Unter Vorbehalt formuliert
Einige Gedanken zur Entwicklung in Venezuela

von Robert Schlosser
04/07

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Der Marktfundamentalismus neoliberaler Religion hat einen beeindruckenden Siegeszug hinter sich und dominiert von der subjektiven Seite her das Weltgeschehen. Die dem entgegenstehenden mehr oder weniger ohnmächtigen linken Positionen erschöpfen sich entweder in Wiederbelebungsversuch eines Keynesianismus, dessen Erfolg selbst an eine bestimmte gesellschaftliche Situation gebunden war, oder sie pflegen einen sektierisch-utopischen Antikapitalismus. Interessanter Weise verbindet beide eine ähnliche Kritik an „Staatsozialismus“ und „Planwirtschaft“.

Es ist heute sozusagen linker common sense, dass Verstaatlichung von Produktionsmitteln und Planwirtschaft ganz und gar unbrauchbar und praktisch gescheitert seien. Man müsse nach neuen Wegen suchen, was dann die absurdesten Formen annimmt oder aber einfach auf nicht weniger gescheiterte Versuche von Alternativökonomie zurückgreift.

Begründet wird das alles so oder so mit „moderner Ökonomiekritik“, die sich entweder einen Dreck um Marx kümmert, oder diesen „zeitgemäß“ interpretiert, in dem der innere Zusammenhang der Kritik der Politischen Ökonomie aufgelöst wird. Teils wird einseitig der unmittelbare Produktionsprozess, teils einseitig die Zirkulation als Hauptfeld der Kritik der politischen Ökonomie behauptet, um so zu ganz absonderlichen programmatischen Vorstellungen zu gelangen, die fernab jedes Realitätsbezuges liegen. Die pauschale Kritik an Verstaatlichung von Produktionsmitteln und Planwirtschaft ähnelt inzwischen in ihrer unhinterfragten Selbstverständlichkeit der bürgerlichen Kritik am Realsozialismus.

Dass der reale Sozialismus aber die Bewegung sozialer Emanzipation erstickt hat und in eine Sackgasse führte, hat nichts mit Verstaatlichung und Planwirtschaft zu tun, sondern mit der Tatsache, dass beides jeweils gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung in den Ländern durch eine absolut und diktatorisch herrschende Partei ins Werk gesetzt wurde. Von freier Assoziation der ProduzentInnen konnte zu keinem Zeitpunkt gesprochen werden. Daher hat diese Art von Verstaatlichung und Planwirtschaft auch nichts zu tun mit einer Gesellschaft, in der die Mehrheit der Bevölkerung die gesellschaftliche Reproduktion mit Willen und Bewusstsein ins Werk setzt. Der herrschende Wille war der der Partei, die selbst wieder komplett undemokratisch organisiert war, in der meistens die kleine Minderheit von Zentralkomitee und Politbüro alle Macht in ihren Händen konzentrierte. Letztendlich ist die Planwirtschaft gescheitert, sie hat allerdings über viele Jahre mehr schlecht als recht auch funktioniert. Das sollte man nicht vergessen. Sie hat auch in ihren erbärmlichen und bedrückenden Formen bewiesen, dass die Reproduktion großer Gesellschaften jenseits des kapitalistischen Privateigentums durchaus geht.

Scheitern musste dieser „Sozialismus“ aus verschiedenen Gründen, wovon der erste die Rückständigkeit der meisten Länder war, in denen er installiert wurde. Wo die Industrialisierung zur wichtigsten Aufgabe avanciert ist kein Platz für Kommunismus im Sinne einer sozialen Emanzipation von der Herrschaft des Kapitals.

Aus meiner Sicht ist schon der häufig benutzte Begriff „Staatssozialismus“ irreführend und falsch. Zutreffender wäre es, von einem „Parteisozialismus“ zu sprechen. (Der „Etatismus“ war nur eine ideologisch verbrämte Form des kultivierten Parteienmythos). Soweit es staatlich-politische Machtorgane gab (Rätekongress, Volkskammer etc.) waren diese nur Fassade, keine gegenüber der Partei selbständigen Organe. Staatsmacht und Parteimacht waren vollständig miteinander verschmolzen, in einer Form, die es der Partei ermöglichte, alles zu beherrschen. Sie bestimmte, wer in den staatlichen Organen saß und was er zu tun hatte. Sie kommandierte alle Unterdrückungsinstrumente. Die staatlichen Organe waren zu Organen einer Partei geworden und damit wurde der Kollektivismus zu einem Zwangskollektivismus, der nichts zu tun hatte mit freier Assoziation. Das Verständnis der Parteitheorie und der Parteientwicklung ist ein wesentlicher Schlüssel zum Verständnis von Erfolg und Niedergang des Realsozialismus.

Mit der pauschalen Ablehnung von Verstaatlichung und Planwirtschaft hat die Linke zugleich die Eckpunkte überlieferter kommunistischer Programmatik mehr oder weniger bewusst über Bord geworfen. Es existiert damit keine konkrete Vorstellung mehr davon, was die Grundvoraussetzungen einer kommunistische Gesellschaft (Abschaffung des Privateigentums, Übergang zur Planwirtschaft und damit verbunden Zurückdrängung und schließlich Abschaffung der Warenproduktion) sind und wie man sie erkämpfen kann. Es ist also durchaus richtig, wenn festgestellt wird, dass die Linke den Menschen heute keine Perspektive zu bieten hat, aber das liegt daran, dass diese Linke eine solche Perspektive selbst verworfen hat, nicht daran, dass es da nichts Eindeutiges und Vertretbares gäbe. Diese eindeutigen und vertretbaren konkreten Vorstellungen und Schritte bleiben auch dann richtig, wenn die Mehrheit der Menschen davon heute nicht überzeugt ist und nicht leicht überzeugt werden kann. Der Bankrott beginnt da, wo man anfängt, die sich aus der Ökonomiekritik schlüssig ergebenden notwendigen revolutionären Umgestaltungsmaßnahmen preisgibt, weil man meint mit „moderneren“ (unsinnigen) Vorstellungen die Massen gewinnen zu können. Dann hat man nichts mehr, mit dem man gegen das reaktionäre Programm der Privatisierung des Sozialen angehen könnte.

Was hat dies alles mit Venezuela zu tun?

Nun, die gesellschaftliche Bewegung, die dort stattfindet, die Projekte die dort angegangen werden stehen vollständig quer zum Neoliberalismus, seinem Privatisierungswahn und Marktfundamentalismus und zum linken Mainstream. Hier ist ein Prozess angestoßen, der ganz offensichtlich Bezug nimmt auf klassische kommunistische Programmatik / Kommunistisches Manifest / Pariser Kommune (Verstaatlichung der Schlüsselindustrien, Bildung von Räten, deren Kontrollfunktion ausgebaut werden soll, Umgestaltung/Rekonstruktion des Staates in Richtung eines „kommunalen Staates“, Schaffung von Selbstverwaltungsorganen von unten her auf den unterschiedlichsten Ebenen, Einführung eines - nicht auf Verwertung zielendes - sozialen Bildungs- und Gesundheitswesens) ohne dass dieser Prozess von einer allmächtigen Partei diktiert würde, die durch Bürgerkrieg und Aufstand einer entschlossenen Minderheit an die Macht gekommen wäre.

Bisher wird die politische Macht getragen von einem breiten Bündnis. Was daraus werden wird, wenn, wie beabsichtigt, eine vereinheitlichte, große sozialistische Partei gebildet wird, weiß ich nicht. Für den Fortgang, dieses Versuchs, das Kapitalverhältnis zu überwinden, wird es von entscheidender Bedeutung sein, was in diesem Parteibildungsprozess passiert und zu welchen Resultaten er führt. (Verheerende Entwicklungen, wie die des „Realsozialismus“ sind dabei natürlich nicht ausgeschlossen!)

Spannend bleibt natürlich auch die Frage, wie lange die USA - nach dem ersten gescheiterten Putsch - dem Treiben in Venezuela, wie überhaupt den Entwicklungen in Südamerika (Bolivien etc.), zusehen werden. Solange die Supermacht sich im „Kampf gegen den Terrorismus“ festbeißt, sind die Aussichten nicht so schlecht, dass es weitergehen kann. Da muss man dem islamischen Fundamentalismus schon fast wieder dankbar sein, weil er die Kräfte der Supermacht bindet. Das Kapital mag sich ruhig weiter von diesen Wirrköpfen in seiner Existenz bedroht fühlen.  

Aus meiner Sicht befinden wir uns jedenfalls in einer ganz besonderen Situation, die die Bedeutung dessen, was da in Venezuela und Lateinamerika vor sich geht unterstreicht. Es könnte von da ein großer Impuls ausgehen, der die Situation der antikapitalistischen Linken weltweit verändert. Dies alles (über Venezuela) natürlich unter Vorbehalt formuliert, auch weil ich bisher einfach noch zu wenig weiß.

Ohne klare sozialistisch/kommunistische Positionen hat die radikale Linke in den entwickelten Ländern jedenfalls auch in Auseinandersetzung um Teilziele kaum Chancen unter den gegenwärtigen objektiven Bedingungen. Wie sich immer wieder zeigt, ist sie nicht einmal in der Lage die Teilziele folgerichtig zu formulieren und in eine Perspektive einzubinden. (Siehe etwa „bedingungsloses Grundeinkommen“, die Vorstellung von einer anderen Gesellschaft erschöpft sich in Allgemeinplätzen, Sozialismus und Kommunismus seien vor die Wand gelaufen. Stattdessen Beschränkung auf die Forderung nach einem ausreichenden, lohnarbeitsunbhängigen individuellen Geldeinkommen, in der angeblich die Forderung nach einer anderen Gesellschaft aufscheinen soll. Tatsächlich liegt das ganz auf der Linie der Privatisierung des Sozialen, weshalb sich auch liberale Marktfundies für eine solche Forderung begeistern können. Der Unterschied liegt konkret – wenn man also von den allgemeinen Begleitsprüchen absieht - nur noch in der Höhe des auszuzahlenden Geldbetrages. Eine wirklich famose soziale Utopie, in der alle wesentlich gesellschaftlichen Organe unangetastet der Privatproduktion überlassen bleiben!)

Alle wesentlichen Gesellschaftsveränderungen bei uns geschehen unter dem Vorzeichen eines wachsenden Verwertungsdruckes in Folge steigender organischer Zusammensetzung des Kapitals (Fall der Profitrate) und sind eingebettet in die Strategie des Marktfundamentalismus, zielen ab auf Privatisierung des Sozialen und damit auf radikale Durchsetzung des Wertverhältnisses bis in die letzen Poren der Gesellschaft, weltweit. Dagegen hat nur derjenige etwas zu setzen, der eine Vergesellschaftungsperspektive erkennt und konkret ausformuliert. (Bildung, Gesundheit, Altersversorgung etc.) Hartz IV ist auch nur ein Teilaspekt dieser Entwicklung und alle Forderungen dagegen müssen eingebunden sein in eine solche Vergesellschaftungsperspektive in der es keine chinesische Mauer zwischen sozialer Reform und sozialer Revolution gibt. (Siehe dazu auch mein Papier „Kommunismus – was sonst?“ ) Ohne eine solche Perspektive, um die sich die Menschen sammeln und organisieren können, gibt es nichts oder kaum was zu gewinnen! Nicht einmal in Kämpfen um Teilzeile!  Davon bin und bleibe ich überzeugt. Überspitzt ausgedrückt: Sozialistische und kommunistische Positionen werden nicht aus einem „konsequenten Kampf“ um Teilzeile entstehen und gestärkt werden, sondern umgekehrt wird es nur in dem Maße zu konsequenteren Kämpfen um Teilziele kommen, wie sozialistische und kommunistische Kräfte in diesen Kämpfen wirken. Wechselwirkungen dann, aber nur dann, nicht ausgeschlossen. 

Eine solche Vergesellschaftungsperspektive erschließt sich im übrigen nicht aus dem betrieblichen Alltag und den Auseinandersetzungen, die sich daran entzünden. Sie kann sich nur erschließen aus der Summe der gesellschaftlichen Erfahrungen wie den Auseinandersetzungen, die sich hieran entzünden. Je mehr also das Kapital an der Umsetzung seiner Privatisierungs- und Vermarktungsstrategien in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens arbeitet, um neue Anlagemärkte und Verwertungsgelegenheiten zu schaffen, desto desaströser werden die sozialen Konsequenzen sein, desto schwieriger wird sich für VerkäuferInnen von Ware Arbeitskraft ihre Reproduktion in den Grenzen des Kapitals gestalten. Neben der zunehmenden Unsicherheit von Lohnarbeitsplätzen, dem wachsenden Gegensatz zwischen arm und reich, bietet uns die Umgestaltung aller gesellschaftlichen Einrichtungen (Bildung, Gesundheit, Altersvorsorge, Versorgung bei Arbeitslosigkeit etc.) in Richtung einer privatwirtschaftlichen Versorgungsökonomie, ihre rücksichtlose Überantwortung der Kapitalverwertung, die Herausforderung und Chance für die Wiederaneignung und Entwicklung einer konkreten/praktischen kommunistischen Vergesellschaftungsperspektive.

Die Kritik der Politischen Ökonomie erlaubt uns den Einblick in die Zusammenhänge und Folgen der gesellschaftlichen Reproduktion in den Grenzen des Kapitals. Nur daraus lassen sich schlüssig Maßnahmen ableiten, die dem Kapital selbst systematisch Grenzen setzen und darauf abzielen, es abzuschaffen.

Egal, was aus dem Chavez-Regime wird, es hat in einer Zeit grassierender sozialer Verwüstung durch das internationale Kapital eine Reihe von Maßnahmen eingeleitet, die wirksam Armut bekämpfen, Bildungs- und Gesundheitssituation der veramten Bevölkerung verbessern und deren Einflussmöglichkeiten auf die gesellschaftliche Entwicklung durch Organe von Selbstverwaltung entwickeln. Das Regime tut das, gestützt auf eine in Wahlen gewonnene Mehrheit und nicht auf Basis partei-staatlichen Terrors, also bloß gestützt auf die militärische und polizeiliche Gewalt im Staate, die ihm auf Grund eines Bürgerkrieges zugefallen wäre.

Die freche Parole von der Entwicklung eines „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ empfinde ich als ausgezeichnete offensive Leitparole wieder den grassierenden Marktwahn, wider die diffuse Sprachlosigkeit der „radikalen Linken“, wenn es um Perspektiven geht. Für Kommentatoren der FAZ ist diese Entwicklung übrigens sehr beunruhigend! Man macht sich große Sorgen um die Kapitalanlagen und warnt die Anleger!

Aus meiner Sicht ist das wirklich etwas Neues, was allerdings nur der erkennen kann, der im gescheiterten Realsozialismus nicht das grundsätzliche Scheitern von Verstaatlichung der Produktionsmittel und Planwirtschaft sieht, wie es uns bürgerliche und manch linke Theoretiker weismachen wollen. Und ich finde es prima, dass sich das Chavez-Regime einen Dreck um die Kritik am „Etatismus der Sozialisten“ kümmert, solange es fortfährt auf dem begonnenen Weg der kommunalen Reorganisation des Staates, der Entwicklung von Selbstverwaltungsorganen und deren Vernetzung. Das venezuelanische Öl möge dabei weiterhin nützlich sein!

Einige dieser Maßnahmen des Chavez-Regimes sind ganz und gar unverzichtbar, wenn man eine soziale Revolution einleiten will. Dazu gehören die Verstaatlichung der Schlüsselindustrien, die Nutzung von Teilen des Profits für soziale Programme und die Schaffung von Selbstverwaltungsorganen der Bevölkerung, die auf Beseitigung der staatlichen Bürokratie zielen. Diese Maßnahmen und ihre Wirksamkeit sind aus meiner Sicht von internationaler Bedeutung.

 „Auf der Suche nach dem verloren gegangenen sozialistischen Ziel“, so lautete glaube ich der Untertitel des ersten Manifestes der Krisis-Gruppe. (So schön dieser Titel war, so wenig hat diese Vereinigung mit der Suche zu tun.) Venezuela ist mit Sicherheit nicht das wieder gefundene sozialistische Ziel, aber vielleicht entwickelt sich hier eine gesellschaftliche Praxis, die es uns erleichtert, das Ziel wieder zu gewinnen. Darum finde ich es wichtig, näher hinzuschauen und die Entwicklung zu verfolgen. Abwinken kann man ja immer noch. 

Nachbemerkung

Wer nun meint, dies sei ein Loblied auf ein neues „Leuchtfeuer des Sozialismus“, der sollte den kurzen Text am besten noch einmal lesen. Sollte sich bei genauerem Hinsehen erweisen, dass meine bisherigen knappen Informationen über Venezuela falsch sind und ich hier einem Irrtum aufgesessen bin, dann werde ich keine Schwierigkeiten haben, meinen Fehler einzusehen. Was die hier bloß verkürzt wieder gegebenen Grundauffassungen anbetrifft, so halte ich daran fest, unabhängig davon, was in Venezuela los ist, und werde mich noch bemühen das im Laufe dieses Jahres etwas gründlicher auszuarbeiten. 

Editorische Anmerkungen

Den Artikel erhielten wir vom Verfasser Anfang April. Erstellt wurde im März 2007.

Zu Venezuela gibt es in dieser Ausgabe noch:

Resolution zur Lage in Venezuela
X. Konferenz Marxistisch-Leninistische Parteien und Organisationen Kommunistische Partei der Proletarischen Aktion u.a.

Venezuela
Resolution der Vierten Internationale
Internationalen Komitees