Die Führung der
Sozialdemokratischen Partei duldete nach dem Rücktritt von Oskar Lafontaine keine
Irritationen und schon gar keine Betroffenheit. Eine Parteidebatte war und ist nicht
erwünscht. Business as usual wurde praktiziert. Den offiziösen Erzählungen zufolge
setzte sich der Parteivorsitzende ohne Vorwarnung ins Privatleben ab, eilfertig wird das
Bild des »Aussteigers« gezeichnet. Die »Hinterbliebenen« nutzten die Chance und
verständigten sich binnen weniger Stunden auf den in Hessen gescheiterten Hans Eichel als
künftigen Finanzminister und Bundeskanzler Schröder als neuen Parteichef. Die
Gegenstimmen und Enthaltungen bei der Nominierung des neuen Vorsitzenden - immerhin ein
Drittel des Vorstandes - kommentierte der Niedersächsische Ministerpräsident Glogowski
zynisch: In kritischen Situationen zeige sich, daß ein Teil des Führungspersonals
Schwierigkeiten habe, sich für eine rasche Lösung einzusetzen.
Die SPD wird Schröder am 12. April auf einem außerordentlichen Parteitag in die vakant
gewordene Position hieven - mit der gleichen kurzweiligen, appellativen Inszenierung, die
schon dem Kanzlerkandidaten zuteil wurde. Geräuschlos wird die Ernennung des neuen
Finanzministers über die parlamentarische Bühne gehen. Die Regierungskoalition
demonstriert Routine. Und doch haben wir es mit einer veränderten politischen
Konstellation zu tun. Die wichtigsten Gründe:
Das Scheitern der Aufklärung
Mit Beginn des ersten Tags ihrer Amtsübernahme bemühten sich Lafontaine und sein
Staatssekretär Heiner Flassbeck, deutlich zu machen, daß die Wechselkurse der
wichtigsten Währungen - Dollar, Euro und Yen - international so gesteuert werden müssen,
daß abrupte Sprünge vermieden werden. Unterstützt wurden sie dabei von ihrem
französischen Kollegen Strauss-Kahn und der Regierung der pluralistischen Linken in
Frankreich. Nach dem Rücktritt Lafontaines wird dieser Ansatz zur Stabilisierung des
Weltwährungssystems als absurde Spinnerei denunziert. Doch auch wenn das Konzept der
Zielzonen nicht mehr zur Diskussion steht, sind die Probleme weder für die rosa-grüne
Regierung noch für die anderen Akteure auf der internationalen Bühne erledigt.
Die rosa-grüne Koalition hat nicht nur die enorme Massenarbeitslosigkeit, zerrüttete
Staatsfinanzen und geplünderte Sozialkassen von einer heruntergewirtschafteten
neoliberalen Regierung übernommen. Seit dem Herbst 1998 zeichnet sich zudem eine
wirtschaftliche Talfahrt mit der Gefahr einer weiteren Erhöhung der Arbeitslosenzahlen
ab. Infolge massiver Turbulenzen auf den internationalen Finanz- und Devisenmärkten
drohte schließlich sogar ein Zusammenbruch des Weltwährungssystems. Im letzten
Quartalsbericht der Bank für internationalen Zahlungsausgleich wird konstatiert: »Die
internationalen Finanzmärkte standen im Herbst 1998 dem Zusammenbruch nahe, wenn nicht
von offizieller Seite - Notenbank und Regierungen - Maßnahmen ergriffen worden wären, um
das Vertrauen wiederherzustellen. Heute läßt sich sagen, daß die Währungsbehörden
zwar den Systemzusammenbruch verhindert haben, aber ihr Dilemma wurde eher noch
verschärft. Sie müssen jetzt zulassen, daß die privaten Marktteilnehmer die Kosten
ihrer Anlage-Fehlentscheidungen selber tragen. Gleichzeitig muß aber auch die Stabilität
des Finanzsystems als Ganzes weiter gewahrt werden. Von der Auflösung dieses Dilemmas
wird abhängen, ob künftige Krisen besser bewältigt werden können.«1
An der Entschärfung dieser systemzerstörenden Mine war Lafontaine zunächst als
deutscher Finanzminister, dann auch als Vorsitzender der G7 maßgeblich beteiligt. Und bis
heute ist offen, ob die Mine nicht doch noch explodiert. Trotz eines ernsthaften Anlaufs
zur Sanierung des japanischen Banken- und Finanzsystems tickt der Zündmechanismus weiter.
Solange sich die großen Bank- und Kreditinstitute bei der japanischen Zentralbank
Großkredite zu niedrigsten Zinssätzen besorgen können, ist die Gefahr der spekulativen
Überforderung des Weltfinanzsystems nicht gebannt. Doch was in der akuten Krisensituation
schnell zu einem geflügelten Wort wurde, daß nämlich eine »neue Architektur« der
internationalen Finanzmärkte her müsse, wurde schon bei den ersten Anzeichen von
Entspannung wieder kassiert.
Eine Interessenvertretung, wie sie die großen Wirtschaftsverbände begreifen, ist
geradezu abenteuerlich. Hinweise auf reale Probleme wie wettbewerbsverzerrende
Währungsschwankungen, Deflationsrisiken, Wachstumsschwächen etc. werden als Spinnereien
von ideologischen Eiferern abgetan. Kein Wunder, daß der Vorstandsvorsitzende Leysen
über den Lafontaine-Rücktritt geradezu entzückt war: »Eine Erklärung des Papstes,
daß er das Zölibat abgeschafft hätte, hätte nicht mehr Überraschung verursacht, als
diese neue Wendung in der deutschen Währungspolitik.«2 Angesichts der
haarsträubenden Kampagnen aus dem Unternehmerlager, den Banken und der bürgerlichen
Opposition kann es nicht verwundern, wenn in den Kommentaren zum Rücktritt von Lafontaine
die Formeln von »isolierter« oder »weltfremder« Politik überwogen. Die Redeweise von
den unglücklichen weltökonomischen Allüren des einstigen Finanzministers unterstreicht,
wie wenig die historische Auseinandersetzung selbst in weiten Teilen der Sozialdemokratie
und der Gewerkschaften verstanden worden ist.
Das wirtschafts- oder finanzpolitische Problem: In einer Zeit, in der gut die Hälfte der
Weltwirtschaft tief in der Krise steckt und die Metropolen kurz davor sind, ebenfalls in
den Strudel hineinzugeraten, haben weiterhin »Interessen« Konjunktur, die von den
Selbstheilungskräften des Marktes ausgehen und Standortpolitik als
Kostensenkungswettläufe zu Lasten der Masseneinkommen inszenieren. Das
gesellschaftspolitische Problem: Selbst vorsichtige Anläufe, gegen diesen
Katastrophenkurs eine aufklärerische Debatte loszutreten, werden umgehend erstickt. Das
Dilemma: Lafontaine, der in den letzten Jahren stets betont hatte, wie wichtig die
politisch-ideologische Auseinandersetzung mit den Argumenten und Konzeptionen der
neoliberalen Systemveränderer ist,3 hat sich durch seine Einbindung in die
Regierungsverantwortung das allerwichtigste Terrain beschneiden lassen: die schonungslose
Aufklärung über die von den Neoliberalen in Deutschland und dem kapitalistischen
Weltsystem hinterlassenen Beschädigungen.
Im Prinzip war das Scheitern programmiert. Lafontaine hat provoziert, aber die Angriffe
prallten von der Bundesbank ebenso ab wie von der Bundesvereinigung der Deutschen
Industrie und wurden medial an das Gespann Lafontaine/Flassbeck zurückgereicht. Der
Kurswechsel auf eine neue Zins-, Währungs- und Wirtschaftspolitik wurde in der breiten
Öffentlichkeit nicht verstanden, und folglich konnte der Kampagne von Seiten des Kapitals
und der christdemokratischen Opposition kaum etwas entgegengesetzt werden. Daß innerhalb
der Regierung sich letztlich jene Intriganten fanden, die den Kampf für eine andere
Wirtschaftspolitik mit Hinterzimmer-Methoden entschieden, ist ein Randphänomen, wenn auch
kein unwichtiges.
Die Belastungsfähigkeit der Wirtschaft testen?
Rückblickend wird Lafontaine von manchen zu einem altlinken Gesinnungstäter erklärt,
der von der Überzeugung beseelt sei, sozialdemokratische Politik müsse die
Belastungsfähigkeit der Wirtschaft testen. Auch das gehört zur Mythenbildung, die jetzt
denjenigen das politische Geschäft erleichtern soll, die einiges besser, aber im
Grundsatz kaum etwas anders machen wollen.
Man sollte die Ergebnisse der Bundestagswahl nicht kleinreden. Mit dem Sieg der SPD war
die Aufforderung verknüpft, einen Hegemoniewechsel in Deutschland einzuleiten. Oskar
Lafontaine, der einen großen Anteil an der Formierung des rot-grünen Oppositionslagers
hatte, wußte, worauf er sich einließ. Seine zentrale Botschaft auf dem Mannheimer
Parteitag, der ihn an die Spitze der Partei brachte, lautete: »Nur wer überzeugt ist,
kann andere überzeugen.« Ihm war klar, daß man nach 16 Jahren neoliberaler
Umverteilungspolitik eine gewaltige Erblast übernommen hatte, die nur zu schultern ist,
wenn es eine Richtungsänderung in der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik gibt. Sein
Credo: Wer in Deutschland die Arbeitslosigkeit zurückdrängen und die sog.
Gerechtigkeitslücke schließen will, muß die Binnenkonjunktur anschieben und
weltwirtschaftlich eine neue Regulierung der Finanzmärkte durchsetzen. Mit dieser
Einsicht reizte Oskar Lafontaine immer wieder Zentralbanker und Finanzkapital, aber auch
Teile der eigenen Partei: »Wenn es nicht gelingt, die Finanzmärkte in Ordnung zu
bringen, haben wir kaum eine Chance, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Wir sind zu einem
historischen Zeitpunkt an die Regierung gekommen. Wir haben jetzt die große Möglichkeit,
unseren Beitrag zu leisten, dem weltweiten Spielcasino auf den Finanzmärkten einen
internationalen Ordnungsrahmen zu geben.«4
Man kann die Konzeption von Lafontaine als zu halbherzig kritisieren, aber ohne einen
neuen Ansatz der Regulierung, ohne rasche Entwicklung der Binnenkonjunktur und ohne
Umverteilung zugunsten der Lohnabhängigen und Empfänger von Sozialeinkommen ändert sich
an den altbekannten Entwicklungstrends kaum etwas. In den Worten des SPD-Sozialexperten
Rudolf Dressler: »Wir haben doch nicht 16 Jahre gegen diese ökonomische Irrlehre mit
ihren verheerenden Folgen, mit Massenarbeitslosigkeit und riesigen Schuldenbergen, mit
finanziell ausgemergelten Sozialsystemen und einer ökonomisch entmündigten
Arbeitnehmerschaft angekämpft, um mit diesem Quatsch jetzt nach dem Regierungswechsel
weiter zu machen.«5
Die rosa-grüne Regierung hat mit einigen Sofortmaßnahmen (Wiederherstellung der
Lohnfortzahlung, Rücknahme der Rentenkürzungen etc.) der Plünderung der Sozialkassen
durch die Versicherungswirtschaft für eine kurze Übergangszeit einen Riegel
vorgeschoben. Sie hat die öffentlichen Mittel für den Arbeitsmarkt ausgeweitet, um einen
Abbau der Arbeitslosigkeit trotz Abschwächung der Konjunktur hinzubekommen. Die Stärkung
der Massenkaufkraft durch Steuersenkungen und produktivitätsorientierte Lohnpolitik ist
in bescheidenem Maße vorangebracht worden. Für die Einführung der Öko-Steuer wurden
die Unternehmen voll entschädigt. Jetzt sollte ein Teil der überzogenen Gewinne aus dem
Assekurranz-, dem Energie- und dem Immobiliensektor zur Finanzierung öffentlicher
Aufgaben herangezogen werden. Gleichwohl sahen sich Großunternehmen vor allem der
Autoindustrie, der Energiewirtschaft, der Versicherungs- und Immobilienwirtschaft
unzumutbar belastet.
Der politische Handlungsspielraum Lafontaines - alles andere als üppig nach der Erbschaft
Waigels - ist Schritt für Schritt eingeengt worden:
- Selbst wenn die sich abzeichnende Konjunkturabschwächung begrenzt bleibt, ist mit einem
Rückgang der Steuereinnahmen zu rechnen, was die Finanzierung der öffentlichen Aufgaben
unter den Prämissen einer Stabilitätspolitik (begrenzte Neuverschuldung) schwierig
macht.
- Diese Konstellation wird durch Urteile des Bundesverfassungsgerichtes erschwert. Die
Rechtsprechung zur Besoldung von Beamten mit kinderreichen Familien und die Stärkung der
Steuererleichterung für Kinder hat erhebliche Konsequenzen bereits für die Aufstellung
des nächsten Bundeshaushalts.
- Auch die anvisierte Unternehmenssteuerreform läuft auf schmerzhafte Einnahmeausfälle
hinaus, die mit Blick auf die angestrebte Steuerharmonisierung in Euroland wohl nur durch
eine deutliche Erhöhung der Mehrwertsteuer kompensiert werden könnten.
Es gibt also erheblichen Handlungs- und Umverteilungsbedarf. Wenn im nachhinein die
Umverteilungskonzeption von Lafontaine unter dem Stichwort »die Wirtschaft als
Steuerkuh« resümiert wird, so entspricht dies einem publizistisch aufgebauten Feindbild,
hat aber mit der Faktenlage nichts zu tun. Der Punkt ist: Sollen die alten und neuen
Löcher auf altbekannte Weise geschlossen werden, indem der Marsch in den Lohnsteuerstaat
- nunmehr mit einer sozialdemokratischen Melodie unterlegt - fortgesetzt wird, oder macht
man Ernst mit dem Versprechen, die steuerlichen Bemessungsgrundlagen zu verbreitern?
Selbstredend müßte eine solche Politik dort ansetzen, wo die Entsteuerung der Besitz-
und Vermögenseinkommen in den letzten eineinhalb Jahrzehnten am meisten gegriffen hat.
Kanzler Schröder und seine politischen Weggefährten hielten und halten wenig von der
Vorstellung, einen Hegemoniewechsel herbeizuführen. Sie wollen »erfolgreich« regieren.
Der Kanzler tobte im Kabinett: »Ich lasse mit mir keine Politik gegen die Wirtschaft
machen«. Wirtschaftsminister Müller hatte keinerlei Scheu, die historische Kontinuität
zum Neoliberalismus öffentlich auszuplaudern: »Deutschland wurde in den letzten
Jahrzehnten eine Menge Sozialismus aufgeladen, die nicht mehr bezahlbar ist. Es ist vor
dem langen Lauf der Geschichte schon interessant, daß gerade die SPD aus der
Regierungsverantwortung die Aufgabe hat, Wirtschaft und Gesellschaft wieder staatsfrei zu
gestalten und wieder auf mehr Eigenverantwortung zu setzen. Wenn es die neue Regierung in
vier Jahren schafft, die völlig inflationierten Ansprüche an den Staat auf ein
vernünftiges Maß ... zu reduzieren, dann hat sie Historisches geleistet.«6
Es bleibt also schon ein wichtiger Unterschied in der politischen Konzeption: Schröder,
Hombach, Müller u.a. wollen, wie ihr Vorbild Blair, nicht klüger sein als die Märkte.
Lafontaine ging es um die Veränderung des weltwirtschaftlichen und makroökonomischen
Ordnungsrahmens im Sinne einer effektiven politischen Steuerung. Dagegen Leysen:
»Investoren sind nun einmal wie Zugvögel. Sie lassen sich nieder, wo es ihnen gefällt,
und fliegen weiter, wenn es ihnen nicht mehr gefällt. Sie in einen Käfig zu sperren
hilft nicht, denn dann verlieren sie ihre Federn und singen nicht mehr.«7
Lafontaine wollte sicher keinen Käfig bauen, aber Investoren - zumal wenn es sich mehr
und mehr um Bestandteile des Finanzkapitals und nicht um realwirtschaftliche
Unternehmensprojekte handelt - müssen und können politisch eingebunden werden, weil sie
ansonsten nur ausgepowerte gesellschaftliche Wertschöpfungsprozesse hinterlassen.
Lafontaines Reformprogramm
Der Politiker Lafontaine war kein Systemveränderer. Er hat sich stets zur Aufgabe
bekannt, die von den bürgerlichen Parteien verstoßene Konzeption der sozialen
Marktwirtschaft im sozialdemokratischen Kosmos heimisch zu machen: »Das Konzept der
sozialen Marktwirtschaft fußt auf den Erfahrungen aus der Weltwirtschaftskrise in den
dreißiger Jahren und ihren politischen Folgen. Nun hat es den Anschein, als würden wir
die Lehren dieser Zeit vergessen und in alte Verhaltensweisen zurückfallen. Dabei hat
sich die soziale Marktwirtschaft bewährt und verdient es, weltweit installiert zu
werden.«8 Da das programmatische Leitbild einer modernen Teilhabe-
(stakeholder) Gesellschaft ausdrücklich in den Zusammenhang der modernen
Entwicklungstendenzen der Weltökonomie und des Strukturwandels der kapitalistischen
Hauptländer gestellt wird, erscheint die sozialdemokratische Bescheidenheit als
wohltuende Alternative zur neoliberalen Systemveränderung. Gegenüber der
Entzivilisierung des modernen Kapitalismus im Interesse der Vermögensbesitzer - die ihr
Kapital dort einsetzen, wo es die höchsten Renditen bringt, und dort versteuern, wo die
geringsten Belastungen anfallen - erscheint die soziale Marktwirtschaft des sog. goldenen
Zeitalters des Fordismus geradezu als idyllische Phase der jüngeren Geschichte. Insofern
proklamierte der zurückgetretene SPD-Vorsitzende: »Betriebswirtschaft pur oder
Kapitalismus pur... zerstört die Grundlage unserer Zivilgesellschaft und gefährdet die
Demokratie. Eine Demokratie kann nicht zum Ziel haben, die Kapitalrendite zu steigern oder
die Aktienwerte zu maximieren. Eine Demokratie hat zum Ziel, alle Menschen
gleichberechtigt am politischen Leben teilhaben zu lassen. Diesem Ziel dient eine neue
Wirtschafts- und Finanzpolitik, die die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in den
Mittelpunkt rückt. Sie nimmt die Globalisierung nicht zum Anlaß, den Menschen Angst zu
machen.«9
Lafontaine setzte sich dafür ein, nach der jahrzehntelangen Entlastung der Unternehmen
zunächst die gröbsten Ungerechtigkeiten zu beseitigen und dies mit einer Entlastung der
Familien und unteren Einkommensbezieher zu verbinden. Von Umverteilung zu Lasten der
Unternehmen kann keine Rede sein: Die vielgerühmte mittelständische Wirtschaft wird nach
den von Lafontaine selbst noch im Bundestag durchgebrachten Gesetzen um netto 5,5
Milliarden DM entlastet. Und auch dies hatten Lafontaine und Schröder zugesichert: die
Belastungen der Versicherungswirtschaft werden 8,75 Milliarden nicht überschreiten, ganz
egal wie hoch die zu versteuernden Rückstellungen letztlich sind; eine gleiche Zusage
haben auch die Energiekonzerne in der Tasche. Und als zweiten Schritt der Steuerreform hat
auch Lafontaine für eine weitere Entlastung der Unternehmen votiert. Schließlich sei
daran erinnert, daß gerade auch der SPD-Vorsitzende sich für die Flexibilisierung der
Lohnarbeit und einen sozialverträglichen Umbau des Sozialstaates eingesetzt hatte.
Wenn schon der Versuch, die soziale Marktwirtschaft gegenüber dem Kapitalismus pur
wiederherzustellen, so viel Widerstand provoziert, dann wird die historische Dimension der
Herausforderung sichtbar, vor der sich erst recht eine radikale Reformpolitik gestellt
sieht. Lafontaine hat resigniert, sicher auch weil jeder Versuch einer politischen
Mobilisierung der eigenen Anhängerschaft mindestens die Gefahr von Abspaltungen
hervorgerufen hätte.
Die unsozialen Gesetze der neoliberalen Regierung Kohl sollten beseitigt und das »Ende
der Bescheidenheit« für die Lohnabhängigen auch wirtschafts- und fiskalpolitisch
unterstützt werden. Selbst der DGB-Vorsitzende Schulte, der nie durch exponierte
Stellungnahmen auffällt, sieht den Grund für den Rücktritt in dem undemokratischen
Agieren der Kapitalseite: »Wenn man daran denkt, welcher Druck in den letzten Wochen
gemacht worden ist vor allem von Seiten der Wirtschaft - ich erinnere nur an den letzten
Brief, der dem Kanzler gegeben wurde von Vertretern der deutschen Wirtschaft - dann halte
ich das für eine Nötigung, die da abgelaufen ist. Man hat versucht, durch Kapital und
Wirtschaft eine demokratisch gewählte Bundesregierung zu nötigen, oder zumindest ein
Mitglied davon. Die Arbeitgeber haben nichts ausgelassen - und es muß verflixt hart
gewesen sein, weil ein Politprofi wie Lafontaine nicht einfach so das Handtuch wirft.«10
Auch der IG Metall-Vorsitzende wertet den Rücktritt des SPD-Vorsitzenden und
Finanzministers als folgenschwere Niederlage: »Das ist der erste Erfolg des Kapitals.
Damit ist von sofort an in Deutschland vieles anders.« Aber wieviel tatsächliche
Unterstützung erfuhr Lafontaine aus dem Gewerkschaftslager? Nicht im Sinne von
Schulterklopfen und Bekräftigung einer die Binnenmärkte stabilisierenden
Verteilungspolitik, sondern im Sinne ökonomischer und sozialer Aufklärung. Zwickels
Losung - »Ein neues ›Bündnis für Arbeit‹ gibt Auskunft über die
Fähigkeit unserer Gesellschaft, Lösungen jenseits von mehr oder weniger
›Kapitalismus pur‹ zu finden«11 - ist bis heute nicht
zur Grundlage einer veränderten gesellschaftlichen Kommunikation und Kampagne gemacht
worden.
Das wiegt umso schwerer, weil sich gerade Gewerkschafter im Wahlkampf für einen über den
bloßen Regierungswechsel hinausgehenden Politikwechsel stark gemacht hatten. Und weil es
im praktischen politischen Alltagsgeschäft gewerkschaftliche Verteilungskämpfe sind, die
umso erfolgreicher geführt werden können, wenn die neoliberalen Dogmen, der Standort
Deutschland leide an zu hohen Lohnkosten, zu niedrigen Unternehmensrenditen und einem
etatistischen Staatsverständnis, offensiv infragegestellt und attackiert werden.
Demgegenüber zeichnet sich die sozialdemokratische Linke durch eine gehörige Portion
Ignoranz gegenüber wirtschafts- und verteilungspolitischen Konflikten aus. Mit einem
ökosozialen Verständnis von Reformpolitik, das bei ihr mittlerweile heimischer ist als
in der grünen Partei, wurde auch in den Kommentaren zur Inthronisierung des Kanzlers als
Parteivorsitzendem das weite - und entscheidende - Feld der Wirtschafts-, Finanz- und
Einkommenspolitik den konzeptiven Ideologen der »neuen Mitte« überlassen. So war es
eben nicht die SPD-Linke, sondern Lafontaine, der in den letzten Jahren zum Symbol für
einen über einen bloßen Regierungswechsel hinausgehenden Politikwechsel wurde.
Was ist noch alternativ an Grün?
Gewerkschaften, Sozialdemokratie und die gesamte Linke stehen vor einer
Programmdiskussion, vor einer erneuten Auseinandersetzung mit den Entwicklungstendenzen
des modernen Kapitalismus. Gerade von Seiten der Bündnisgrünen wird nach dem Ausscheiden
Lafontaines eine zügige »Modernisierung« der Wirtschafts- und Finanzpolitik angemahnt.
Grüne »Experten« wie der Baden-Württemberger Kuhn, die Vorsitzende des
Finanzausschusses Scheel und der MdB Metzger übertreffen sich geradezu mit
verteilungspolitischen Forderungen, die der FDP alle Ehre machen würden.
Für die Bündnisgrünen hat die Regierungskrise den Nebeneffekt, daß die Turbulenzen
beim sozialdemokratischen Partner von den eigenen programmatischen und organisatorischen
Defiziten ablenken. Außenminister und Vizekanzler Fischer legt seine Partei zusammen mit
dem Großteil der Wirtschafts- und Finanzpolitiker mehr und mehr auf die Verteidigung des
Kapitalismus europäischer Provenienz fest: Man müsse »den rheinischen Kapitalismus,
jenen westeuropäischen Dreiklang von Demokratie, Marktwirtschaft und Sozialstaat, unter
den neuen Bedingungen des Globalismus ohne Aufgabe des Sozialen« restrukturieren.
Mit Ausnahme der Kernenergie- und der Atommüllfrage haben sich die Grünen rasch mit der
Kontinuität bundesdeutscher Politik arrangiert. Die Partei hat jede Kurskorrektur im
Hinblick auf die Militarisierung der Außenpolitik abgelehnt. Auch bei der Flüchtlings-
und Asylpolitik wird - wenn auch zähneknirschend - ein Kompromiß mit dem neoliberalen
Zeitgeist geschlossen. Auf dem Erfurter Parteitag wurde die Debatte über die politische
Rolle und die »Strukturschwächen« der grünen Partei noch einmal vertagt. Doch die
programmatische Abschiedsparty als systemoppositionelle Kraft wurde damit nur
aufgeschoben. Wenn es nicht gelingt, sich als Partei für Ökologie- und
Bürgerrechtsfragen jenseits der sozialdemokratischen und linkssozialistischen Linken zu
etablieren, wird der in den letzten Wahlen sichtbare Niedergang anhalten. Die
Bündnisgrünen könnten dann selbst als Koalitionspartner der Sozialdemokratie vor dem
Ende der Legislaturperiode verloren gehen.
Kasino- oder moderner Dienstleistungskapitalismus?
Im September 1997 veröffentlichte Gerhard Schröder Eckpunkte einer sozialdemokratischen
Modernisierungs- und Reformpolitik. Deren zentrale Botschaft: Echte Unternehmertätigkeit
soll wieder attraktiv werden, und mehr Menschen sollen von personenbezogenen
Dienstleistungen leben können, was eine Reform der sozialen Sicherung und vor allem der
Sozialhilfe bedingt. Entgegen der Unkerei des BDI-Präsidenten Henkel, die Gewerkschaften
und der sozialpolitische Flügel der SPD würden dafür sorgen, daß diese Thesen auf
keinen Fall Eingang in das Wahl- und Regierungsprogramm finden, wurden sie zur Grundlage
der Regierungspolitik - mit Unterstützung Lafontaines.
Die Blairisierung der deutschen Sozialdemokratie begann zu diesem Zeitpunkt, denn weit
über das Programm von Bad Godesberg oder Berlin (1989) hinausgreifend wurde aus der
praktisch-politischen Affinität zu den Herren der Märkte ein neuer Kompromiß deutlich.
Der DGB-Vorsitzende Schulte sieht das so: »Zweifellos setzt Gerhard Schröder wesentlich
stärker auf marktwirtschaftliche Instrumente, auf unternehmerisches Handeln, auf
Risikobereitschaft und Modernität, als dies bisher in sozialdemokratischen Programmen und
Beschlüssen der Fall war... Dies ist kein Plädoyer für einen entfesselten
Kasinokapitalismus, wohl aber für einen modernen Industrie- und
Dienstleistungskapitalismus.«12 Dies ist der entscheidende Punkt der
politisch-programmatischen wie praktischen Auseinandersetzung: Kann man den
unternehmerischen Kapitalismus revitalisieren? Kann man der Realakkumulation des Kapitals
ihren legitimen Platz wieder zuweisen? Und was folgt daraus für Sozialstaat und
Zivilgesellschaft?
Schröder und der Chef seines Amtes, Bodo Hombach, sind keine Blindgänger, sondern sehr
wohl auf der Höhe der westeuropäischen Diskussion. Beide pflichten Anthony Giddens bei,
daß der Neoliberalismus oder Marktfundamentalismus gescheitert ist, und beide ziehen
daraus eine simple Schlußfolgerung: »Die Menschen wollen jetzt handwerklich gut gemachte
Politik, die konkrete Probleme löst.«13 Dieser radikale Pragmatismus ist
Programm und heißt übersetzt: konsequentes Benchmarking und Orientierung an »best
practice«-Beispielen wo auch immer auf der Welt.14 Aber dieser Pragmatismus
braucht auch Perspektive. Auch hier versuchen Schröder und Hombach, die von Giddens
vorgetragene Kritik an der »alten Sozialdemokratie« umzusetzen: »Da ihrem
Selbstverständnis nach linke Regierungen ihrer alten Gewißheiten beraubt sind, betreiben
sie eine Politik aus dem Stegreif. Ihre politischen Initiativen müssen aber theoretisch
unterfüttert werden - nicht bloß um sie nachträglich zu rechtfertigen, sondern um der
Politik mehr Sinn für Richtung und Ziel zu verleihen.«15 Das heißt: nicht
nur der Staatssozialismus, auch die alte Sozialdemokratie mit ihrer Zielvorstellung einer
Überwindung des Kapitalismus durch Wirtschaftssteuerung sind endgültig passé. Schröder
will eine Neugestaltung der Zivilgesellschaft im Rahmen einer kapitalistischen
Perspektive. Seine Erklärung sollte ernst genommen werden, daß er die SPD als
Programmpartei in diesem Sinne für das 21. Jahrhundert fit machen will.
Schröders Position der Weiterentwicklung des Blairismus läßt sich folgendermaßen
umreißen:
- Der Neoliberalismus ist gescheitert, weil er sich dem fundamentalistischen Konzept des
shareholder value ausgeliefert hat. Diese Orientierung läßt keine Perspektive für die
Zivilgesellschaft zu: »Investitionen in Humankapital steigern in den seltensten Fällen
den Börsenkurs; wir haben sogar beobachtet, daß Unternehmen um des
›shareholder value‹ willen Innovationen und Maßnahmen zur
Flexibilisierung verhindert oder rückgängig gemacht haben.«16 An dieser
Konzeption ist zu kritisieren, daß sie weder Vorstellungen zur Zurückdrängung des
Finanzkapitals im nationalstaatlichen oder Euro-Rahmen entwickelt, noch gute handwerkliche
Lösungen für das Problem der unter dem Druck der Finanzmärkte steigenden
Renditeerwartungen bereithält.
- Schröder lehnt die These von Giddens ab, der Wohlfahrtsstaat sei prinzipiell
undemokratisch. Er will den Übergang zu einer »aktiven Wohlfahrt«. Soziale
Unterstützung soll es nur noch geben, wenn dies als Ermutigung zu Selbständigkeit,
Eigeninitiative und Leistungsdenken begriffen wird. Statt pauschaler Ausgrenzung
(Exklusion), wie sie die Neoliberalen betrieben haben, sollen diejenigen, die sich aktiv
um ihre »employability« bemühen, eine zweite Chance erhalten (Inklusion). Daß eine
Politik, die mit dem Anspruch formuliert wird, einen Weg von »welfare to work« zu
planieren, bei vielen Beitragszahlern des Sozialstaates auf Zustimmung stößt, ist
sicher. Gleichwohl bleibt offen, was mit denjenigen passiert, bei denen auch die beste
Leistungsmotivation nicht darüber hinweghilft, daß millionenfach Arbeitsplätze schlicht
fehlen, um aktiv werden zu können. Und ein weiteres Problem ist kaum angedacht: Wie kann
verhindert werden, daß eigenständige soziale Sicherung (Vermögensanlage, Kapitalrente,
Pensionsfonds etc.) ein Treibhausklima für den shareholder value-Kapitalismus schafft.
- Schröder will die Erneuerung der sozialen Demokratie, aber nicht im gesellschaftlichen
Konflikt. »In unseren modernen Gesellschaften sind Reformen und Veränderungen nur im
Konsens mit den Beteiligten, den volkswirtschaftlichen Akteuren, zu ereichen.«17
Lafontaine war weder Marxist noch Sozialist, sondern ein Anhänger traditioneller
sozialdemokratischer Werte: »Das Herz wird noch nicht an der Börse gehandelt, aber es
hat einen Standort - es schlägt links.« Gegen diese »Standortpolitik« wetterte
Schröder im Kabinettssaal: »Ich lasse mit mir keine Politik gegen die Wirtschaft
machen«. Oder in theoretischer Fassung: »Gerade weil sie den arbeitenden Menschen
verpflichtet ist, darf die Sozialdemokratie sich am allerwenigsten aufführen wie die
›alte Linke‹, die glaubte, sozialdemokratische Wirtschaftspolitik
müsse sich in erster Linie gegen die Wirtschaft richten.«
Die Rücknahme der relativen Verselbständigung von Finanzkapital und Wertpapiermärkten
im Konsens? Zu Recht konstatiert Elmar Altvater: »Seit zwei Jahrzehnten liegen die realen
Zinsen im Durchschnitt oberhalb der realen Wachstumsraten des Sozialprodukts. So werden
die reichen Gläubiger immer reicher, während auf der anderen Seite die Schulden wachsen.
Um das Geldvermögen zu mehren, werden gewaltige Finanzmassen von einem Börsenplatz zum
anderen über den Globus gejagt... Die Schleifspur der Spekulation hat politische
Instabilität und soziales Elend hinterlassen in Indonesien, in Rußland, in Südkorea und
anderswo. Aber auch in den westlichen Industrieländern wachsen die Schulden, zumeist
öffentliche Schulden, während private Geldvermögen steigen.«
Der jüngsten Bundesbankstatistik zufolge verfügten die Bundesbürger Ende 1997 über ein
Vermögen von 14 Billionen DM (Immobilien, Wertsachen und Geldvermögen). Der Wertzuwachs
beim Immobilienvermögen betrug im Verlaufe der 90er Jahre 40% und bei Aktien,
Investmentzertifikaten und Rentenwerten schätzungsweise 400 Mrd. DM. In den 90er Jahren
war die Dynamik der Zuwächse auf alle diese Formen des Reichtums stärker ausgeprägt als
bei der Einkommensentwicklung. Diese gesamtwirtschaftlich verursachte Wertsteigerung wurde
verstärkt durch eine Politik der steuerlichen Entlastung der Vermögenseinkünfte. Die
rot-grüne Koalition behandelt dieses »heiße Eisen« ebenso routiniert wie ihre
neoliberale Vorgängerin: Man setzt eine Kommission ein, die die Sachverhalte prüfen und
Vorschläge unterbreiten soll. Ohne eine breite gesellschaftliche Kampagne bleibt es bei
den skandallösen Verhältnissen - die Reichen werden reicher und die Armen bleiben arm.
Der Verzicht auf eine Vermögensbesteuerung oder die Einführung einer allgemeinen
Sozialabgabe, bei der nicht nur die Löhne und Gehälter, sondern alle Einkommen
herangezogen werden, geschweige denn der generelle Übergang zur Besteuerung des
gesellschaftlichen Wertschöpfungsprozesses, engt logischerweise den Finanz- und
Handlungsspielraum der Regierung ein.
Die neue Mitte
Die neue Sozialdemokratie will mit den Tüchtigen und Leistungsträgern ein Bündnis zur
Durchsetzung eines neuen Gesellschaftsvertrages schmieden. Die neue Mitte - so Hombach -
»das sind - jenseits aller sozialpolitischen und soziologischen Kriterien - Bürgerinnen
und Bürger, die sich durch eine bestimmte Erwartungshaltung gegenüber der Politik
auszeichnen. Die meisten von ihnen zählen zu den nicht ideologie- und
institutionengebundenen Wählern, zu den 60 Prozent Unentschlossenen in der
gesellschaftlichen und politischen Mitte. Vor allem sind sie an der Sache orientiert,
undogmatisch und unideologisch. Sie erwarten pragmatische Problemlösungen und politische
Führung... Diese Leute wollen nicht um jeden Preis in ein System der Vollversorgung
eingebunden sein. Sie wollen nicht mit Subventionen zugeschüttet und durch die Wohlfahrt
entmündigt werden.«18 Diese neue Mitte - überwiegend abhängige Arbeitnehmer
oder Kleinunternehmer - trage heute die gesamte Last der Sozialsicherung und den Großteil
der Abgaben für öffentliche Angelegenheiten. Die Mitglieder dieser neuen Mitte wollten
nicht in eine Abhängigkeit vom Sozialstaat geraten und setzen ihre Möglichkeit
allgemein, die Existenz durch eigene Anstrengung sichern zu können. Der eine Teil von
ihnen habea ein Problem: Das gelobte soziale Sicherungssystem werde als Gefängnis
wahrgenommen. Es werde vielen unmöglich gemacht, ein relevantes Vermögen anzusparen,
weil sie von ihrem Arbeitseinkommen oder Geschäftsentnahmen in ein System einzahlen
müßten, das Vermögensbildung nicht zuläßt.
Schauen wir uns die sozialen Schichten an, erhalten wir laut Dahrendorf in den
hochentwickelten kapitalistischen Gesellschaften folgendes Bild: »40% sind noch
einigermaßen im alten Wert- und Erwartungsbereich eines festen Einkommens mit steigender
Tendenz. Am anderen Ende sind 30% eindeutig auf dem abstrebenden Ast und dazwischen 30% in
einer prekären Lage, beherrscht von Angst - also das, was neuerdings im Mittelstand
geschieht und was ja das politische Klima in vielen Ländern so stark beeinflußt, die
Verunsicherung der Mittelschichten.«19
Die modernisierte Sozialdemokratie lehnt eine entschiedene Interessenvertretung des
unteren Drittels oder der an den Rand der Gesellschaft gedrängten Schichten ab.
Schröder: »Die SPD braucht gesellschaftspolitische Verhandlungsmacht. Die erreicht sie
nur, wenn sie mit ihrem Politikkonzept auch und gerade diejenigen anspricht, die in dieser
Gesellschaft das Sagen haben oder von der Entwicklung profitieren. Sie muß in ihrer
Strategie die Interessen der Rationalisierungsgewinner und die der
Rationalisierungsverlierer bündeln können.«20
Wenn die rosa-grüne Koalition aber - wie sich immer deutlicher abzeichnet - dem
Unternehmerlager und dem oberen Drittel der sozialen Schichten verteilungspolitisch
entgegenkommt, dann wird sie dem mittleren Drittel keine Entlastung verschaffen,
geschweige denn die Abstiegsangst nehmen können. Wer aber die Arbeitslosigkeit nur
vermindern kann durch Subventionierung von Billigjobs und außerdem eine weitere
Entlastung der Kapitaleinkommen für unverzichtbar hält, der kann weder eine wirksame
Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen des unteren Drittels der Gesellschaft noch
eine Besserstellung der neuen Mitte organisieren.
Die Modernisierung der Sozialdemokratie gegenüber einer demoralisierten »Alt-Linken«
hat gute Realisierungschancen, nicht zuletzt angesichts der Machtkonzentration, die dem
Regierungschef und künftigen SPD-Vorsitzenden zur Verfügung stehen. Mit dem
spektakulären Ausscheiden von Lafontaine ist aber auch klar: die Konzeption der neuen
Mitte kann niemals den aufgehäuften und sich weiter verschärfenden Konfliktstoff in der
modernen Klassengesellschaft beseitigen.
Die Schröderisierung der SPD
Am Tag des sozialdemokratischen GAUs war Bundeskanzler Schröder mit Anthony Giddens und
Ulrich Beck, den Protagonisten der zweiten Moderne, zu einer öffentlichen Debatte über
die Konzeption des »Dritten Weges« verabredet. Die Veranstalter mußten ohne den
prominenten Fürsprecher auskommen. Laut Pressebericht gewann »Ulrich Beck ... als erster
seinen Frohsinn zurück und kommentierte launig, nach dem Abgang des Finanzministers
könne es mit der Modernisierung der Sozialdemokratie richtig losgehen.«21
Recht hat er.
Gerade vom linken Flügel der Sozialdemokratie kommt die Befürchtung, unter Schröder
würde die Partei zu einem Kanzlerwahlverein degenerieren, zu einer willfährigen
Plakatkleberkolonne ohne Inhalt und Fortüne. Umso dankbarer ist man für das Versprechen
des designierten Vorsitzenden, er wolle die SPD als Programmpartei erhalten. Der Dank ist
voreilig. Nicht weil Schröder und Hombach die SPD programmatisch entleeren, sondern
umgekehrt, weil sie ihr ein neues Programm verpassen könnten. Man mag über die
Blairisierung spotten, aber hier geht es um den Versuch einer radikalen Modernisierung der
Sozialdemokratie (und in der Perspektive auch der Gewerkschaften) jenseits von
Kapitalismuskritik, Wirtschaftsteuerung und Sozialismus gleich welcher Provenienz. In
England ist Old Labour aus Selbstüberheblichkeit und Trägheit vernichtend geschlagen
worden. Auch die Regierung Blair muß viele Unzulänglichkeiten und Halbherzigkeiten
einräumen. Geoff Mulgan, ein Mitstreiter der Erneuerung, gesteht darüber hinaus zu, daß
der realexistierende Kapitalismus sich durch eine bedrohliche Instabilität auszeichnet,
spricht aber den marxistischen Kritikern am Blairisierungs-Prozeß den Realitätsbezug ab:
»In aller Welt werden Dutzende von Ideen lanciert, und wenige Leute glauben noch, alle
Märkte könnten sich irgendwie selbst regulieren. In solch einem Augenblick wäre zu
erwarten, daß Hall und Hobsbawm ihre eigenen Ideen anbieten. Doch bei aller Verve ihrer
Attacke auf den Kapitalismus der 90er Jahre haben sie, erstaunlicherweise, anscheinend
nichts zu sagen: nichts darüber, ob es wirklich eine Alternative zum Kapitalismus gibt,
nichts darüber, wie der Kapitalismus humanisiert werden könnte.«22
Wenn die sozialistische Linke innnerhalb und außerhalb der Sozialdemokratie aus der
historischen Niederlage lernen will, dann sollte sie sich um eine Aktualisierung ihrer
Kapitalismuskritik bemühen. Die Beschwörung einer fernen Utopie reichte schon zu Zeiten
von Marx und Engels, geschweige denn von Luxemburg oder Gramsci, nicht mehr. Wer den
Kapitalismus scharf kritisiert, der muß entweder sagen, wie er ihn bändigen oder wie er
ihn überwinden will. Es muß klar gemacht werden, wie Wirtschaftssteuerung unter heutigen
Bedingungen national und international funktionieren kann. Wer für Umverteilung von
gesellschaftlichem Reichtum eintritt, muß sagen, wie er zugleich den harten Kern jedweder
Ökonomie in die gesellschaftliche Praxis umsetzen will: »Die wirkliche Ökonomie -
Ersparung - besteht in Ersparung von Arbeitszeit... also keineswegs Entsagen vom Genuß,
sondern Entwickeln von Power, von Fähigkeiten zur Produktion und daher sowohl der
Fähigkeiten, wie der Mittel des Genusses... Der Ersparung von Arbeitszeit gleich
Vermehren der freien Zeit, d.h. Zeit für die volle Entwicklung des Individuums, die
selbst wieder als die größte Produktivkraft zurückwirkt auf die Produktivkraft der
Arbeit.«23
Wirtschaftssteuerung als repressive Kommandoveranstaltung - der Übertragung des mehr oder
minder despotischen Regimes der kapitalistischen Fabrik auf die gesamte Gesellschaft - war
immer zum Scheitern verurteilt und hat mit einer modernen Sozialismuskonzeption nichts zu
tun. Man wird die Konzeption der »Kultur der Selbständigkeit«, wie sie von den
»modernen Sozialdemokraten« propagiert wird, nicht kritisieren können, wenn man das
egalitaristische Pathos mit einer neuen Form der Subalternität der eigentumslosen
Menschen verbindet. Schon Marx betonte die Dynamik und belebende Kraft der
Individualität. Wer das Privateigentum an Produktionsmitteln vergesellschaften und in
eine gesellschaftliche Regulation einbinden will, muß eine entwickelte Konzeption der
Zivilgesellschaft vertreten.24 Der Aufstieg und die Ausbreitung des Blairismus
kann nur gestoppt werden, wenn diese Kombination von aktueller Kapitalismuskritik und
konkreten Alternativen eingelöst wird.
Die Autoren sind Redakteure von Sozialismus.
1 FAZ, 8.3.99.
2 FAZ, 12.3.99, S. 15.
3 Die Hauptargumente sind enthalten in: Oskar Lafontaine/Christa Müller, Keine
Angst vor der Globalisierung, Bonn 1998.
4 Oskar Lafontaine, Das Land ist bereit für die kulturell-soziale Wende, in:
Süddeutsche Zeitung, 22.10.1998, S. 11.
5 Rudolf Dreßler, Rede auf dem hbv-Gewerkschaftstag am 28.10.1998.
6 W. Müller, Geplagt von Zweifeln, aber dennoch fest entschlossen. In:
Süddeutsche Zeitung, 5.11.1998, S. 25.
7 A.a.O.
8 Oskar Lafontaine/Christa Müller, a.a.O., S. 54.
9 Ebenda, S. 22.
10 Süddeutsche Zeitung, 13./14.3.1999, S. 21.
11 Klaus Zwickel, Streiten für Arbeit, Berlin 1998, S. 115.
12 FAZ, 2.10.1997, S. 20.
13 Gerhard Schröder, Nachwort, in: Bodo Hombach, Aufbruch. Die Politik der
neuen Mitte, München 1998, S. 222.
14 Vgl. Rolf G. Heinze/Josef Schmid/Christoph Strünck, Vom Wohlfahrtsstaat zum
Wettbewerbsstaat, Opladen 1999.
15 Anthony Giddens, Der dritte Weg. Die Erneuerung der sozialen Demokratie,
Frankfurt a.M. 1999, S. 12. Siehe unsere Kritik: Joachim Bischoff/Richard Detje, Der
»Dritte Weg« und die »neue Mitte«. In: Sozialismus 3-1999, S. 23-29.
16 Süddeutsche Zeitung, 13./14.3.1999, S. 13.
17 Ebenda.
18 Bodo Hombach, a.a.O., S.
19 Ralf Dahrendorf in: Blätter für deutsche und internationale Politik,
9/1996, S. 1061.
20 Gerhard Schröder, Politische Gestaltung oder Primat der Ökonomie? in: Neue
Gesellschaft/Frankfurter Hefte, Nr. 6/1998, S. 506.
21 NZZ 13./14.3. 99 S. 34.
22 Geoff Mulgan, Jammer und ein Stoßgebet. In: S. Hall/E. Hobsbawm/M.
Jacques/S. Moore/G. Mulgan, Tod des Neoliberalismus - Es lebe die Sozialdemokratie?
Sozialismus-Supplement 1/1999, S. 42.
23 Karl Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, Berlin 1974, S.
599.
24 »Privateigentum, als Gegensatz zum gesellschaftlichen, kollektiven
Eigentum, besteht nur da, wo die Arbeitsmittel und die äußeren Bedingungen der Arbeit
Privatleuten gehören. Je nachdem aber diese Privatleute die Arbeiter oder die
Nichtarbeiter sind, hat auch das Privateigentum einen andern Charakter.. Das
Privateigentum des Arbeiters an seinen Produktionsmitteln ist die Grundlage des
Kleinbetriebs, der Kleinbetrieb eine notwendige Bedingung für die Entwicklung der
gesellschaftlichen Produktion und der freien Individualität des Arbeiters selbst.... Die
aus der kapitalistischen Produktionsweise hervorgehende kapitalistische Aneignungsweise,
daher das kapitalistische Privateigentum, ist die erste Negation des individuellen, auf
eigne Arbeit gegründeten Privateigentums. Aber die kapitalistische Produktion erzeugt mit
der Notwendigkeit eines Naturprozesses ihre eigne Negation. Es ist Negation der Negation.
Diese stellt nicht das Privateigentum wieder her, wohl aber das individuelle Eigentum auf
Grundlage der Errungenschaft der kapitalistischen Ära: der Kooperation und des
Gemeinbesitzes der Erde und der durch die Arbeit selbst produzierten Produktionsmittel.«
Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, S. 789-791.
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