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Quelle: www.sozialismus.de

Schröderisierung
Oder: Die Zukunft der Sozialdemokratie

von Joachim Bischoff, Richard Detje und Bernhard Sander

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Die Führung der Sozialdemokratischen Partei duldete nach dem Rücktritt von Oskar Lafontaine keine Irritationen und schon gar keine Betroffenheit. Eine Parteidebatte war und ist nicht erwünscht. Business as usual wurde praktiziert. Den offiziösen Erzählungen zufolge setzte sich der Parteivorsitzende ohne Vorwarnung ins Privatleben ab, eilfertig wird das Bild des »Aussteigers« gezeichnet. Die »Hinterbliebenen« nutzten die Chance und verständigten sich binnen weniger Stunden auf den in Hessen gescheiterten Hans Eichel als künftigen Finanzminister und Bundeskanzler Schröder als neuen Parteichef. Die Gegenstimmen und Enthaltungen bei der Nominierung des neuen Vorsitzenden - immerhin ein Drittel des Vorstandes - kommentierte der Niedersächsische Ministerpräsident Glogowski zynisch: In kritischen Situationen zeige sich, daß ein Teil des Führungspersonals Schwierigkeiten habe, sich für eine rasche Lösung einzusetzen.
Die SPD wird Schröder am 12. April auf einem außerordentlichen Parteitag in die vakant gewordene Position hieven - mit der gleichen kurzweiligen, appellativen Inszenierung, die schon dem Kanzlerkandidaten zuteil wurde. Geräuschlos wird die Ernennung des neuen Finanzministers über die parlamentarische Bühne gehen. Die Regierungskoalition demonstriert Routine. Und doch haben wir es mit einer veränderten politischen Konstellation zu tun. Die wichtigsten Gründe:


Das Scheitern der Aufklärung

Mit Beginn des ersten Tags ihrer Amtsübernahme bemühten sich Lafontaine und sein Staatssekretär Heiner Flassbeck, deutlich zu machen, daß die Wechselkurse der wichtigsten Währungen - Dollar, Euro und Yen - international so gesteuert werden müssen, daß abrupte Sprünge vermieden werden. Unterstützt wurden sie dabei von ihrem französischen Kollegen Strauss-Kahn und der Regierung der pluralistischen Linken in Frankreich. Nach dem Rücktritt Lafontaines wird dieser Ansatz zur Stabilisierung des Weltwährungssystems als absurde Spinnerei denunziert. Doch auch wenn das Konzept der Zielzonen nicht mehr zur Diskussion steht, sind die Probleme weder für die rosa-grüne Regierung noch für die anderen Akteure auf der internationalen Bühne erledigt.
Die rosa-grüne Koalition hat nicht nur die enorme Massenarbeitslosigkeit, zerrüttete Staatsfinanzen und geplünderte Sozialkassen von einer heruntergewirtschafteten neoliberalen Regierung übernommen. Seit dem Herbst 1998 zeichnet sich zudem eine wirtschaftliche Talfahrt mit der Gefahr einer weiteren Erhöhung der Arbeitslosenzahlen ab. Infolge massiver Turbulenzen auf den internationalen Finanz- und Devisenmärkten drohte schließlich sogar ein Zusammenbruch des Weltwährungssystems. Im letzten Quartalsbericht der Bank für internationalen Zahlungsausgleich wird konstatiert: »Die internationalen Finanzmärkte standen im Herbst 1998 dem Zusammenbruch nahe, wenn nicht von offizieller Seite - Notenbank und Regierungen - Maßnahmen ergriffen worden wären, um das Vertrauen wiederherzustellen. Heute läßt sich sagen, daß die Währungsbehörden zwar den Systemzusammenbruch verhindert haben, aber ihr Dilemma wurde eher noch verschärft. Sie müssen jetzt zulassen, daß die privaten Marktteilnehmer die Kosten ihrer Anlage-Fehlentscheidungen selber tragen. Gleichzeitig muß aber auch die Stabilität des Finanzsystems als Ganzes weiter gewahrt werden. Von der Auflösung dieses Dilemmas wird abhängen, ob künftige Krisen besser bewältigt werden können.«1
An der Entschärfung dieser systemzerstörenden Mine war Lafontaine zunächst als deutscher Finanzminister, dann auch als Vorsitzender der G7 maßgeblich beteiligt. Und bis heute ist offen, ob die Mine nicht doch noch explodiert. Trotz eines ernsthaften Anlaufs zur Sanierung des japanischen Banken- und Finanzsystems tickt der Zündmechanismus weiter. Solange sich die großen Bank- und Kreditinstitute bei der japanischen Zentralbank Großkredite zu niedrigsten Zinssätzen besorgen können, ist die Gefahr der spekulativen Überforderung des Weltfinanzsystems nicht gebannt. Doch was in der akuten Krisensituation schnell zu einem geflügelten Wort wurde, daß nämlich eine »neue Architektur« der internationalen Finanzmärkte her müsse, wurde schon bei den ersten Anzeichen von Entspannung wieder kassiert.
Eine Interessenvertretung, wie sie die großen Wirtschaftsverbände begreifen, ist geradezu abenteuerlich. Hinweise auf reale Probleme wie wettbewerbsverzerrende Währungsschwankungen, Deflationsrisiken, Wachstumsschwächen etc. werden als Spinnereien von ideologischen Eiferern abgetan. Kein Wunder, daß der Vorstandsvorsitzende Leysen über den Lafontaine-Rücktritt geradezu entzückt war: »Eine Erklärung des Papstes, daß er das Zölibat abgeschafft hätte, hätte nicht mehr Überraschung verursacht, als diese neue Wendung in der deutschen Währungspolitik.«2 Angesichts der haarsträubenden Kampagnen aus dem Unternehmerlager, den Banken und der bürgerlichen Opposition kann es nicht verwundern, wenn in den Kommentaren zum Rücktritt von Lafontaine die Formeln von »isolierter« oder »weltfremder« Politik überwogen. Die Redeweise von den unglücklichen weltökonomischen Allüren des einstigen Finanzministers unterstreicht, wie wenig die historische Auseinandersetzung selbst in weiten Teilen der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften verstanden worden ist.
Das wirtschafts- oder finanzpolitische Problem: In einer Zeit, in der gut die Hälfte der Weltwirtschaft tief in der Krise steckt und die Metropolen kurz davor sind, ebenfalls in den Strudel hineinzugeraten, haben weiterhin »Interessen« Konjunktur, die von den Selbstheilungskräften des Marktes ausgehen und Standortpolitik als Kostensenkungswettläufe zu Lasten der Masseneinkommen inszenieren. Das gesellschaftspolitische Problem: Selbst vorsichtige Anläufe, gegen diesen Katastrophenkurs eine aufklärerische Debatte loszutreten, werden umgehend erstickt. Das Dilemma: Lafontaine, der in den letzten Jahren stets betont hatte, wie wichtig die politisch-ideologische Auseinandersetzung mit den Argumenten und Konzeptionen der neoliberalen Systemveränderer ist,3 hat sich durch seine Einbindung in die Regierungsverantwortung das allerwichtigste Terrain beschneiden lassen: die schonungslose Aufklärung über die von den Neoliberalen in Deutschland und dem kapitalistischen Weltsystem hinterlassenen Beschädigungen.
Im Prinzip war das Scheitern programmiert. Lafontaine hat provoziert, aber die Angriffe prallten von der Bundesbank ebenso ab wie von der Bundesvereinigung der Deutschen Industrie und wurden medial an das Gespann Lafontaine/Flassbeck zurückgereicht. Der Kurswechsel auf eine neue Zins-, Währungs- und Wirtschaftspolitik wurde in der breiten Öffentlichkeit nicht verstanden, und folglich konnte der Kampagne von Seiten des Kapitals und der christdemokratischen Opposition kaum etwas entgegengesetzt werden. Daß innerhalb der Regierung sich letztlich jene Intriganten fanden, die den Kampf für eine andere Wirtschaftspolitik mit Hinterzimmer-Methoden entschieden, ist ein Randphänomen, wenn auch kein unwichtiges.


Die Belastungsfähigkeit der Wirtschaft testen?

Rückblickend wird Lafontaine von manchen zu einem altlinken Gesinnungstäter erklärt, der von der Überzeugung beseelt sei, sozialdemokratische Politik müsse die Belastungsfähigkeit der Wirtschaft testen. Auch das gehört zur Mythenbildung, die jetzt denjenigen das politische Geschäft erleichtern soll, die einiges besser, aber im Grundsatz kaum etwas anders machen wollen.
Man sollte die Ergebnisse der Bundestagswahl nicht kleinreden. Mit dem Sieg der SPD war die Aufforderung verknüpft, einen Hegemoniewechsel in Deutschland einzuleiten. Oskar Lafontaine, der einen großen Anteil an der Formierung des rot-grünen Oppositionslagers hatte, wußte, worauf er sich einließ. Seine zentrale Botschaft auf dem Mannheimer Parteitag, der ihn an die Spitze der Partei brachte, lautete: »Nur wer überzeugt ist, kann andere überzeugen.« Ihm war klar, daß man nach 16 Jahren neoliberaler Umverteilungspolitik eine gewaltige Erblast übernommen hatte, die nur zu schultern ist, wenn es eine Richtungsänderung in der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik gibt. Sein Credo: Wer in Deutschland die Arbeitslosigkeit zurückdrängen und die sog. Gerechtigkeitslücke schließen will, muß die Binnenkonjunktur anschieben und weltwirtschaftlich eine neue Regulierung der Finanzmärkte durchsetzen. Mit dieser Einsicht reizte Oskar Lafontaine immer wieder Zentralbanker und Finanzkapital, aber auch Teile der eigenen Partei: »Wenn es nicht gelingt, die Finanzmärkte in Ordnung zu bringen, haben wir kaum eine Chance, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Wir sind zu einem historischen Zeitpunkt an die Regierung gekommen. Wir haben jetzt die große Möglichkeit, unseren Beitrag zu leisten, dem weltweiten Spielcasino auf den Finanzmärkten einen internationalen Ordnungsrahmen zu geben.«4
Man kann die Konzeption von Lafontaine als zu halbherzig kritisieren, aber ohne einen neuen Ansatz der Regulierung, ohne rasche Entwicklung der Binnenkonjunktur und ohne Umverteilung zugunsten der Lohnabhängigen und Empfänger von Sozialeinkommen ändert sich an den altbekannten Entwicklungstrends kaum etwas. In den Worten des SPD-Sozialexperten Rudolf Dressler: »Wir haben doch nicht 16 Jahre gegen diese ökonomische Irrlehre mit ihren verheerenden Folgen, mit Massenarbeitslosigkeit und riesigen Schuldenbergen, mit finanziell ausgemergelten Sozialsystemen und einer ökonomisch entmündigten Arbeitnehmerschaft angekämpft, um mit diesem Quatsch jetzt nach dem Regierungswechsel weiter zu machen.«5
Die rosa-grüne Regierung hat mit einigen Sofortmaßnahmen (Wiederherstellung der Lohnfortzahlung, Rücknahme der Rentenkürzungen etc.) der Plünderung der Sozialkassen durch die Versicherungswirtschaft für eine kurze Übergangszeit einen Riegel vorgeschoben. Sie hat die öffentlichen Mittel für den Arbeitsmarkt ausgeweitet, um einen Abbau der Arbeitslosigkeit trotz Abschwächung der Konjunktur hinzubekommen. Die Stärkung der Massenkaufkraft durch Steuersenkungen und produktivitätsorientierte Lohnpolitik ist in bescheidenem Maße vorangebracht worden. Für die Einführung der Öko-Steuer wurden die Unternehmen voll entschädigt. Jetzt sollte ein Teil der überzogenen Gewinne aus dem Assekurranz-, dem Energie- und dem Immobiliensektor zur Finanzierung öffentlicher Aufgaben herangezogen werden. Gleichwohl sahen sich Großunternehmen vor allem der Autoindustrie, der Energiewirtschaft, der Versicherungs- und Immobilienwirtschaft unzumutbar belastet.
Der politische Handlungsspielraum Lafontaines - alles andere als üppig nach der Erbschaft Waigels - ist Schritt für Schritt eingeengt worden:
- Selbst wenn die sich abzeichnende Konjunkturabschwächung begrenzt bleibt, ist mit einem Rückgang der Steuereinnahmen zu rechnen, was die Finanzierung der öffentlichen Aufgaben unter den Prämissen einer Stabilitätspolitik (begrenzte Neuverschuldung) schwierig macht.
- Diese Konstellation wird durch Urteile des Bundesverfassungsgerichtes erschwert. Die Rechtsprechung zur Besoldung von Beamten mit kinderreichen Familien und die Stärkung der Steuererleichterung für Kinder hat erhebliche Konsequenzen bereits für die Aufstellung des nächsten Bundeshaushalts.
- Auch die anvisierte Unternehmenssteuerreform läuft auf schmerzhafte Einnahmeausfälle hinaus, die mit Blick auf die angestrebte Steuerharmonisierung in Euroland wohl nur durch eine deutliche Erhöhung der Mehrwertsteuer kompensiert werden könnten.
Es gibt also erheblichen Handlungs- und Umverteilungsbedarf. Wenn im nachhinein die Umverteilungskonzeption von Lafontaine unter dem Stichwort »die Wirtschaft als Steuerkuh« resümiert wird, so entspricht dies einem publizistisch aufgebauten Feindbild, hat aber mit der Faktenlage nichts zu tun. Der Punkt ist: Sollen die alten und neuen Löcher auf altbekannte Weise geschlossen werden, indem der Marsch in den Lohnsteuerstaat - nunmehr mit einer sozialdemokratischen Melodie unterlegt - fortgesetzt wird, oder macht man Ernst mit dem Versprechen, die steuerlichen Bemessungsgrundlagen zu verbreitern? Selbstredend müßte eine solche Politik dort ansetzen, wo die Entsteuerung der Besitz- und Vermögenseinkommen in den letzten eineinhalb Jahrzehnten am meisten gegriffen hat.
Kanzler Schröder und seine politischen Weggefährten hielten und halten wenig von der Vorstellung, einen Hegemoniewechsel herbeizuführen. Sie wollen »erfolgreich« regieren. Der Kanzler tobte im Kabinett: »Ich lasse mit mir keine Politik gegen die Wirtschaft machen«. Wirtschaftsminister Müller hatte keinerlei Scheu, die historische Kontinuität zum Neoliberalismus öffentlich auszuplaudern: »Deutschland wurde in den letzten Jahrzehnten eine Menge Sozialismus aufgeladen, die nicht mehr bezahlbar ist. Es ist vor dem langen Lauf der Geschichte schon interessant, daß gerade die SPD aus der Regierungsverantwortung die Aufgabe hat, Wirtschaft und Gesellschaft wieder staatsfrei zu gestalten und wieder auf mehr Eigenverantwortung zu setzen. Wenn es die neue Regierung in vier Jahren schafft, die völlig inflationierten Ansprüche an den Staat auf ein vernünftiges Maß ... zu reduzieren, dann hat sie Historisches geleistet.«6
Es bleibt also schon ein wichtiger Unterschied in der politischen Konzeption: Schröder, Hombach, Müller u.a. wollen, wie ihr Vorbild Blair, nicht klüger sein als die Märkte. Lafontaine ging es um die Veränderung des weltwirtschaftlichen und makroökonomischen Ordnungsrahmens im Sinne einer effektiven politischen Steuerung. Dagegen Leysen: »Investoren sind nun einmal wie Zugvögel. Sie lassen sich nieder, wo es ihnen gefällt, und fliegen weiter, wenn es ihnen nicht mehr gefällt. Sie in einen Käfig zu sperren hilft nicht, denn dann verlieren sie ihre Federn und singen nicht mehr.«7 Lafontaine wollte sicher keinen Käfig bauen, aber Investoren - zumal wenn es sich mehr und mehr um Bestandteile des Finanzkapitals und nicht um realwirtschaftliche Unternehmensprojekte handelt - müssen und können politisch eingebunden werden, weil sie ansonsten nur ausgepowerte gesellschaftliche Wertschöpfungsprozesse hinterlassen.


Lafontaines Reformprogramm

Der Politiker Lafontaine war kein Systemveränderer. Er hat sich stets zur Aufgabe bekannt, die von den bürgerlichen Parteien verstoßene Konzeption der sozialen Marktwirtschaft im sozialdemokratischen Kosmos heimisch zu machen: »Das Konzept der sozialen Marktwirtschaft fußt auf den Erfahrungen aus der Weltwirtschaftskrise in den dreißiger Jahren und ihren politischen Folgen. Nun hat es den Anschein, als würden wir die Lehren dieser Zeit vergessen und in alte Verhaltensweisen zurückfallen. Dabei hat sich die soziale Marktwirtschaft bewährt und verdient es, weltweit installiert zu werden.«8 Da das programmatische Leitbild einer modernen Teilhabe- (stakeholder) Gesellschaft ausdrücklich in den Zusammenhang der modernen Entwicklungstendenzen der Weltökonomie und des Strukturwandels der kapitalistischen Hauptländer gestellt wird, erscheint die sozialdemokratische Bescheidenheit als wohltuende Alternative zur neoliberalen Systemveränderung. Gegenüber der Entzivilisierung des modernen Kapitalismus im Interesse der Vermögensbesitzer - die ihr Kapital dort einsetzen, wo es die höchsten Renditen bringt, und dort versteuern, wo die geringsten Belastungen anfallen - erscheint die soziale Marktwirtschaft des sog. goldenen Zeitalters des Fordismus geradezu als idyllische Phase der jüngeren Geschichte. Insofern proklamierte der zurückgetretene SPD-Vorsitzende: »Betriebswirtschaft pur oder Kapitalismus pur... zerstört die Grundlage unserer Zivilgesellschaft und gefährdet die Demokratie. Eine Demokratie kann nicht zum Ziel haben, die Kapitalrendite zu steigern oder die Aktienwerte zu maximieren. Eine Demokratie hat zum Ziel, alle Menschen gleichberechtigt am politischen Leben teilhaben zu lassen. Diesem Ziel dient eine neue Wirtschafts- und Finanzpolitik, die die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in den Mittelpunkt rückt. Sie nimmt die Globalisierung nicht zum Anlaß, den Menschen Angst zu machen.«9
Lafontaine setzte sich dafür ein, nach der jahrzehntelangen Entlastung der Unternehmen zunächst die gröbsten Ungerechtigkeiten zu beseitigen und dies mit einer Entlastung der Familien und unteren Einkommensbezieher zu verbinden. Von Umverteilung zu Lasten der Unternehmen kann keine Rede sein: Die vielgerühmte mittelständische Wirtschaft wird nach den von Lafontaine selbst noch im Bundestag durchgebrachten Gesetzen um netto 5,5 Milliarden DM entlastet. Und auch dies hatten Lafontaine und Schröder zugesichert: die Belastungen der Versicherungswirtschaft werden 8,75 Milliarden nicht überschreiten, ganz egal wie hoch die zu versteuernden Rückstellungen letztlich sind; eine gleiche Zusage haben auch die Energiekonzerne in der Tasche. Und als zweiten Schritt der Steuerreform hat auch Lafontaine für eine weitere Entlastung der Unternehmen votiert. Schließlich sei daran erinnert, daß gerade auch der SPD-Vorsitzende sich für die Flexibilisierung der Lohnarbeit und einen sozialverträglichen Umbau des Sozialstaates eingesetzt hatte.
Wenn schon der Versuch, die soziale Marktwirtschaft gegenüber dem Kapitalismus pur wiederherzustellen, so viel Widerstand provoziert, dann wird die historische Dimension der Herausforderung sichtbar, vor der sich erst recht eine radikale Reformpolitik gestellt sieht. Lafontaine hat resigniert, sicher auch weil jeder Versuch einer politischen Mobilisierung der eigenen Anhängerschaft mindestens die Gefahr von Abspaltungen hervorgerufen hätte.
Die unsozialen Gesetze der neoliberalen Regierung Kohl sollten beseitigt und das »Ende der Bescheidenheit« für die Lohnabhängigen auch wirtschafts- und fiskalpolitisch unterstützt werden. Selbst der DGB-Vorsitzende Schulte, der nie durch exponierte Stellungnahmen auffällt, sieht den Grund für den Rücktritt in dem undemokratischen Agieren der Kapitalseite: »Wenn man daran denkt, welcher Druck in den letzten Wochen gemacht worden ist vor allem von Seiten der Wirtschaft - ich erinnere nur an den letzten Brief, der dem Kanzler gegeben wurde von Vertretern der deutschen Wirtschaft - dann halte ich das für eine Nötigung, die da abgelaufen ist. Man hat versucht, durch Kapital und Wirtschaft eine demokratisch gewählte Bundesregierung zu nötigen, oder zumindest ein Mitglied davon. Die Arbeitgeber haben nichts ausgelassen - und es muß verflixt hart gewesen sein, weil ein Politprofi wie Lafontaine nicht einfach so das Handtuch wirft.«10 Auch der IG Metall-Vorsitzende wertet den Rücktritt des SPD-Vorsitzenden und Finanzministers als folgenschwere Niederlage: »Das ist der erste Erfolg des Kapitals. Damit ist von sofort an in Deutschland vieles anders.« Aber wieviel tatsächliche Unterstützung erfuhr Lafontaine aus dem Gewerkschaftslager? Nicht im Sinne von Schulterklopfen und Bekräftigung einer die Binnenmärkte stabilisierenden Verteilungspolitik, sondern im Sinne ökonomischer und sozialer Aufklärung. Zwickels Losung - »Ein neues ›Bündnis für Arbeit‹ gibt Auskunft über die Fähigkeit unserer Gesellschaft, Lösungen jenseits von mehr oder weniger ›Kapitalismus pur‹ zu finden«11 - ist bis heute nicht zur Grundlage einer veränderten gesellschaftlichen Kommunikation und Kampagne gemacht worden.
Das wiegt umso schwerer, weil sich gerade Gewerkschafter im Wahlkampf für einen über den bloßen Regierungswechsel hinausgehenden Politikwechsel stark gemacht hatten. Und weil es im praktischen politischen Alltagsgeschäft gewerkschaftliche Verteilungskämpfe sind, die umso erfolgreicher geführt werden können, wenn die neoliberalen Dogmen, der Standort Deutschland leide an zu hohen Lohnkosten, zu niedrigen Unternehmensrenditen und einem etatistischen Staatsverständnis, offensiv infragegestellt und attackiert werden. Demgegenüber zeichnet sich die sozialdemokratische Linke durch eine gehörige Portion Ignoranz gegenüber wirtschafts- und verteilungspolitischen Konflikten aus. Mit einem ökosozialen Verständnis von Reformpolitik, das bei ihr mittlerweile heimischer ist als in der grünen Partei, wurde auch in den Kommentaren zur Inthronisierung des Kanzlers als Parteivorsitzendem das weite - und entscheidende - Feld der Wirtschafts-, Finanz- und Einkommenspolitik den konzeptiven Ideologen der »neuen Mitte« überlassen. So war es eben nicht die SPD-Linke, sondern Lafontaine, der in den letzten Jahren zum Symbol für einen über einen bloßen Regierungswechsel hinausgehenden Politikwechsel wurde.


Was ist noch alternativ an Grün?

Gewerkschaften, Sozialdemokratie und die gesamte Linke stehen vor einer Programmdiskussion, vor einer erneuten Auseinandersetzung mit den Entwicklungstendenzen des modernen Kapitalismus. Gerade von Seiten der Bündnisgrünen wird nach dem Ausscheiden Lafontaines eine zügige »Modernisierung« der Wirtschafts- und Finanzpolitik angemahnt. Grüne »Experten« wie der Baden-Württemberger Kuhn, die Vorsitzende des Finanzausschusses Scheel und der MdB Metzger übertreffen sich geradezu mit verteilungspolitischen Forderungen, die der FDP alle Ehre machen würden.
Für die Bündnisgrünen hat die Regierungskrise den Nebeneffekt, daß die Turbulenzen beim sozialdemokratischen Partner von den eigenen programmatischen und organisatorischen Defiziten ablenken. Außenminister und Vizekanzler Fischer legt seine Partei zusammen mit dem Großteil der Wirtschafts- und Finanzpolitiker mehr und mehr auf die Verteidigung des Kapitalismus europäischer Provenienz fest: Man müsse »den rheinischen Kapitalismus, jenen westeuropäischen Dreiklang von Demokratie, Marktwirtschaft und Sozialstaat, unter den neuen Bedingungen des Globalismus ohne Aufgabe des Sozialen« restrukturieren.
Mit Ausnahme der Kernenergie- und der Atommüllfrage haben sich die Grünen rasch mit der Kontinuität bundesdeutscher Politik arrangiert. Die Partei hat jede Kurskorrektur im Hinblick auf die Militarisierung der Außenpolitik abgelehnt. Auch bei der Flüchtlings- und Asylpolitik wird - wenn auch zähneknirschend - ein Kompromiß mit dem neoliberalen Zeitgeist geschlossen. Auf dem Erfurter Parteitag wurde die Debatte über die politische Rolle und die »Strukturschwächen« der grünen Partei noch einmal vertagt. Doch die programmatische Abschiedsparty als systemoppositionelle Kraft wurde damit nur aufgeschoben. Wenn es nicht gelingt, sich als Partei für Ökologie- und Bürgerrechtsfragen jenseits der sozialdemokratischen und linkssozialistischen Linken zu etablieren, wird der in den letzten Wahlen sichtbare Niedergang anhalten. Die Bündnisgrünen könnten dann selbst als Koalitionspartner der Sozialdemokratie vor dem Ende der Legislaturperiode verloren gehen.


Kasino- oder moderner Dienstleistungskapitalismus?

Im September 1997 veröffentlichte Gerhard Schröder Eckpunkte einer sozialdemokratischen Modernisierungs- und Reformpolitik. Deren zentrale Botschaft: Echte Unternehmertätigkeit soll wieder attraktiv werden, und mehr Menschen sollen von personenbezogenen Dienstleistungen leben können, was eine Reform der sozialen Sicherung und vor allem der Sozialhilfe bedingt. Entgegen der Unkerei des BDI-Präsidenten Henkel, die Gewerkschaften und der sozialpolitische Flügel der SPD würden dafür sorgen, daß diese Thesen auf keinen Fall Eingang in das Wahl- und Regierungsprogramm finden, wurden sie zur Grundlage der Regierungspolitik - mit Unterstützung Lafontaines.
Die Blairisierung der deutschen Sozialdemokratie begann zu diesem Zeitpunkt, denn weit über das Programm von Bad Godesberg oder Berlin (1989) hinausgreifend wurde aus der praktisch-politischen Affinität zu den Herren der Märkte ein neuer Kompromiß deutlich. Der DGB-Vorsitzende Schulte sieht das so: »Zweifellos setzt Gerhard Schröder wesentlich stärker auf marktwirtschaftliche Instrumente, auf unternehmerisches Handeln, auf Risikobereitschaft und Modernität, als dies bisher in sozialdemokratischen Programmen und Beschlüssen der Fall war... Dies ist kein Plädoyer für einen entfesselten Kasinokapitalismus, wohl aber für einen modernen Industrie- und Dienstleistungskapitalismus.«12 Dies ist der entscheidende Punkt der politisch-programmatischen wie praktischen Auseinandersetzung: Kann man den unternehmerischen Kapitalismus revitalisieren? Kann man der Realakkumulation des Kapitals ihren legitimen Platz wieder zuweisen? Und was folgt daraus für Sozialstaat und Zivilgesellschaft?
Schröder und der Chef seines Amtes, Bodo Hombach, sind keine Blindgänger, sondern sehr wohl auf der Höhe der westeuropäischen Diskussion. Beide pflichten Anthony Giddens bei, daß der Neoliberalismus oder Marktfundamentalismus gescheitert ist, und beide ziehen daraus eine simple Schlußfolgerung: »Die Menschen wollen jetzt handwerklich gut gemachte Politik, die konkrete Probleme löst.«13 Dieser radikale Pragmatismus ist Programm und heißt übersetzt: konsequentes Benchmarking und Orientierung an »best practice«-Beispielen wo auch immer auf der Welt.14 Aber dieser Pragmatismus braucht auch Perspektive. Auch hier versuchen Schröder und Hombach, die von Giddens vorgetragene Kritik an der »alten Sozialdemokratie« umzusetzen: »Da ihrem Selbstverständnis nach linke Regierungen ihrer alten Gewißheiten beraubt sind, betreiben sie eine Politik aus dem Stegreif. Ihre politischen Initiativen müssen aber theoretisch unterfüttert werden - nicht bloß um sie nachträglich zu rechtfertigen, sondern um der Politik mehr Sinn für Richtung und Ziel zu verleihen.«15 Das heißt: nicht nur der Staatssozialismus, auch die alte Sozialdemokratie mit ihrer Zielvorstellung einer Überwindung des Kapitalismus durch Wirtschaftssteuerung sind endgültig passé. Schröder will eine Neugestaltung der Zivilgesellschaft im Rahmen einer kapitalistischen Perspektive. Seine Erklärung sollte ernst genommen werden, daß er die SPD als Programmpartei in diesem Sinne für das 21. Jahrhundert fit machen will.
Schröders Position der Weiterentwicklung des Blairismus läßt sich folgendermaßen umreißen:
- Der Neoliberalismus ist gescheitert, weil er sich dem fundamentalistischen Konzept des shareholder value ausgeliefert hat. Diese Orientierung läßt keine Perspektive für die Zivilgesellschaft zu: »Investitionen in Humankapital steigern in den seltensten Fällen den Börsenkurs; wir haben sogar beobachtet, daß Unternehmen um des ›shareholder value‹ willen Innovationen und Maßnahmen zur Flexibilisierung verhindert oder rückgängig gemacht haben.«16 An dieser Konzeption ist zu kritisieren, daß sie weder Vorstellungen zur Zurückdrängung des Finanzkapitals im nationalstaatlichen oder Euro-Rahmen entwickelt, noch gute handwerkliche Lösungen für das Problem der unter dem Druck der Finanzmärkte steigenden Renditeerwartungen bereithält.
- Schröder lehnt die These von Giddens ab, der Wohlfahrtsstaat sei prinzipiell undemokratisch. Er will den Übergang zu einer »aktiven Wohlfahrt«. Soziale Unterstützung soll es nur noch geben, wenn dies als Ermutigung zu Selbständigkeit, Eigeninitiative und Leistungsdenken begriffen wird. Statt pauschaler Ausgrenzung (Exklusion), wie sie die Neoliberalen betrieben haben, sollen diejenigen, die sich aktiv um ihre »employability« bemühen, eine zweite Chance erhalten (Inklusion). Daß eine Politik, die mit dem Anspruch formuliert wird, einen Weg von »welfare to work« zu planieren, bei vielen Beitragszahlern des Sozialstaates auf Zustimmung stößt, ist sicher. Gleichwohl bleibt offen, was mit denjenigen passiert, bei denen auch die beste Leistungsmotivation nicht darüber hinweghilft, daß millionenfach Arbeitsplätze schlicht fehlen, um aktiv werden zu können. Und ein weiteres Problem ist kaum angedacht: Wie kann verhindert werden, daß eigenständige soziale Sicherung (Vermögensanlage, Kapitalrente, Pensionsfonds etc.) ein Treibhausklima für den shareholder value-Kapitalismus schafft.
- Schröder will die Erneuerung der sozialen Demokratie, aber nicht im gesellschaftlichen Konflikt. »In unseren modernen Gesellschaften sind Reformen und Veränderungen nur im Konsens mit den Beteiligten, den volkswirtschaftlichen Akteuren, zu ereichen.«17 Lafontaine war weder Marxist noch Sozialist, sondern ein Anhänger traditioneller sozialdemokratischer Werte: »Das Herz wird noch nicht an der Börse gehandelt, aber es hat einen Standort - es schlägt links.« Gegen diese »Standortpolitik« wetterte Schröder im Kabinettssaal: »Ich lasse mit mir keine Politik gegen die Wirtschaft machen«. Oder in theoretischer Fassung: »Gerade weil sie den arbeitenden Menschen verpflichtet ist, darf die Sozialdemokratie sich am allerwenigsten aufführen wie die ›alte Linke‹, die glaubte, sozialdemokratische Wirtschaftspolitik müsse sich in erster Linie gegen die Wirtschaft richten.«
Die Rücknahme der relativen Verselbständigung von Finanzkapital und Wertpapiermärkten im Konsens? Zu Recht konstatiert Elmar Altvater: »Seit zwei Jahrzehnten liegen die realen Zinsen im Durchschnitt oberhalb der realen Wachstumsraten des Sozialprodukts. So werden die reichen Gläubiger immer reicher, während auf der anderen Seite die Schulden wachsen. Um das Geldvermögen zu mehren, werden gewaltige Finanzmassen von einem Börsenplatz zum anderen über den Globus gejagt... Die Schleifspur der Spekulation hat politische Instabilität und soziales Elend hinterlassen in Indonesien, in Rußland, in Südkorea und anderswo. Aber auch in den westlichen Industrieländern wachsen die Schulden, zumeist öffentliche Schulden, während private Geldvermögen steigen.«
Der jüngsten Bundesbankstatistik zufolge verfügten die Bundesbürger Ende 1997 über ein Vermögen von 14 Billionen DM (Immobilien, Wertsachen und Geldvermögen). Der Wertzuwachs beim Immobilienvermögen betrug im Verlaufe der 90er Jahre 40% und bei Aktien, Investmentzertifikaten und Rentenwerten schätzungsweise 400 Mrd. DM. In den 90er Jahren war die Dynamik der Zuwächse auf alle diese Formen des Reichtums stärker ausgeprägt als bei der Einkommensentwicklung. Diese gesamtwirtschaftlich verursachte Wertsteigerung wurde verstärkt durch eine Politik der steuerlichen Entlastung der Vermögenseinkünfte. Die rot-grüne Koalition behandelt dieses »heiße Eisen« ebenso routiniert wie ihre neoliberale Vorgängerin: Man setzt eine Kommission ein, die die Sachverhalte prüfen und Vorschläge unterbreiten soll. Ohne eine breite gesellschaftliche Kampagne bleibt es bei den skandallösen Verhältnissen - die Reichen werden reicher und die Armen bleiben arm. Der Verzicht auf eine Vermögensbesteuerung oder die Einführung einer allgemeinen Sozialabgabe, bei der nicht nur die Löhne und Gehälter, sondern alle Einkommen herangezogen werden, geschweige denn der generelle Übergang zur Besteuerung des gesellschaftlichen Wertschöpfungsprozesses, engt logischerweise den Finanz- und Handlungsspielraum der Regierung ein.


Die neue Mitte

Die neue Sozialdemokratie will mit den Tüchtigen und Leistungsträgern ein Bündnis zur Durchsetzung eines neuen Gesellschaftsvertrages schmieden. Die neue Mitte - so Hombach - »das sind - jenseits aller sozialpolitischen und soziologischen Kriterien - Bürgerinnen und Bürger, die sich durch eine bestimmte Erwartungshaltung gegenüber der Politik auszeichnen. Die meisten von ihnen zählen zu den nicht ideologie- und institutionengebundenen Wählern, zu den 60 Prozent Unentschlossenen in der gesellschaftlichen und politischen Mitte. Vor allem sind sie an der Sache orientiert, undogmatisch und unideologisch. Sie erwarten pragmatische Problemlösungen und politische Führung... Diese Leute wollen nicht um jeden Preis in ein System der Vollversorgung eingebunden sein. Sie wollen nicht mit Subventionen zugeschüttet und durch die Wohlfahrt entmündigt werden.«18 Diese neue Mitte - überwiegend abhängige Arbeitnehmer oder Kleinunternehmer - trage heute die gesamte Last der Sozialsicherung und den Großteil der Abgaben für öffentliche Angelegenheiten. Die Mitglieder dieser neuen Mitte wollten nicht in eine Abhängigkeit vom Sozialstaat geraten und setzen ihre Möglichkeit allgemein, die Existenz durch eigene Anstrengung sichern zu können. Der eine Teil von ihnen habea ein Problem: Das gelobte soziale Sicherungssystem werde als Gefängnis wahrgenommen. Es werde vielen unmöglich gemacht, ein relevantes Vermögen anzusparen, weil sie von ihrem Arbeitseinkommen oder Geschäftsentnahmen in ein System einzahlen müßten, das Vermögensbildung nicht zuläßt.
Schauen wir uns die sozialen Schichten an, erhalten wir laut Dahrendorf in den hochentwickelten kapitalistischen Gesellschaften folgendes Bild: »40% sind noch einigermaßen im alten Wert- und Erwartungsbereich eines festen Einkommens mit steigender Tendenz. Am anderen Ende sind 30% eindeutig auf dem abstrebenden Ast und dazwischen 30% in einer prekären Lage, beherrscht von Angst - also das, was neuerdings im Mittelstand geschieht und was ja das politische Klima in vielen Ländern so stark beeinflußt, die Verunsicherung der Mittelschichten.«19
Die modernisierte Sozialdemokratie lehnt eine entschiedene Interessenvertretung des unteren Drittels oder der an den Rand der Gesellschaft gedrängten Schichten ab. Schröder: »Die SPD braucht gesellschaftspolitische Verhandlungsmacht. Die erreicht sie nur, wenn sie mit ihrem Politikkonzept auch und gerade diejenigen anspricht, die in dieser Gesellschaft das Sagen haben oder von der Entwicklung profitieren. Sie muß in ihrer Strategie die Interessen der Rationalisierungsgewinner und die der Rationalisierungsverlierer bündeln können.«20
Wenn die rosa-grüne Koalition aber - wie sich immer deutlicher abzeichnet - dem Unternehmerlager und dem oberen Drittel der sozialen Schichten verteilungspolitisch entgegenkommt, dann wird sie dem mittleren Drittel keine Entlastung verschaffen, geschweige denn die Abstiegsangst nehmen können. Wer aber die Arbeitslosigkeit nur vermindern kann durch Subventionierung von Billigjobs und außerdem eine weitere Entlastung der Kapitaleinkommen für unverzichtbar hält, der kann weder eine wirksame Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen des unteren Drittels der Gesellschaft noch eine Besserstellung der neuen Mitte organisieren.
Die Modernisierung der Sozialdemokratie gegenüber einer demoralisierten »Alt-Linken« hat gute Realisierungschancen, nicht zuletzt angesichts der Machtkonzentration, die dem Regierungschef und künftigen SPD-Vorsitzenden zur Verfügung stehen. Mit dem spektakulären Ausscheiden von Lafontaine ist aber auch klar: die Konzeption der neuen Mitte kann niemals den aufgehäuften und sich weiter verschärfenden Konfliktstoff in der modernen Klassengesellschaft beseitigen.


Die Schröderisierung der SPD

Am Tag des sozialdemokratischen GAUs war Bundeskanzler Schröder mit Anthony Giddens und Ulrich Beck, den Protagonisten der zweiten Moderne, zu einer öffentlichen Debatte über die Konzeption des »Dritten Weges« verabredet. Die Veranstalter mußten ohne den prominenten Fürsprecher auskommen. Laut Pressebericht gewann »Ulrich Beck ... als erster seinen Frohsinn zurück und kommentierte launig, nach dem Abgang des Finanzministers könne es mit der Modernisierung der Sozialdemokratie richtig losgehen.«21 Recht hat er.
Gerade vom linken Flügel der Sozialdemokratie kommt die Befürchtung, unter Schröder würde die Partei zu einem Kanzlerwahlverein degenerieren, zu einer willfährigen Plakatkleberkolonne ohne Inhalt und Fortüne. Umso dankbarer ist man für das Versprechen des designierten Vorsitzenden, er wolle die SPD als Programmpartei erhalten. Der Dank ist voreilig. Nicht weil Schröder und Hombach die SPD programmatisch entleeren, sondern umgekehrt, weil sie ihr ein neues Programm verpassen könnten. Man mag über die Blairisierung spotten, aber hier geht es um den Versuch einer radikalen Modernisierung der Sozialdemokratie (und in der Perspektive auch der Gewerkschaften) jenseits von Kapitalismuskritik, Wirtschaftsteuerung und Sozialismus gleich welcher Provenienz. In England ist Old Labour aus Selbstüberheblichkeit und Trägheit vernichtend geschlagen worden. Auch die Regierung Blair muß viele Unzulänglichkeiten und Halbherzigkeiten einräumen. Geoff Mulgan, ein Mitstreiter der Erneuerung, gesteht darüber hinaus zu, daß der realexistierende Kapitalismus sich durch eine bedrohliche Instabilität auszeichnet, spricht aber den marxistischen Kritikern am Blairisierungs-Prozeß den Realitätsbezug ab: »In aller Welt werden Dutzende von Ideen lanciert, und wenige Leute glauben noch, alle Märkte könnten sich irgendwie selbst regulieren. In solch einem Augenblick wäre zu erwarten, daß Hall und Hobsbawm ihre eigenen Ideen anbieten. Doch bei aller Verve ihrer Attacke auf den Kapitalismus der 90er Jahre haben sie, erstaunlicherweise, anscheinend nichts zu sagen: nichts darüber, ob es wirklich eine Alternative zum Kapitalismus gibt, nichts darüber, wie der Kapitalismus humanisiert werden könnte.«22
Wenn die sozialistische Linke innnerhalb und außerhalb der Sozialdemokratie aus der historischen Niederlage lernen will, dann sollte sie sich um eine Aktualisierung ihrer Kapitalismuskritik bemühen. Die Beschwörung einer fernen Utopie reichte schon zu Zeiten von Marx und Engels, geschweige denn von Luxemburg oder Gramsci, nicht mehr. Wer den Kapitalismus scharf kritisiert, der muß entweder sagen, wie er ihn bändigen oder wie er ihn überwinden will. Es muß klar gemacht werden, wie Wirtschaftssteuerung unter heutigen Bedingungen national und international funktionieren kann. Wer für Umverteilung von gesellschaftlichem Reichtum eintritt, muß sagen, wie er zugleich den harten Kern jedweder Ökonomie in die gesellschaftliche Praxis umsetzen will: »Die wirkliche Ökonomie - Ersparung - besteht in Ersparung von Arbeitszeit... also keineswegs Entsagen vom Genuß, sondern Entwickeln von Power, von Fähigkeiten zur Produktion und daher sowohl der Fähigkeiten, wie der Mittel des Genusses... Der Ersparung von Arbeitszeit gleich Vermehren der freien Zeit, d.h. Zeit für die volle Entwicklung des Individuums, die selbst wieder als die größte Produktivkraft zurückwirkt auf die Produktivkraft der Arbeit.«23
Wirtschaftssteuerung als repressive Kommandoveranstaltung - der Übertragung des mehr oder minder despotischen Regimes der kapitalistischen Fabrik auf die gesamte Gesellschaft - war immer zum Scheitern verurteilt und hat mit einer modernen Sozialismuskonzeption nichts zu tun. Man wird die Konzeption der »Kultur der Selbständigkeit«, wie sie von den »modernen Sozialdemokraten« propagiert wird, nicht kritisieren können, wenn man das egalitaristische Pathos mit einer neuen Form der Subalternität der eigentumslosen Menschen verbindet. Schon Marx betonte die Dynamik und belebende Kraft der Individualität. Wer das Privateigentum an Produktionsmitteln vergesellschaften und in eine gesellschaftliche Regulation einbinden will, muß eine entwickelte Konzeption der Zivilgesellschaft vertreten.24 Der Aufstieg und die Ausbreitung des Blairismus kann nur gestoppt werden, wenn diese Kombination von aktueller Kapitalismuskritik und konkreten Alternativen eingelöst wird.



Die Autoren sind Redakteure von Sozialismus.

1 FAZ, 8.3.99.
2 FAZ, 12.3.99, S. 15.
3 Die Hauptargumente sind enthalten in: Oskar Lafontaine/Christa Müller, Keine Angst vor der Globalisierung, Bonn 1998.
4 Oskar Lafontaine, Das Land ist bereit für die kulturell-soziale Wende, in: Süddeutsche Zeitung, 22.10.1998, S. 11.
5 Rudolf Dreßler, Rede auf dem hbv-Gewerkschaftstag am 28.10.1998.
6 W. Müller, Geplagt von Zweifeln, aber dennoch fest entschlossen. In: Süddeutsche Zeitung, 5.11.1998, S. 25.
7 A.a.O.
8 Oskar Lafontaine/Christa Müller, a.a.O., S. 54.
9 Ebenda, S. 22.
10 Süddeutsche Zeitung, 13./14.3.1999, S. 21.
11 Klaus Zwickel, Streiten für Arbeit, Berlin 1998, S. 115.
12 FAZ, 2.10.1997, S. 20.
13 Gerhard Schröder, Nachwort, in: Bodo Hombach, Aufbruch. Die Politik der neuen Mitte, München 1998, S. 222.
14 Vgl. Rolf G. Heinze/Josef Schmid/Christoph Strünck, Vom Wohlfahrtsstaat zum Wettbewerbsstaat, Opladen 1999.
15 Anthony Giddens, Der dritte Weg. Die Erneuerung der sozialen Demokratie, Frankfurt a.M. 1999, S. 12. Siehe unsere Kritik: Joachim Bischoff/Richard Detje, Der »Dritte Weg« und die »neue Mitte«. In: Sozialismus 3-1999, S. 23-29.
16 Süddeutsche Zeitung, 13./14.3.1999, S. 13.
17 Ebenda.
18 Bodo Hombach, a.a.O., S.
19 Ralf Dahrendorf in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 9/1996, S. 1061.
20 Gerhard Schröder, Politische Gestaltung oder Primat der Ökonomie? in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, Nr. 6/1998, S. 506.
21 NZZ 13./14.3. 99 S. 34.
22 Geoff Mulgan, Jammer und ein Stoßgebet. In: S. Hall/E. Hobsbawm/M. Jacques/S. Moore/G. Mulgan, Tod des Neoliberalismus - Es lebe die Sozialdemokratie? Sozialismus-Supplement 1/1999, S. 42.
23 Karl Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, Berlin 1974, S. 599.
24 »Privateigentum, als Gegensatz zum gesellschaftlichen, kollektiven Eigentum, besteht nur da, wo die Arbeitsmittel und die äußeren Bedingungen der Arbeit Privatleuten gehören. Je nachdem aber diese Privatleute die Arbeiter oder die Nichtarbeiter sind, hat auch das Privateigentum einen andern Charakter.. Das Privateigentum des Arbeiters an seinen Produktionsmitteln ist die Grundlage des Kleinbetriebs, der Kleinbetrieb eine notwendige Bedingung für die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktion und der freien Individualität des Arbeiters selbst.... Die aus der kapitalistischen Produktionsweise hervorgehende kapitalistische Aneignungsweise, daher das kapitalistische Privateigentum, ist die erste Negation des individuellen, auf eigne Arbeit gegründeten Privateigentums. Aber die kapitalistische Produktion erzeugt mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses ihre eigne Negation. Es ist Negation der Negation. Diese stellt nicht das Privateigentum wieder her, wohl aber das individuelle Eigentum auf Grundlage der Errungenschaft der kapitalistischen Ära: der Kooperation und des Gemeinbesitzes der Erde und der durch die Arbeit selbst produzierten Produktionsmittel.« Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, S. 789-791.

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