Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe

von
Max Beer
05/04

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V. DAS ZEITALTER DER UTOPIEN             zurück zur Kapitelübersicht

l. Nominalismus, Renaissance und Humanismus.

Das Zeitalter der Abfassung von Utopien erstreckt sich vom Anfang des sechzehnten bis gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Es ist geistig das Zeitalter der Entdeckungen, des Aufschwungs der Naturwissenschaften, der Aufklärung, der Herrschaft der Vernunft (Rationalismus) und der Moralphilosophie. An Stelle der kirchlichen Autorität trat der Appell an die Vernunft; an Stelle der Theologie und der Scholastik traten die Philosophie und die Naturwissenschaften. Den ersten Platz in den Naturwissenschaften nahm die Mechanik ein; ihre Gehilfin wurde die Mathematik. Den Forschern erschien das Weltall als ein wundervoller Mechanismus, der sich nach ' festen mathematischen Regeln bewegte - eine Universalmaschine, eine vollkommen konstruierte Uhr. Selbstredend mußte ein Mechanismus einen Ingenieur, einen Baumeister haben. Dieser Ingenieur war Gott, dessen Werke die menschliche Vernunft in Ehrfurcht anstaunte und zu erforschen suchte. Die Religion verlor ihren spezifisch konfessionellen Charakter: sie war nicht mehr christlich oder jüdisch oder heidnisch, sondern deistisch (vom lateinischen Deus == Gott): ihr Hauptgedanke und ihr Hauptgefühl war der allweise und für alle Menschen sorgende Weltlenker und göttliche Ingenieur. Die Weltauffassung wurde in wachsendem Maße mechanischmathematisch. Sie entsprach merkwürdigerweise den Bedürfnissen der Manufakturperiode.

Eingeleitet wurde diese Bewegung beim Ausgange des Mittelalters, und zwar durch den Sieg des Nominalismus über den Realismus. Was dies bedeutet, werden wir gleich sehen. Das Ringen zwischen den beiden Richtungen in der Scholastik geht parallel mit dem Ringen der städtischen und der feudalen Wirtschaftsweise oder der neueren und der mittelalterlichen Ordnung. Es handelt sich letzten Endes in diesem Streite um die Stellung der Vernunft. Die Realisten, die den Ideen einen übersinnlichen Ursprung zuschrieben und von ihnen behaupteten, daß sie noch vor den Dingen, die sie bezeichnen, existierten, waren für die Unterordnung der Vernunft unter die Religion; die Aufgabe der Vernunft sollte nicht das freie Forschen, sondern die Begründung der religiösen Wahrheiten sein; Gott und die Welt, Glaube und Denken sollten einheitlich sein. Demgegenüber erklärten die Nominalisten, deren hervorragendster Kopf der uns bereits bekannte Occam war, daß die Vernunft nichts mit göttlichen Dingen zu tun habe; Gott, Seele und Unsterblichkeit, oder alle metaphysischen Wahrheiten, sind Gegenstände des Glaubens; sie gehören in das Reich des Irrationalen (des Nichtvernunftgemäßen), das heißt: sie sind nicht mit der Vernunft zu fassen; die Vernunft kann sie weder begründen noch widerlegen; es hätte also gar keinen Zweck, die Vernunft mit Aufgaben zu belasten, die sie gar nicht lösen kann. Die Vernunft ist ein Instrument für den alltäglichen, weltlichen Gebrauch, für die sinnliche Welt. Man lasse sie hier frei walten und unserem irdischen Leben dienen, ohne von der kirchlichen Autorität gefesselt zu sein.

Die Realisten kannten nur einheitliche Wahrheiten: was in der Religion wahr ist, muß auch auf Erden wahr sein. Die Nominalisten kannten zweierlei Wahrheiten: die des Glaubens und die des naturwissenschaftlichen Forschens. Scheinbar stehen die Realisten höher, da sie nur einheitliche Wahrheiten kannten, aber diese einheitlichen Wahrheiten waren der Religion untergeordnet: kam der freie Forscher in Konflikt mit der religiösen Wahrheit, so mußte er widerrufen oder der Inquisition anheimfallen, oder seine Geistesarbeit verheimlichen und sie nach seinem Tode veröffentlichen lassen. Das war das Schicksal Abälards, Kopernikus', Galileis, Giordano Brunos. ei Die Nominalisten, die zweierlei Wahrheiten anerkannten, blieben gläubige Christen, hielten treu zu den geoffenbarten göttlichen Wahrheiten, ohne über sie zu räsonieren, andererseits ließen sie der Vernunft in allen weltlichen Dingen freien Lauf. Die Entdeckung des Kopernikus, daß die Erde sich bewegt, würde einen Nominalisten in seinem Glauben an die Heilige Schrift nicht im geringsten gestört haben: es gibt eben zweierlei Wahrheiten. Die Folgen dieser scholastischen Richtung waren aber sehr erheblich. Die Vernunft, losgelöst vom religiösen Dienstverhältnis, konnte am Aufschwung der Naturwissenschaft und der neuen Wirtschaftsordnung frei arbeiten. Nach und nach beschränkte sich jedoch die Vernunft nicht auf das ihr von den Nominalisten zugewiesene Gebiet, sondern wurde selbstherrlich und ea lud auch den Glauben vor ihr Forum. Der Rationalismus gewann an Boden. Die Wunder, die die Vernunft im Reiche der Natur vollzog, gaben ihr ein hohes Ansehen, und die Menschen wandten sich mehr und mehr an sie um Beistand. Schließlich schrieb man ihr schöpferische Kraft zu. Die richtige or- Vernunft, in großen Erziehern, Gesetzgebern und Philosophenkönigen wirkend, konnte vollkommene Gemeinwesen, tugendhafte und glückliche Völker schaffen. Kein Wunder, daß man dazu kam, die Vernunft anzubeten, wie dies in der französischen Revolution der Fall war.

Eilen wir jedoch der Entwicklung nicht voraus.

Gleichzeitig mit dem Siege des Nominalismus kam die Renaissance oder die Wiedergeburt der antiken Kunst und Literatur. Sie war jedoch viel mehr als das Wiederaufleben der antiken Kunst. Die Renaissance ist das Wiederaufleben des europäischen, abendländischen Menschen: das Abschütteln des mittelalterlich-orientalischen Einschlags mit seiner Verachtung der Vernunft und der weltlichen Schönheiten des Lebens. Europa machte sich daran, den Faden der Entwicklung wieder aufzunehmen, wo die antike Welt ihn gelassen hatte, und das Mittelalter als eine Periode der Finsternis zu betrachten. Der Europäer wurde wieder irdisch, diesseitig und resolut auf weltliches Glück gerichtet. Er rüttelte mächtig am Joch des mittelalterlichen Gewissens und warf es früher oder später ab. Dies war insbesondere der Fall bei den führenden Politikern und Künstlern Italiens, während in den germanischen Ländern, wo der Zusammenhang mit dem Römischen Reiche, dem Erben der Antike, nichts weniger als innig war, die Reformation das Umsichgreifen der Renaissance hemmte oder verhinderte. In Italien, wo das städtische Leben und die städtische Wirtschaft älter und intensiver und der Zusammenhang mit der Antike innig war, wurde die moralische Krise, von der wir oben bei der Behandlung der Reformation sprachen, kaum empfunden. Die Päpste waren eher weltliche Herrscher als geistliche Hirten. Papst Alexander VI. (1492-1503) mit seinen Kindern Lucrezia und Cesar Borgia fühlten durchaus weltlich-amoralisch. Cesar Borgia, der in der Romagna herrschte, war das Urbild von Macchiavellis "Fürsten" (1515), also eines Staatsmannes, der von irgendwelchen ethischen Skrupeln frei, also amoralisch, ist. Der sittenstrenge und beredte Dominikaner Savonarola, der sich gegen diese Zustände auflehnte, wurde 1498 hingerichtet. Alexanders VI. Nachfolger: die Päpste Julius II. (1503 bis 1513), Leo X. (1513-1521), Clemens VII. (1523 bis I534) waren Förderer der wiedergeborenen Kunst und der humanistischen Gelehrsamkeit; sie beschäftigten die berühmtesten Künstler ihres Landes und ihrer Zeit: Leonardo da Vinci (gest. 1519), Raffael (gest. 1520), Correggio (gest. 1534), Michelangelo (gest. 1564). Kunst und Wissenschaft verdanken sehr viel der Renaissance, die den Papst bezwang und Rom dem freien antiken Geiste öffnete, also das Mittelalter zurückdrängte.

Mehr verwandt mit den Nominalisten als mit den Renaissanceführern waren die Humanisten. Die Bekanntschaft mit der griechischen Sprache und Literatur, insbesondere mit dem göttlichen Plato und der stoischen Philosophie gab ihnen zwar theoretisch einen freieren Ausblick auf Religion und Ethik, aber sie blieben, bewußt oder unbewußt, Anhänger der doppelten Wahrheit. Sie liebten Plato, aber Jesus noch mehr, sie verehrten die Philosophie und die christlichen Grundlehren; sie achteten die Autorität des Papstes und die der Vernunft. Die Humanisten waren Übergangsgestalten: sie deuten sowohl auf die Vergangenheit wie auf die Zukunft hin. Thomas Morus war einer der größten dieser merkwürdigen Persönlichkeiten. Er schrieb eine auf Vernunft und Moralphilosophie begründete kommunistische Utopie und starb als ein dem Papste treu ergebener Katholik auf dem Schafott. Auch der zweite große Utopist, der Dominikanermönch Thomas Campanella, verehrte die Vernunft, die Naturwissenschaft, aber auch die päpstliche Autorität und die Sakramente.

2. Moralphilosophie, Materialismus und Naturrecht

Man darf es als ein Gesetz der geistigen Entwicklung des Einzelmenschen wie ganzer Völker betrachten, daß, nachdem sie die dogmatische Religion verlieren oder auch nur in ihrer anerzogenen Religion erschüttert werden, sie zur Moralphilosophie, zu einer rationalistischen (auf der Vernunft begründeten) Morallehre als Ersatz oder als Stützpunkt greifen. So war es in Hellas: als die griechische Mythologie ihre Kraft verlor, wurde die ganze Philosophie ethisch und rationalistisch; das war die Leistung des Sokrates (geb. 469, gest. 399 v. Chr.). Das Glück der stoischen Philosophie bei den Römern seit dem letzten Jahrhundert vor Christo war demselben Umstande zu verdanken. Und so kam es auch nach der Erschütterung der mittelalterlichen Theologie: die auf Vernunft begründete Moralphilosophie gewann an Ansehen und wurde im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert das Hauptthema der philosophischen Spekulation. Ja, man begann das Christentum zu rechtfertigen, weil dessen Moral mit der der Vernunft übereinstimmte. Man dachte, die Wahrheiten der Moralphilosophie seien so sicher, daß sie keiner religiösen, also keiner irrationalen Stütze bedürften, daß man die moralische Fertigkeit also lehren und erlangen könnte wie Rechnen und Schreiben, daß man die Menschen zu ebenso moralisch handelnden Wesen erziehen könnte wie zu ( guten Rechnern, Schreibern, Ärzten, Ingenieuren usw. d Nimmt man einmal die Allmacht der Vernunft an, \ nimmt man also auch an, daß der Gedanke, die Logik den Willen beherrsche, so ist diese Schlußfolgerung durchaus stichhaltig. Daß die Edukation (die Erziehung) alles machen könnte, galt im achtzehnten Jahrhundert als ein Axiom, als eine unerschütterliche Wahrheit. Und die Erziehung geht nicht nur in der Schule vor sich, sondern auch im Leben, in der Gesellschaft und im Staate durch gute Einrichtungen, Gesetze und Gebräuche, wie der Kommunismus sie schaffen kann.

Als dann die Philosophie unter dem Einfluß des siegreichen Vormarsches der Naturwissenschaft sensualistisch-materialistisch wurde, das heißt, als sie lehrte, daß unsere Vernunft keine Ideen in sich habe, sondern eine leere, aber empfängliche Platte sei und erst durch unsere Sinne Eindrücke empfange und i sie zu Gedanken umgestalte, daß unsere Gedanken 'nur die geistige Widerspiegelung der materiellen Vorgänge der äußeren Welt seien, so war die Schlußfolgerung unvermeidlich, daß, wenn man richtiges Denken und Handeln wünsche, man die äußere Welt, die Gesellschaft, den Staat, die ganze menschliche Ordnung richtig und vernünftig einzurichten habe. Wolle man gute Bürger haben, das heißt solche, die das Gemeininteresse über das Eigeninteresse stellen, so müsse man die Gesellschaft auf den Kommunismus, auf das Gemeininteresse begründen. Ist dies geschehen, so wird die geistige Widerspiegelung kommunistisch sein: unser Denken und Handeln werden ebenso zwangsläufig kommunistisch sein wie Ursache und Wirkung.

Hinzu kam die Erstarkung des Naturrechts durch die Erfahrungen, die man in den neu entdeckten Ländern ('Amerika') machte. Dort sah man urgesellschaftliche Stammesorganisationen, die ohne Sondereigentum, ohne Staat lebten. Je näher die Menschen also dem Naturleben waren, desto weniger kannten sie Privateigentum und staatlichen Zwang. Die Utopien wurden seitdem in fremde, unbekannte Länder verlegt und mit allen Tugenden ausgestattet. Wir begegneten bereits einer ähnlichen Erscheinung (Teil I, Seite 85 ff.) als Folge des Zuges Alexanders von Mazedonien nach Asien. Die meisten Rechtslehrer und Philosophen der neueren Zeit halten an der Überzeugung fest, daß ursprünglich - im Naturzustände - der Kommunismus in irgendeiner Form herrschte, also natürlich ist. Man könnte einen ganzen Band mit Auszügen dieser Art füllen. Es sei hier nur der bedeutendste Völkerrechtslehrer der Neuzeit, Hugo Grotius (geb. in Delft 1583, gest. in Rostock 1645), zitiert. Er sagt in seinem Werke "Vom Rechte des Krieges und des Friedens" (1625, zweites Buch, zweites Kapitel): "Gott gab dem Menschengeschlecht gleich nach Erschaffung der Welt das Recht auf alle Dinge niederer Art, und dies geschah noch einmal, als die Welt nach der Sintflut wiederhergestellt worden war... Deshalb konnte im Anfang jeder nach seinem Bedürfnis nehmen, was er wollte, und verzehren, was er konnte... Ein solcher Zustand konnte nur andauern, solange die Menschen in großer Einfachheit verharrt oder in sehr starker gegenseitiger Liebe miteinander gelebt haben. Der erstere Fall findet sich bei einigen Völkern in Amerika, die viele Jahrhunderte ohne Übelstände in dieser Weise ausgehalten haben. Beispiele zu dem anderen Falle sind die Essäer und später die ersten Christen in Jerusalem."

Entsprach also der Kommunismus dem Naturzustände, so war er natürlich - mit der menschlichen Natur übereinstimmend - und vernünftig. Es galt nunmehr, die Gesellschaft auf eine natürliche und vernünftige Grundlage zu stellen. Die Übel der auf Privateigentum beruhenden Gesellschaft sind unvermeidlich: sie sind die Wirkungen einer auf Unnatur und Irrtum aufgebauten Wirtschaftsordnung.

Ein Vergleich dieses Kommunismus mit dem des Mittelalters zeigt die Verschiebung des geistigen Standpunktes. Im Mittelalter spielte sich der Gegensatz und der Kampf auf religiös-moralischem Gebiete ab: zwischen Gut und Böse. In der neueren Zeit erblicken die Kommunisten den Gegensatz in wachsendem Maße auf intellektuellem Gebiete: der Kampf tobt zwischen Wahrheit und Irrtum, zwischen Wissen und Unwissenheit; der moralische Gegensatz wird selbstredend nicht vernachlässigt, aber er ist eine Folge des intellektuellen Gegensatzes: aus der Wahrheit fließt das Gute, aus dem Irrtum aber das Böse.
Wir werden bei der nachfolgenden Behandlung der verschiedenen utopischen Schriften noch Gelegenheit haben, einzelne Charakterzüge näher zu beleuchten.

Editorische Anmerkungen:

Max Beer, Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe, mit Ergänzungen von Dr. Hermann Duncker, S. 308-315

Der Text ist ein OCR-Scan by red. trend vom REPRINT, 1971 Erlangen des 1931 erschienenen Buches in der UNIVERSUM-BÜCHEREI FÜR ALLE, Berlin.

Von Hermann Duncker gibt es eine Rezension dieses Buches im Internet bei:
http://www.marxistische-bibliothek.de/duncker43.html