistisches Argument gegen die Bourgeoisie gebraucht.

Der Sozialökonom Adam Smith erklärt ("Wealth of Nations" 1776, i. Buch, Kapitel 6), das ursprüngliche Gemeineigentum hätte dem Arbeiter zwar die ' Produkte seiner Arbeit gesichert, aber erst das Sondereigentum habe die Produktivität der Arbeit be-: wirkt und sei deshalb gerechtfertigt.

Erzdiakonus W. Paley, dessen Werk "Moral and political philosophy" (London 1785) zum Textbuch der englischen Universitäten wurde, hielt das Privateigentum für moralisch und logisch verwerflich, aber es sei für die Wirtschaftlichkeit der Arbeit nötig. Von ihm stammt die berühmte Fabel von den Tauben, die folgendermaßen lautet (Moral and political philosophy, 3. Buch, i. Kapitel): "Stellen wir uns vor, wir sehen einen Schwarm von hundert Tauben auf einem Felde. Anstatt daß jede , von ihnen von den Erzeugnissen des Bodens nach Belieben genießt und so viel davon aufpickt, wie sie bedarf und nicht mehr, sehen wir plötzlich, wie 99 die Körner auf einen Haufen sammeln und nichts für sich reservieren als Spreu und Abfälle, während sie eine von ihren Kolleginnen, vielleicht die schwächste und schlimmste, an ihre Spitze stellen und ihr den ganzen Haufen überlassen. Den ganzen Winter hindurch sitzen die 99 Tauben, leiden Hunger und Not, aber sehen ruhig zu, wie die eine alles auffrißt, mit den Körnern um sich wirft und sie vergeudet. Dann passiert folgendes: Eine der Tauben, kühner und hungriger als die übrigen, wagt es, ein Körnlein vom Haufen anzurühren. Sofort werfen sich die 98 auf sie, schlagen und zerreißen sie in Stücke. - Was wir dort sehen würden, wäre nichts anderes, als was unter Menschen täglich vorgeht und ausgeübt wird. Unter den Menschen sehen wir, daß 99 von 100 sich abmühen, die Früchte ihrer Mühen sammeln, um einen einzigen im Überfluß leben zu lassen, während sie selber sich mit den gröbsten Lebensmitteln zufrieden geben. Und doch haben sie alles produziert, und sie geben es einem ihrer Mitmenschen, der oft der schwächste und schlimmste unter ihnen ist: ein Kind, eine Frau, ein Narr, ein Verrückter. Und sie sehen ruhig zu, wie er die Früchte ihrer Arbeit vergeudet und vernichtet. Und wenn einer unter ihnen auch nur das kleinste antastet, fallen sie über ihn her und hängen ihn wegen Diebstahls."

Diese Ungerechtigkeit und Unlogik hat nichtsdestoweniger Bestand, weil das Sondereigentum sich als das beste Mittel erwies, die Ergiebigkeit der Arbeit zu steigern und den Wohlstand zu heben.

Auf diese Weise wurde in England das Privateigentum begründet und das Naturrecht beseitigt.

Verwendete Literatur:
Erasmus von Rotterdam, Epistolae, 1642, ep. 30;
Th. Stapleton, Tres Thomae, Köln 1612, S. 164;
Th. More, Utopia, herausgegeben von Lupton, London 1895;
Karl Kautsky, Thomas Morus, Stuttgart (Dietz-Verlag).

Editorische Anmerkungen:

Max Beer, Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe, mit Ergänzungen von Dr. Hermann Duncker, S. 315 - 335

Der Text ist ein OCR-Scan by red. trend vom Erlanger REPRINT (1971) des 1931 erschienenen Buches in der UNIVERSUM-BÜCHEREI FÜR ALLE, Berlin.

Von Hermann Duncker gibt es eine Rezension dieses Buches im Internet bei:
http://www.marxistische-bibliothek.de/duncker43.html