Friesengeschichten (Teil 3)
Der Widerstand der Bauern - Individualrechte versus Allgemeinwohl


von Helmut Höge  
04/05

trend onlinezeitung
 
Helmut Höges Friesengeschichten
Krieg und Friesen (Teil 1)
Die bekannteste Friesin aller Zeiten und das berühmteste friesische Dorf  (Teil 2)

 Als dann aber der im nahen Finkenwerder ansässige Airbus-Konzern auch noch ankündigte, wegen eines neuen Modells, den A 380, seine Start- und Landebahn verlängern zu müssen - quer durch das Obstanbaugebiet "Rosengarten" bis kurz vor die barocke St.Pankratiuskirche von Neuenfelde, und dazu auch noch den Landesschutzdeich verlegen will, da war das Maß voll: 230 Obstbauern und Sympathianten organisierten sich in einer Klägergemeinschaft - gegen die drohende Enteignung der Ländereien. Die von friesischen Frühsiedlern abstammenden Obstbauern waren erst einmal Deichbauer, bevor sie Gärtner wurden.  

Sie bildeten nun ein "Netzwerk" von Arbeitsgruppen, die sich mit einzelnen Aspekten des Planfeststellungsbeschlusses und den Argumenten des Hamburger Senats sowie des Airbus-Konzerns auseinandersetzten, u.a. ging es dabei um eine "Lex Airbus", mit der die Hansestadt den Flächenbedarf des EU-Flugzeukonzerns im "öffentlichen Interesse" enteignen wollte. Sonst seien nicht nur "Arbeitsplätze" in Größenordnungen gefährdet, das Prestige der ganzen Nation stehe dort quasi auf dem Spiel. Hinterfüttert wurde dies mit dem Argument einer "Wachsenden Stadt" und ihrem notwendigen "Sprung über die Elbe". Der CDU-Bürgermeister Ole von Beust erklärte dazu, dies bedeute "mehr Qualität", die wiederum in "mehr Quantität" umschlage, d.h. in noch "mehr Hamburger". Das Oberverwaltungsgericht verbot ihm dann jedoch solch dialektischen Unsinn: Die Obstbauern atmeten auf! Ihre Ländereien durften nicht enteignet werden. Die Freude über das Urteil währte aber nur kurz, denn nun wurde die hansestädtische Presse aktiv, die einen Obstbauern nach dem anderen als reichen, egoistischen Forschrittsfeind vorführte. Gleichzeitig bot die Stadt diesen immer mehr Geld pro Quadratmeter. Wer es ablehnte, wurde sofort an die Presse weiter geleitet. Bei der Neuenfelder Kirchengemeinde, der ebenfalls ein Grundstück im "Rosengarten" gehört, versuchte man es mit kirchlichem Druck von oben. Und der Airbus-Konzern ging sogar so weit, seine Belegschaft mit der Gewerkschaft zusammen zu einer "Protestdemonstration" auf einer Wiese am Obstbaugebiet zu formieren: Arbeitsplätze gegen Äpfel! Dergestalt von allen Seiten angegriffen verkauften einige Obstbauern dann doch ihr Land.  

Am Nordrand des "Rosengartens" wurden inzwischen bereits die ersten Häuser platt gemacht. Es waren dabei regelrechte "Knebelverträge" zustandegekommen, in denen bei einem Flächenverkäufer z.B. gleich noch das Grundstück seiner Tochter mit einbezogen wurde. Diese blieb dann auch trotz "Verkauf" der Klägergemeinschaft als Aktivistin erhalten. Eine andere, die Bioobstbäuerin Gabi Quast, bekam zusammen mit elf anderen Leuten ein kleines "Sperrgrundstück" geschenkt, das das Oberverwaltungsgericht jedoch erst einmal noch nicht als ein solches anerkennen wollte. Jetzt steht dort eine Meßstation, die den Lärm und die Verunreinigung der Luft durch Flugbenzin messen soll und deswegen schon mal Daten sammelt - bevor es wohlmöglich doch noch mit dem Bau der Landebahnerweiterung losgeht. Zuletzt, Ende 2004, verkaufte ausgerechnet der Obstbauer Cord Quast sein großes Stück Land im Rosengarten. Die Bild-Zeitung jubelte: Aus Freude trage nun jeder Hamburger ein Cord-Quast-Hütchen, was sie sogleich mit Hilfe von vier Models photographisch bewies. Quast war zuvor einer der engagiertesten Neuenfelder Obstbauern gewesen, der in öffentlichen Versammlungen oft das Wort ergriffen und die hansestädtischen Journalisten eigenhändig von seinem Hof vertrieben hatte. Seine plötzliche Wandlung vom Kläger zum Verhandler erklären sich die Sprecherin der Klägergemeinschaft, ihre Anwälte, der ehemalige Neuenfelder Pastor und der Leiter des Obstbau-Versuchs und -Beratungszentrum in Jork mit dem großen Druck, dem er ausgesetzt war, nicht zuletzt auch in seiner Familie, wobei gleichzeitig betont wird, dass er auch nach Verkauf seiner Flächen im Rosengarten immer noch einen existenzfähigen Hof besitze, zudem seien seine zwei Töchter mit Obstbauern verheiratet, deren Land nicht von Airbus beansprucht wird und als Vorsitzender des Sommerdeichverbandes Rosengarten spiele er auch weiterhin eine wesentliche Rolle im Geschehen. Etwa Zwanzig Hektar reichen derzeit für eine auskömmliche Hofstelle im Alten Land, die hanseatische Landwirtschaftskammer geht aber bereits von zukünftig 40 Hektar aus. Da es keine Expansion, sondern nur noch eine Schrumpfung der Obstanbauflächen dort geben kann, bedeutet dies eine weitere Konzentration auf immer weniger Obstbauern im Alten Land.  

Die hier vom Oberverwaltungsgericht zurückgewiesene "Lex Airbus", mit der ein Konzern Ländereien enteignen lassen wollte, ist kein Einzelfall: Anderswo ziehen allerdings meist die Individualrechte vor den Gerichten den kürzeren - gegenüber einem vermeintlichen Allgemeinwohl, das immer öfter mit "Arbeitsplätzen" begründet wird. Zwar sind beide Rechte grundgesetzlich geschützt, es hat dabei jedoch eine Umgewichtung stattgefunden, seit Gründung der Bundesrepublik - wenn man z.B. von den ersten SPD- und CDU-Parteiprogrammen nach dem Krieg ausgeht, in denen angesichts der "Mitschuld" der deutschen Großindustrie und der weitreichenden sowjetischen Enteignungen ostdeutscher Betriebe und der dort sofort durchgeführten Bodenreform ebenfalls die "Verstaatlichung der Schlüsselindustrien" mindestens der "Banken" im Westen gefordert wurde. Zuletzt, ab 1968, wurde nur noch die Forderung "Enteignet Springer" laut. Und so wie es hierzu zwei Konzeptionen gab: Die "Moskowiter" wollten den Medienkonzern verstaatlichen, die eher undogmatische Linke ihn zerschlagen zugunsten vieler kleiner Zeitungen - so unterscheidet der Soziologe Claus Offe zwei Versionen von Gemeinwohl: Die eine dient zur Verteidigung der Rechte der kleinen Leute; mit der anderen argumentieren die Machteliten. In diesem Zusammenhang wird gerne an die Teststrecke im Raum Boxberg erinnert, die Daimler Benz dort bauen wollte und wogegen sich ab 1979 ein wachsender Widerstand entwickelte. Hier wollte die baden-württembergische Landesregierung mit einem "Flurbereinigungsverfahren" Ackerland für den Autokonzern enteignen. Zehn Jahre dauerte diese politisch-juristische Auseinandersetzung, die mit dem "Boxberg-Urteil" des Bundesverfassungsgerichts für die Bauern siegreich endete.  

Von ähnlicher Bedeutung war zuvor die erfolgreiche Besetzung des Bauplatzes für ein Atomkraftwerk in Whyl, deren 30. Jahrestag man dort gerade feiert. Der Bürgermeister der Gemeinde Weisweiler Oliver Grumber erklärte dazu: "Wie vor 30 Jahren sind Weisweiler Bürgerinnen und Bürger auch heute noch dabei," d.h. sie engagieren sich seitdem für die Nutzung regenerativer Energiequellen. Mit ihrem Widerstand hob die Anti-AKW-Bewegung an, die sich 1985 im Kampf gegen den Bau einer Wiederaufbereitungsanlage (WAA) im bayrischen Wackersdorf fortsetzte, wobei die Kernkraftgegner von weither anreisten. Erst kürzlich erklärte der damalige SPD-Landrat des betroffenen Landkreises Schwandorf Hans Schuierer: "Für unsere Region war das eine furchtbare Zeit. Wenn man sich vorstellt, wie viele Strafverfahren gegen friedliche Demonstranten liefen. Doch der fünfzehnjährige Kampf hat sich gelohnt. Wir haben an dem Standort, wo die WAA errichtet werden sollte, inzwischen ein Industriegebiet und somit einen guten Tausch gemacht. Anfangs versprach die Betreibergesellschaft DWK 3200 Arbeitsplätze in der WAA, später 1600, dann 1200. Im Industriegebiet haben wir heute ca. 4000 Arbeitsplätze. Und dann muß ich ganz ehrlich sagen: Wir haben diese Autonomen gebraucht. Denn die Regierung hätte uns noch zehn Jahre um den Zaun tanzen lassen".  

Vielleicht werden auch die Bauern in und um das wendländische Gorleben einmal so über ihre mehr oder weniger militanten Sympathisanten reden, mit deren Unterstützung es ihnen bis heute gelungen ist, immer wieder gegen die Einlagerung von Atommüll in einen unterirdisches Salzstock, "Nukleares Entsorgungszentrum" (NEZ) genannt, zu protestieren, indem sie jedesmal die so genannten Castor-Transporte massiv behinderten. Hierbei greift auf der anderen Seite auch noch das Bergrecht, das im Falle eines nationalen Energieversorgungs-Interesses Enteignungen und Zwangsumsiedlungen erleichtert. In Gorleben ist Graf von Bernstorff ein Großgrundbesitzer und damit dort laut Spiegel "die Schlüsselfigur". Ihn hat man zwar aus der CDU ausgeschlossen und vor allem einzuschüchtern sowie auch zu korrumpieren versucht, wie er das Winken mit viel Geld nennt, aber bisher habe es noch keine "konkreten Hinweise auf Enteignung" seiner Ländereien gegeben, er würde aber so oder so fortfahren, Widerstand zu leisten.  

Das ist im nordrhein-westfälischen Braunkohletagebau Garzweiler II ganz anders: Hier werden gerade mit Hilfe des Bergrechts und nach erfolgreichen Verhandlungen 18 Dörfer und Weiler sowie ein Drittel der Stadt Erkelenz zerstört - und etwa 8000 Menschen umgesiedelt. Mit ihrem Widerstand erreichten sie nur einigermaßen respektable Abfindungen, aber die Argumente ihres Gegners, in diesem Fall der RWE-Konzern, tragen auch nicht mehr weit, denn im Zuge der Deregulierung des Energiemarktes und der Umweltschutzbedenken der EU gegenüber der Braunkohlenverstromung ist die Abbaggerung von Dörfern immer weniger mit einem nationalen Versorgungsinteresse zu begründen - und stößt deswegen auf immer stärkere Kritik.  

Dafür scheinen die Gerichte jedoch dem Arbeitsplatz-Argument zunehmend mehr Gewicht bei zu messen - besonders im fast deindustrialisierten und von hoher Arbeitslosigkeit betroffenen Osten, wo den Braunkohlebaggern des schwedischen Konzerns Vattenfall demnächst die brandenburgischen bzw. sächsischen Orte Heidemühl, Schleife, Trebendorf und Heuersdorf ganz oder teilweise zum Opfer fallen, außerdem das Naturschutzgebiet Lakomaer Teiche. Bis auf ein Haus zerstört wurde bereits das denkmalgeschützte sorbische Dorf Horno, dessen Bewohner schon zu DDR-Zeiten angefangen hatten, sich gegen ihre Enteignung und Umsiedlung zu wehren. 1997 machte dem jedoch ein von der SPD-Landesregierung verabschiedetes "Hornogesetz" ein Ende, das dann vom Landesverfassungsgericht als verfassungskonform anerkannt wurde - trotz des zuvor für die sorbische Minderheit in der Landesverfassung festgeschriebenen Schutzes ihres "angestammten Siedlungsgebietes". Nun lebt dort nur noch das alte hugenottische Gärtnerehepaar Domain und ihr Mieter, der englische Schriftsteller Michael Gromm - inmitten einer sorbischen Ruinenlandschaft, aber sie kämpfen immer noch. Der Obstgärtner Domain mußte sich vom Vattenfall-Anwalt vor dem Bergamt bereits sagen lassen: "Lassen Sie Ihre Scherze, sonst ziehen wir andere Saiten auf!" Domain blieb jedoch auch beim letzten Vattenfall-Angebot - 450.000 Euro - standhaft: "Ich gehe notfalls bis vors Bundesverfassungsgericht!" Inzwischen klemmte der Energiekonzern ihm sein Telefon ab. Sein Mitstreiter Gromm stellte indes Strafanzeige wegen Betrugs gegen Vattenfall, weil die Arbeitsplatzzahlen des Konzerns nie stimmten - und das Bergamt sie stets ungeprüft übernahm. Bis auf einen einzigen Widerständler wurde ebenso bereits das Dorf Diepensee am Rand von Berlin geräumt. Dort soll demnächst der neue Großflughafen Schönefeld gebaut werden. Solch vereinsamte "letzte Aufrechte" gibt es nebenbeibemerkt auch in "Altenwerder" und bei "Garzweiler II"  

Massenhaften und militanten Widerstand gab es Anfang der Achtzigerjahre gegen den Bau der Startbahn West des Frankfurter Flughafens, er reichte jedoch nicht aus. Jetzt formieren sich dort aber erneut die "Startbahngegner", denn noch einmal soll hier der Flughafen erweitert werden, wobei ihm diesmal die Siedlung Zeppelinheim zum Opfer fällt. Aber auch andere Gemeinden von Offenbach bis Bischofsheim sind betroffen. Einer ihrer Wortführer ist der CDU-Bürgermeister von Neu-Isenburg Oliver Quilling: "Die Südbahn wäre für uns der Super-GAU," meint er, "die Stadt würde mittig überflogen".  

Bereits ausgebaut wird derzeit trotz Proteste und Friedensdemonstrationen der US-Militärflughafen Spangdahlem bei Bitburg in der Eifel. Hier drohte man den Grundstücksbesitzern mit dem "Gesetz über die Landbeschaffung für Aufgaben der Verteidigung" von 1957. Nachdem einige Prozesse verloren gegangen waren, nahmen viele Landwirte die angebotenen Entschädigungen an. "Die Menschen sind eingeschüchtert und zermürbt," erklärte der Sprecher der Flughafengegner - der Nebenerwerbslandwirt Hans-Günther Schneider. Weil in den Gemeinden Binsfeld, Landscheid und Spangdahlem nun auch noch die Waldflächen gerodet werden sollen, protestierten kürzlich die Grünen des Kreises Bernkastel-Wittlich. Daneben ist der Bundes-Petitionsausschuss derzeit mit dem Fall beschäftigt.  

Ähnlich wie beim Hamburger Obstanbaugebiet Altes Land gestaltete sich die Situation im Stuttgarter Gemüseanbaugebiet Filder, das vom Bau einer neuen Messe bedroht wird. Die "Schutzgemeinschaft Filder" kämpft hier schon seit zehn Jahren. Einer der sechs klagenden Bauern, Walter Stäbler, gab inzwischen auf und verkaufte sein Land an die Messeplaner. Sein Übertritt von den Klägern zu den Verhandlern sei besonders bitter, meinte die Sprecherin der Schutzgemeinschaft Gabi Visitin, weil Stäbler einer ihrer engagiertesten Mitstreiter war. Die aus 40 Gemeinden und Organisationen bestehende Schutzgemeinschaft klagte durch zehn Instanzen - bis sie im Juli 2004 vor dem baden-württembergischen Verwaltungsgerichtshof verlor. Laut taz kommt dem Mannheimer Gerichtsentscheid eine bundesweite Bedeutung zu, "denn er stützt das 1998 vom baden-württembergischen Landtag verabschiedete 'Messegesetz', das Enteignungen und Sofortvollzug der Baumaßnahmen speziell für die Messe möglich macht. Bisher waren Zwangsenteignungen nur erlaubt, wenn das Allgemeinwohl dem privaten Interesse übergeordnet werden konnte, was für Bauvorhaben zur Landesverteidigung, zur notwendigen Verkehrswegeverbesserung und zur Versorgung mit Strom, Gas und Wasser galt." Und bei der Verkehrswegeplanung verlangten die Gerichte in der Vergangenheit nicht selten eine Änderung zugunsten einer oder mehrerer Grundeigentümer, die partout nicht weichen wollten und sich als Einzelkämpfer hartnäckig durch die Instanzen geklagt hatten.  

Angesichts des seit Mitte der Siebzigerjahre wachsenden Widerstands gegen umweltzerstörende Großbauprojekte griffen die höchsten Gerichte zunächst zu einer Reihe flankierender Maßnahmen - gegen die Protestierer und Blockierer. Eine davon war 1988 das Verbot von Sitzblockaden durch den Bundesgerichtshof. Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Martin Hirsch ließ es sich - wiederum aus Protest dagegen - nicht nehmen, wenig später schon an einer Sitzblockade gegen das "Giftgaslager Fischbach" bei Pirmasens teil zu nehmen - mit der Begründung: "Das Urteil ist verfassungswidrig. Im Gesetz steht ausdrücklich, dass eine solche Sitzblockade nur strafbar ist, wenn sie verwerflich ist, d.h. wenn man nur einen privaten Zweck verfolgt. Aber der Gesetzgeber, und dazu habe ich als Bundestagsabgeordneter damals selbst gehört, hat ausdrücklich hineingeschrieben, dass das Motiv, weswegen jemand blockiert, eine Rolle spielt. Und der BGH hat jetzt erstaunlicherweise entschieden, dass dieses Motiv überhaupt keine Rolle spielt bei der Verurteilung, sondern höchstens bei der Strafzumessung. Das ist ein glatter Kunstfehler." Ein inzwischen verstorbener Aktivist gegen das Giftgaslager hat den solidarischen Richter Hirsch da korrigiert: "Es ist wohl eher eine Frage des Kräfteverhältnisses, wenn man so will, des 'Zeitgeistes'."  

Das mußten jetzt auch die Bauern auf der nordfriesischen Halbinsel Eiderstedt erfahren, die sich geradezu in einem "Krieg" wähnen. Sie kämpfen dort jedoch nicht gegen vermeintlich arbeitsplatzschaffende Industrieansiedlungen oder Lande- bzw. Autobahnen, sondern im Gegenteil: gegen die sukzessive Ausweitung Eiderstedts zu einem Naturschutzgebiet bzw. einem Flora-Fauna-Habitat-Gebiet, das ihnen in ihrer landwirtschaftlichen Arbeit immer mehr Einschränkungen auferlegt. Sie haben sich dagegen in einer "Interessengemeinschaft 'Rettet Eiderstedt'" organisiert, der vor allem die in Schleswig-Holstein mitregierende Partei der Grünen ein Dorn im Auge ist. "Die Grünen aber wissen," schreibt die FAZ, "dass eine harte Haltung im Streit um Eiderstedt bei der grünen städtischen Klientel vor allem in Kiel mehr Stimmen bringt, als bei den wenigen Landwirten in Eiderstedt verlorengehen." Einer der Bauern in Eiderstedt sagte es so: "Diese hauptberuflichen Umweltschützer sind schlimmer als die Grafen einst!"  

Aber die Betroffenen werden auch immer professioneller: Im Alten Land z.B. läßt sich die Klägergemeinschaft von der renommierten Hamburger Anwaltskanzlei Mohr vertreten und die ausgescherten "Verhandler" von der nicht minder angesehenen Societät Günther. Beide sind zur Kooperation verpflichtet. Umgekehrt ließ sich die Interessengemeinschaft für den Erhalt der Lakomaer Teiche in Brandenburg erst von den Hamburger "Verhandler"-Anwälten beraten und nunmehr von der Kanzlei der Klägergemeinschaft. Diesbezüglich einen guten Ruf genießt daneben auch die Berliner Kanzlei De Witt, Müller-Wrede. Auf ihrer Internetseite heißt es: "Aufgrund vielfältiger und langjähriger Erfahrungen bieten wir Beratung in strategischen und taktischen Fragen" sowie auch über "die Wirkung in der Öffentlichkeit". Siegfried de Witt war u.a. lange Zeit Anwalt der Boxberger Bauern sowie dann auch der Gemeinde Horno, die zuletzt parallel zu ihrem Widerstand verhandelte. Die drei jetzt noch im zerstörten Dorf Ausharrenden lassen sich vor Gericht und Bergamt u.a. von dem in Frankfurt/Main ansässigen Anwaltsbüro Philipp-Gerlach & Teßmer vertreten. Diese weisen auf ihrer Homepage gleich auf eine ganze Reihe eigener Veröffentlichungen zu "Lärm- und Luftauswirkungen beim Flugverkehr", zum "Bundesverkehrswegeplan", zur "Landschaftserhaltung", zu "Verbandsklagen gegen Tagebau-Zulassungen", zu "Habitat und Vogelschutzrecht" und generell zum Thema "Natur und Recht" hin. Die schnell wachsende Zahl von Klienten für diese Kanzleien deutet darauf hin, dass angesichts der hohen Arbeitslosigkeit Politik, Presse und Justiz immer bereitwilliger werden, den Industriekonzernen bei ihren Expansionsplänen zuzuarbeiten, d.h. die ihnen dabei im Weg oder in der Einflugschneise wohnenden kleinen Leute beiseite zu räumen: "Im Mittelpunkt steht der Mensch, aber genau da steht er im Weg," so sagte es der ehemalige VW-Vorständler Daniel Goeudevert. Beizeiten bereits hatte sich dieser (globalen) Managersicht gegenüber der Ethnologe Claude Lévy-Strauss für ein Denken und Planen auf "authentischem Niveau" ausgesprochen: Weil diese Gesellschaft die Individuen auf auswechselbare Atome reduziere und sie zugunsten des Profits zentraler, anonymer Gewalten enteigne, dürfe man gerade jetzt nicht mehr das "Niveau des Authentischen" verlassen. Und dieses existiere nur in "konkreten Beziehungen zwischen einzelnen: Auf authentischem Niveau liegt z.B. das Leben in einer Gemeinde", wo keine abstrakten Entscheidungen, sondern solche von konkreten Individuen getroffen werden, "deren kollektives Leben auf einer authentischen Wahrnehmung der Wirklichkeit beruht: auf Wahrheit. Eine globale Gesellschaft beruht dagegen auf Menschenstaub".  

Obwohl dem kleinen Obstbauer Domain in Horno viel mehr geboten wurde pro Quadratmeter als dem reichen Obstbauern Cord Quast im Alten Land, weigerte sich das Gärtnerehepaar Domain, den Baggern zu weichen - mit der Begründung: "Wir wollen unseren Garten behalten, von dem leben wir doch. Auch mit noch so viel Geld können wir uns keinen neuen kaufen: die Obstbäume hat z.T. noch mein Großvater gepflanzt und neu gepflanzte brauchen zehn Jahre, bis sie wieder tragen. Das erleben wir doch gar nicht mehr - mein Frau und ich sind schon über sechzig," so die immer wieder vor dem Landesbergamt vorgetragene Argumentation von Werner Domain. Im Juni 2004 wurden die Domains desungeachtet enteignet. Sie erhoben dagegen Klage, was eine aufschiebende Wirkung hatte. Im Januar 2005 wurde diese jedoch dadurch ausgehebelt, dass das Bergamt einem Vattenfall-Antrag auf "einstweilige Besitzeinweisung" zustimmte. Sie sollte Ende 2005 greifen, wenn die Braunkohlebagger sich am Hornoer Berg bis nahe an das Domainsche Hofgrundstück herangearbeitet haben. Sein Mieter Michael Gromm erstattete daraufhin Anzeige wegen Betrugs gegen den schwedischen Energiekonzern: Das Unternehmen habe sich die ganze Zeit mit bewußt falschen Arbeitsplatzzahlen den Enteignungsbeschluß des Bergamts erschlichen, argumentierte er.  

Nun waren wieder die Vattenfallmanager dran: Am 11. März ließen sie heimlich 32 Obstbäume im hinteren Teil des Gartens von Domain über eine Länge von 100 Metern fällen. Die Kettensägenbrigade drang dabei nur bis zum Bauwerk im mittleren Teil des Gartens vor, weil ansonsten die Aktion von der Dorfstraße aus hätten beobachtet werden können. Die Täter hatten es eilig und gaben sich wenig Mühe: So sägten sie z.B. den Birnenbaum "Gräfin von Paris", der an einem Zaun stand, nicht unten am Stamm ab, sondern kappten einfach seine Krone. Gänzlich umgelegt wurden von ihnen die Birnenbäume Clapps Liebling; Köstliche von Chaneu; Bunte Julibirne und Alexander Lucas, sowie die Apfelbäume Danziger Kantapfel; Gelber Köstlicher; Goldparmäne; Ingrid Marie und Aderslewe Kawill. Ferner drei Walnuss- und zwei Pflaumenbäume. Wie zum Hohn ließ die von Vattenfall bestellte Truppe den Pfirsichbaum der Domains mittendrin stehen.  

Gleich nach dem Wochenende, am 14. März, erstatteten das Gärtnerehepaar Strafanzeige gegen Unbekannt bei der Polizei. "Am nächsten Tag kam dann der Vertreter eines mit anderen Arbeiten in Horno beauftragten Planungsbüro zu uns in den Garten," berichtet Werner Domain, "weil er zufälligerweise gestern in Horno beschäftigt war, hatte Vattenfall ihn gebeten, sich 'die Sache mal anzuschauen'. Er sagte uns, dass er vor kurzem bei einem Treffen anwesend war, bei dem eine neue Firma mit Baumfällen beauftragt wurde. Diese Firma sei aber ausdrücklich darauf hingewiesen worden, wo sie Bäume fällen sollten und wo nicht."  

Sie wurde jetzt als die "Rea GmbH" aus Drebkau identifiziert! Werner Domain ist sich sicher, dass sie genau diese seine Obstbäume und keine anderen fällen sollte, um ihn endlich zum Wegziehen zu bewegen. Der Biogärtner trauert insbesondere über seine einzigen zwei Bäume "Danziger Kantapfel". Am 16.März kam einer der Baggerfahrer von Vattenfall auf seinen Hof und gestand ihm: Er sei leider schuld, dass die Bäume alle gefällt wurden, er hätte den Arbeitern Anweisungen geben sollen - dies aber aus Versehen unterlassen. Am 17.März äußerte auch noch ein Vattenfall-Sprecher in der Bild-Zeitung sein Bedauern über die "falsche Einschätzung des Subunternehmers".  

Derweil fanden sich die ersten Journalisten bei den Domains ein, um die neueste Vattenfall-Schandtat in Augenschein zu nehmen. Einer hatte vor einige Zeit in Weimar eine Aufführung des "Faust 2" gesehen, in der ein Regisseur aus dem Westen die letzten Opfer des Teufels-Pakts, Philemon und Baucis, als zwei "lamentierende Ost-Rentner" auftreten ließ. Nun meinte er: In der Goetheschen Originalfassung handelte es sich um ein altes Ehepaar, das einen Wanderer bei sich aufgenommen hat. Unglücklicherweise steht ihr Haus samt Lindenhain einem Faustischen Großeingriff in die Landschaft im Wege, d.h. nicht direkt im Weg, aber das kleine Anwesen stört Fausts Aussicht auf seinen "gradgeführten Kanal" und dessen künstliche Uferlandschaft. Er will sie deswegen umsetzen lassen: "Da seh ich auch die neue Wohnung,/ Die jenes alte Paar umschließt,/ Das, im Gefühl großmütiger Schonung,/ Der späten Tage froh genießt".  

Die beiden Alten und ihr neuer Mieter wollen jedoch nicht weichen. Faust ruft beleidigt nach Mephisto, der sogleich seine dreiköpfige Schlägerbrigade mitbringt. Bereits nach kurzer Zeit können sie dem Umsetzungsauftraggeber Vollzug melden, wenn auch etwas zerknirscht: "Verzeiht! es ging nicht gütlich ab./ Wir klopften an, wir pochten an,/ Und immer ward nicht aufgetan..."  

Um es kurz zu machen: Sie zündeten dem Rentnerehepaar einfach die Hütte an. Dieses fiel - ohnmächtig - den Flammen zum Opfer, während der junge Wanderer sich mit allem, was er hatte, zur Wehr setzte, weswegen sie ihn extra niederstechen mußten. Faust verflucht das Mordkommando und schreit: "Tausch wollt ich, wollte keinen Raub."  

Der Chor antwortet: "Das alte Wort, das Wort erschallt:/ Gehorche willig der Gewalt!/ Und bist du kühn, und hältst du Stich,/ So wage Haus und Hof und - Dich." Um Mitternacht hebt darob eine große faustische Selbstkritik an, die in den Armen der Lemuren mit einem letzten utopischen Ausblick auf ein lebendiges Gemeinwesen endet: "Solch ein Gewimmel möcht ich sehn,/ Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn." Die DDR hat später diesen letzten frommen Wunsch von Faust als Motto ihres Bauprogramms für die "Stalinallee" verwendet, wo es genaugenommen nur einmal kurz in Erfüllung ging: beim "Bauarbeiteraufstand" im Sommer 1953.

Editorische Anmerkungen

Der Text bildet den Teil 3 der unregelmäßig erscheinenden "Friesengeschichten". Er wurde uns vom Autor zur Verfügung gestellt.