Bernard Schmid berichtet aus Frankreich
Die extreme Rechte vor den Bezirksparlamentswahlen

04-2015

trend
onlinezeitung

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Stand: 21. März 15.
Der Artikel wurde vor den jüngst in ganz Frankreich stattgefundenen Bezirksparlamentswahlen verfasst und gibt den Zustand der Debatten VOR ihrer Abhaltung wieder. Zu ihrem Ausgang vgl. Bezirksparlamentswahlen in Frankreich/ red. trend

Der amtierende Premierminister Manuel Valls hat sich für die Dramatisierung entschieden. „Ich habe Angst, nicht für mich, sondern für mein Land“ erklärte er am vorvergangenen Sonntag, den 08. März 15in einer Fernsehsendung, „die Furcht, dass es am Front National zerschellt“. Er erwähnte die Aussicht, die rechtsextreme Partei bei dreißig Prozent der Stimmen zu sehen, „nicht im zweiten Wahlgang, sondern im ersten Durchgang bei den Bezirksparlamentswahlen“. Diese finden in ganz Frankreich mit Ausnahme von Paris und Lyon, wo Stadtrat und Bezirksparlament in eins fallen, an den letzten beiden Sonntagen im März (d.h. am 22. und 29. März 15) statt.

Valls‘ Prognose ist, so sieht es nach bisherigen Umfragen aus, zahlenmäßig realistisch. Allerdings wird auch eine Wahlenthaltung in Höhe von rund 57 Prozent vorausgesagt, das wäre vergleichbar hoch wie bei der Europaparlamentswahl im Mai 2014. (Nachträgliche Anm.: Der reale Wahlgang fiel dann anders aus, vgl. dazu nebenstehenden Artikel.) Der Regierungschef fügte jedoch hinzu, danach könnte die extreme Rechte „auch die Präsidentschaftswahl gewinnen, nicht 2022, sondern schon 2017“.

Die Reaktionen auf diesen verbalen Vorstoß, denen weitere folgten – am Dienstag, den 11. März 15 erhob Valls den Anspruch, er wolle „den FN bis zum Schluss stigmatisieren“ – rief unterschiedliche Reaktionen hervor. In vielen von ihnen ist die Rede davon, die Worte des rechten Sozialdemokraten seien wahltaktisch motiviert. Der Linkspolitiker Jean-Luc Mélenchon, der im Jahr seiner Präsidentschaftskandidatur von 2012 selbst als vorgebliche Speerspitze im Kampf gegen die extreme Rechte auftrat, sich jedoch bei einer Wahlkreiskandidatur gegen Marine Le Pen bei den nachfolgenden Parlamentswahlen eine herbe Niederlage einhandelt, wirft Valls etwa „zynisches Kalkül“ vor. Erst recht aus dem Häuschen sind die französischen Konservativen. Diese behaupten, wie etwa ihre frühere Justizministerin Rachid Dati, Valls wolle den FN gezielt „ansteigen lassen“, indem er ihn zur quasi offiziellen Alternative aufbaue.

Aus ihnen spricht auch die Furcht, zwischen einer faktisch von wirtschaftsliberalen Positionen regierenden Sozialdemokratie und einem als angebliche „soziale und nationale Alternative“ auftretenden Front National zerrieben zu werden. Immer wieder bemühen sie das Verhalten des einstigen Staatspräsidenten François Mitterrand, der in den Jahren zwischen 1982 und 1985 tatsächlich mit dem Feuer gespielt und den Aufstieg des FN damals erheblich begünstigt hatte. Die oft zitierte vorübergehende Einführung des Verhältniswahlrechts 1985 ist dabei nur eine kleinere Facette,; schwerer wogen die Anweisungen François Mitterrands, Jean-Marie Le Pen ins damals ausschließlich öffentlich-rechtliche Fernsehen einzuladen. Ein Auftritt von Le Pen senior in „der“ Polit-Talkshow jener Jahre, L’Heure de la Vérité, verschaffte ihm 1984 die offizielle „Glaubwürdigkeit“: Am folgenden Tag standen Beitrittswillige zweihundert Meter Schlange vor seinem Pariser Parteilokal. Mitterrands Kalkül dabei lautete, eine auf zehn Prozent ansteigende extreme Rechte beraube die Konservativ-Liberalen ihrer Mehrheitsfähigkeit, treibe einen Keil in die Rechte und – so drückte es sein zeitweiliger Premierminister Pierre Bérégovoy einmal aus – biete der Sozialdemokratie eine Perspektive für „dreißig Jahre an der Macht“. Das Kalkül ging nicht auf, die Sozialdemokratie legte ab 1993 eine längere Regierungspause ein, und Bérégevoy beging im selben Jahr Selbstmord, allerdings aus anderen Gründen, wegen eines eher geringfügigen Finanzskandals.

Heute würde zwar niemand mehr offen kalkulieren wie Mitterrand damals, zumal sich die Verhältnisse grundlegend geändert haben: Der FN hat die Zehn-Prozent-Marke heute weit hinter sich gelassen, und holte er seine Wähler in den achtziger Jahren überwiegend bei den Konservativen ab, kommen sie seit n neunziger Jahren auch zunehmend aus der Erbmasse einer zunehmend desorientierten oder politisch frustrierten Linken. Eigentlich müsste sich eine solche Rechnung wie damals also auch für die Sozialdemokratie verbieten. Aber ein Teil von ihr setzt auf eine symbolpolitische Zuspitzung, die zu einer Polarisierung führen soll, bei der am Ende die Wahl bleibt: „Die oder wir.“ Also ein Verbleib an der Macht der derzeit Regierenden – oder das Abdriften in ein rechtsextremes Experiment. An der Basis sind die Konservativen inzwischen zum Teil so eng mit der extremen Rechten verbandelt, wie etwa eine gemeinsame Sylvesterfeier der Parteijugend von UMP und FN in Paris vor zweieinhalb Monaten zeigte, dass die bürgerliche Rechte in einer solchen Konstellation tief gespalten wird.

Manche sozialdemokratische Parteifunktionäre wiederum juckt es in den Fingern, auf eine Weise zu taktieren, dass der Front National immer wieder im Gespräch gehalten wird und ins Zentrum vieler innenpolitischer Debatten rückt, um auf diese Weise die aktuelle Situation zu zementieren. Davon erhoffen sich diese Strategen, ohne Änderungen an ihrer Politik und ohne auf die sozialen Wünsche gerade der linken Wählerschaft irgendwie einzugehen, dennoch als „Verteidiger der Republik“ am Ruder bleiben zu können. Bei einem Rundfunkauftritt bei Radio France Info am 19. Februar 15 klang der rechtssozialdemokratische Bürgermeister von Lyon, Gérard Collomb, absolut enthusiastisch, als er auf die Frage nach den innenpolitischen Widersprüchen gerade bei seiner Partei ausrief: „Nur der Schock in Gestalt von Marine Le Pen kann alle Beteiligten sensibilisieren und dafür sorgen, dass man diese künstlichen Gräbenkämpfe überwindet.“ (Vgl. http://www.franceinfo.fr, siebte und letzte Minute) Das war explizit dergestalt gemeint, dass die Bedrohung dafür sorgen werde, innerparteiliche Kritiker an der wirtschaftsliberalen Politik der Regierung endlich zum Schweigen zu bringen und die Reihen zu schließen. Collomb zeigt sich darüber sehr glücklich.

Aktuell wird auch erwartet, dass in Bezirksparlamenten, wo der Front National zur stärksten Partei werden kann, ihm ein Teil der konservativen Stimmen zur Übernahme künftiger Bezirksregierungen verhelfen könnte. Als möglich erachtet wird dies derzeit für die Bezirksparlamente in Toulon und Avignon in Südostfrankreich, in Laon in der Picardie und in Arras im Nordosten des Landes. (Anm.: Es kam letztendlich anders, vgl. dazu Bezirksparlamentswahlen in Frankreich)

In jedem der betreffenden Départements zählt die extreme Rechte derzeit ein oder mehrere von ihr regierter Rathäuser, seit den letzten französischen Kommunalparlamentswahlen vom März 2014.

In einem Falle allerdings, dem des rechtsextrem geführten Rathauses von Le Pontet, einem Vorort von Avignon, wird die Wahl in wenigen Wochen wiederholt werden müssen. Am 25. Februar 15 annullierte der Conseil d’Etat, das oberste Verwaltungsgericht in Frankreich, die Wahl des dort amtierenden 32jährigen FN-Bürgermeisters Joris Hébrard. Es könne nicht ausgeschlossen werden, schlussfolgerte das Gericht aus den ihm vorliegenden Beweiselementen, dass die Wahl durch Unregelmäßigkeiten beeinflusst worden sei. Bei der Rathauswahl im März 2014 lagen Joris Hébrard und sein damaliger konservativer Gegenkandidat von der UMP nur um insgesamt 17 Stimmen auseinander. Angesichts unleserlicher Unterschriften von Beisitzern in Wahlbüros, die möglicherweise nachträglich eingefügt wurden – während es die Aufgabe der Beisitzer/innen ist, für einen regulären Ablauf der Stimmabgabe zu garantieren – ist die Unverfälschtheit des Endergebnisses letztendlich nicht garantiert. Die Einwohner zumindest eines der rechtsextremen Rathäuser müssen also demnächst an den Wahlurnen über seine Amtsführung befinden, und könnten ihm bei Unzufriedenheit die Quittung geben. Normalerweise müsste der FN ein solches Szenario fürchten. Allerdings wohl nicht, wenn die lokale Wahl in Le Pontet von einem möglichen Triumph des FN bei den französischen Bezirksparlamentswahlen überschattet wird.

Zwar droht auch noch einem zweiten Bürgermeister in einem FN-geführten Rathaus die gerichtliche Amtsenthebung, nämlich dem 35jährigen Fabien Engelmann (Lothringen) wegen des Vorwurfs illegaler Finanzierung seiner Wahlkampfkosten. Allerdings müsste er in seinem Falle nur die Amtsgeschäfte an ein anderes Mitglied der vom FN gestellten Mehrheit im Kommunalparlament übergeben; Letzteres würde anders als in Le Pontet nicht aufgelöst, also kein Mehrheitswechsel stattfinden.

Nicht überall stehen die rechtsextremen Amtsinhaber vor einem solchen Scherbenhaufen, auch wenn mancherorts die Proteste zusammen, vor allem in Beaucaire, wo der FN-Bürgermeister jüngst harte Einschnitte bei Schulkantinen und Sozialzentren vorgenommen hat. Aber mindestens einer von ihnen kann auch triumphieren. Steeve Briois, Bürgermeister von Hénin-Beaumont in Nordostfrankreich – und bis zum letzten FN-Parteitag in Lyon von Ende November 2014 auch Generalsekretär der Partei – verstand es, darauf zu achten, nicht allzu viel Wellen zu schlagen und unpopuläre Entscheidungen möglichst zu vermeiden. Am 27. Januar verlieh eine Journalistenjury, angeführt durch die prominente TV-Journalistin Arlette Chabot, ihm einen Preis, den für den „Lokalpolitiker des Jahres 2014“. Dieser Preis wurde ihm an jenem Dienstag in der Residenz des Präsidenten der französischen Nationalversammlung übergeben, zeitgleich zur Preisüberreichung an andere preisgekrönte PolitikerInnen (unter ihnen Umweltministerin Ségolène Royal). Parlamentspräsident Claude Bartolone selbst, der Inhaber der Räumlichkeiten, zog es vor, dem Ereignis fern zu bleiben – der Sozialdemokrat berief sich dabei ausdrücklich darauf, am Morgen desselben Tages habe er eine Ansprache zum Auschwitz-Gedenktag halten müssen, und beides passe nicht zusammen. Bei demselben Anlass wurde, wie man im Nachhinein erfuhr, der Fernsehjournalist Gilles Leclerc persönlich durch die FN-Abgeordnete Marion Maréchal-Le Pen bedroht. Und zwar mit den Worten: „Wir kriegen Sie! Aber wenn Ihnen das dann passiert, dann wird ihnen das sehr weh tun.“

Zu diesen Bezirksparlamenten tritt der FN in über 92 Prozent der Kantone (Wahlkreise in den Bezirken) an. Dies bedeutet rund 7.650 Kandidaturen von Einzelpersonen, im Vergleich zu 2.720 Bewerbern en des FN zu den Bezirksparlamentswahlen im März 2011. Ein erheblicher Aufwand für eine Partei, die zwar formal vorgibt, über rund 80.000 Mitglieder zu verfügen, in Wirklichkeit jedoch nur über die Hälfte davon (wie anlässlich des letzten FN-Parteitags im November 2014 in Lyon die Auswertung der Mitgliedervoten im Vorfeld belegt). Deswegen tauchen auch dieses Mal - wie bei den Rathauswahlen im März 14 - vereinzelt Bewerber auf, die unfreiwillig, also ohne ihr Zutun oder ohne klares Bewusstsein darüber zu haben, auf Kandidatenlisten des FN stehen. Beispielsweise eine sehbehinderte, über siebzigjährige Frau in der Auvergne, die inzwischen Strafanzeige erstattet hat.

Dies ist beileibe nicht das Schlimmste. Am schlimmsten sind die Aussprüche von einigen Kandidaten, die – weil es sich nicht um geschulte langjährige Angehörige des Führungspersonals handelt – oft haarsträubend ausfallen. Einige Presseorgane haben sie nun z.T. genüsslich auszuschlachten begonnen, und dies ist auch gut so, weil es Öffentlichkeit für das schafft, was noch immer die politische Tiefennatur des FN ausmacht: die einer Partei, die Paranoide, Verschwörungstheoretiker, Rassisten und Hitlerfans anzieht wie das Licht die Motten. Ein paar Kostproben gefällig? Eine Kandidatin in den Westpyrenäen schlägt vor, „die Araber auf ein Schiff zu setzen und (dieses) zu versenken“; ihr droht der Parteiausschluss. Ein Kandidat im südwestfranzösischen Bezirk Aveyron schreibt das Internet mit Zeugs voll wie diesem, gespickt mit Rechtschreibfehlern: „Die Juden verdienen, getötet zu werden, wie sie Jesus getötet haben.“ Sein Kreisverband schloss ihn aus der Partei aus. Ein Kandidat in Narbonne – bislang nicht ausgeschlossen - spricht sich, angeblich „im Scherz“, für „Treibjagen auf Wildschweine, Wölfe, Luchse und auf Araber“ aus. Ein stellvertretender Kandidat im Bezirk Ardèche erklärt seiner Parteichefin gar im Internet: „Marine, Du bist die Reinkarnation von Adolf Hitler!“

Es steht zu befürchten, dass es nicht der letzte Kandidat beim Front National sein wird, der sich im privaten oder auch in anderem Rahmen wüsten Fantasien hingibt. Am Donnerstag Abend, den 12. März 15 gab die Parteiführung bekannt, dass sie die Mitgliedsrechte von zehn besonders umstrittenen Kandidaten „suspendierte“, also auf Eis legte.

Editorische Hinweise

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