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aus:  Searchlight 4/99  Die elektronische deutsche Ausgabe besorgte ANTIFA-WEST@BIONIC.zerberus.de  

Vitrolles
Graeme Atkinson berichtet aus einer
FN-kontrollierten Stadt
05/99
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Die kleine südfranzösische Stadt Vitrolles machte internationale Schlagzeilen, als sie - bei einer 82-prozentigen Wahlbeteiligung - 1997 Catherine Mégret mit 52% zur Bürgermeisterin wählte. Frau Mégret ist die Ehefrau des damaligen Stellvertretenden Führers des Front National(FN) Bruno Mégret.

Vitrolles ist eine Ansiedlung in Zeilenbauweise in der Nähe Marseilles, eingebettet zwischen Küste und Hinterland. Ihr Wachstum von 800 Einwohnern im Jahre 1977 auf 40.000 heute verdankt sie hauptsächlich der petrochemischen Industrie, welche in einen jähen Verfall geriet, als die großzügigen staatlichen Zuschüsse zurückzogen wurden.

Der Verfall der Stadt war für den FN das Signal zum Eingreifen. Seit den frühen 80er Jahren, als Vitrolles eine Basis des führenden FN-Nazis Pierre Stirbois war, zeigte die Partei hier eine gewisse Präsenz.

Während der 80er Jahre kontrollierte die Linke das Rathaus, sorgte für preiswerte Wohnungen und erweiterte die sozialen Leistungen. Mitte der 90er Jahre änderte sich das. Der FN brachte 1992 mit Bruno Mégret jemanden ins Spiel, der die verschlechterte wirtschaftliche Lage mit Hilfe von Massen- Flugblatt-Aktionen zur Hervorhebung von Arbeitslosigkeit, Forderung nach Zucht und Ordnung und Anprangerung von Korruption der lokalen Regierung ausnutzen sollte.

Propaganda des FN ist sowohl überzeugend als auch verführerisch. 1995 übte die Partei nahezu ein Monopol auf politische Öffentlichkeitsarbeit aus, indem sie Plakatwerbeflächen aufkaufte und alles mit ihrem Material zupflasterte.

"Ungeachtet der entstehenden Gefahr, wurde die Drohung ignoriert, bis es zu spät war," erinnert sich Pascale Morbelli, eine Aktivistin der Antifa-Gruppe 'Ras le Front', welche den FN als Hauptgegner sieht. Frau Morbelli, 36, zweifache Mutter, war eine der wenigen, die Alarm geschlagen hat, indem sie 1995 die Antifa-Gruppe ins Leben rief.

"Als der FN mehr Zuversicht bekam, wurde es immer deutlicher. Die Atmosphäre wurde sehr einschüchternd, aber, abgesehen von einigen wenigen Raufereien, war da wenig Gewalt," sagt sie. "Der FN vermied ein Gewalt-Image, erzeugte aber Angst. Die FN- Mitglieder hatten oftmals Waffen, aber die Polizei reagierte nicht."

Lokale Streitfragen, insbesondere Korruptionsskandale im Umfeld des sozialistischen Bürgermeisters Jean-Jaques Anglade, waren ein Geschenk des Himmels an den FN. Laut Frau Morbelli, "war er isoliert, niemand traute ihm und die Wahl des FN war mehr eine Wahl gegen ihn, als eine Unterstützung für den FN."

Frau Morbelli schilderte, was als nächstes passierte: "Als Mégret gewählt war, rannten Skinheads in der Nähe des Rathauses 'Heil Hitler' rufend Amok. Alle anderen waren schockiert. Manche überlegten, Vitrolles zu verlassen; sie hatten die Orientierung verloren."

Die Faschisten waren umgehend dabei, alles unter ihre Kontrolle zu bringen. 37 Jugend- und Kulturarbeiter, einschließlich Frau Morbelli, wurden drangsaliert und gefeuert, Sozialarbeiter bekamen den Laufpass, Jugendzentren und Projekte wurden dicht gemacht, das städtische Kino wurde geschlossen, sein Kulturprogramm gestrichen und der multikulturelle Konzerttreffpunkt Sous-Marine wurde von FN-Rowdys mutwillig zerstört und zugemauert.

"Sie haben sogar versucht eine Art Apartheid einzuführen, mit 5000 Franc Barauszahlung für weiße Familien, die ein Baby erwarten", sagt Frau Morbelli "aber dieser Zug schlug fehl. Gerichte unterbanden diese Maßnahme, nachdem Anti-Rassisten und Menschenrechts-Gruppen dagegen geklagt hatten. Die drei Familien, denen Geld angeboten worden war, weigerten sich, es anzunehmen. Aber Diskriminierung existiert. Für Nicht-Weiße ist es zum Beispiel sehr schwierig, Betreuungsplätze für ihre Kinder zu bekommen.

"Mégret setzt voll auf Sicherheit", sagt Frau Morbelli, "und der FN nutzt seine Vorherrschaft, um die soziale Kontrolle zu intensivieren und systematisch Informationen über Gegner zu sammeln. Man hat das Gefühl, daß, hätte der FN die Staatsmacht, Leute verschwinden würden ... dieses ist die wirkliche Gewalt."

Um die Kontrolle zu verschärfen, hat Mégret die städtisch kontrollierte Polizei von 40 auf 150 Beamte aufgestockt. Sie patroullieren im Stadtzentrum, ausstaffiert mit schwarzen paramilitärischen Uniformen, oft mit knurrenden Deutschen Schäferhunden an ihrer Seite. Ihre Hauptaktivitäten bestehen darin, Ausweispapiere zu kontrollieren und auf Anweisungen aus dem Überwachungsraum zu reagieren, von wo das engmaschige Videokameranetz kontrolliert wird, das den gesamten Stadtkern überwacht. Trotz alledem ist die Kriminalität in Vitrolles unter Mégrets Herrschaft angestiegen.

Zwei Journalisten, Coralie Bonnefoy, 26, und Patrick Gherdoussi, 23, bestätigen Morbellis Darstellungen. "Der FN", erklärt Gherdoussi, "hat Vitrolles isoliert. Die wirtschaftliche Lage hat sich dramatisch verschlechtert - würden sie hier investieren? Die Menschen sind frustriert und depressiv. Vitrolles hat international einen schlechten Ruf, aber sie wissen nicht, was sie machen sollen."

Bonnefoy weist auf die beängstigende Passivität hin. "Es gibt hier keinen faschistischen Mob, weil der FN akzeptiert ist. Der FN tut, was die anderen Parteien versäumt haben. Er kümmert sich um gepflasterte Bürgersteige und Straßenbeleuchtung. Er fragt die Leute nach ihrer Meinung."

Die drei sind sich einig darüber, daß der FN in Vitrolles Probleme hat. Die Spaltung wird nicht helfen und "die Leute haben das negative Image der Stadt und die ewigen Kampagnen des FN satt". Sie betonen, daß der FN verwaltungstechnische Probleme bekommen wird, da die meisten der qualifizierten und fähigen Verwaltungsbeamten gegangen sind und Mégret diese nicht ersetzen kann.

"Vitrolles" so Bonnefoy, "wurde von Mégret als Ausgangsbasis benutzt, um Marseille einzunehmen und wenn die Mégrets verschwinden, werden ihre Wähler wohl dasselbe tun ... die größte Warnung und Gefahr liegt in der Tatsache, daß sie damals auf Anhieb gewählt wurden".

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