Kommentare zum Zeitgeschehen

Waldumwandlung


von Antonín Dick

03/2017

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„Waldumwandlung“? Klingt wie Geschlechtsumwandlung. Nur dass in letzterem Falle die Subjekte dies selber bestimmen. Ein Wald dagegen kann sich nicht selber bestimmen, er ist nach deutschem Recht kein Lebewesen, dem eine Würde zugesprochen werden kann. In der Schweiz schafft es immerhin das Tier, in diesen Rang erhoben zu werden. Ergo ist die Waldumwandlung, in diesem Falle die Zerstörung des Leonorenwäldchens in Berlin-Lankwitz rechtens, bestimmte das Verwaltungsgericht Berlin nach einem Eilverfahren am 9. März 2017 mit rechtskräftigem Beschluss VG 13 L 102.17. Eine Chance gegen Zwangsumwandlung hat jedoch das Leonorenwäldchen noch gemäß Verwaltungsgerichtsgesetz: Sie könnte per Verhandlung beim Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg noch aufgehalten werden. Aber gibt es denn noch Fürsprecher des Bedrohten? Kläger? Irgendwelche mitfühlenden Lebewesen ohne die landesübliche Lust an der Unterwerfung?

Sieg der Sache der Flüchtlinge? Wichtige Flüchtlingswohnungen versus unwichtige Bäume? Unsinn! Durchschaubare Ausspielerei übelster Sorte! Und die Flüchtlinge sind gar nicht erst gefragt worden. Und die Bürgerinitiativen auch nicht. Ja, mehr noch, aus dieser Bürgerbewegung entstand die Utopie, das Modell, das für ganz Berlin hätte Vorbild sein können! Flüchtlinge und Einheimische gemeinsam! Ein wunderseltener Park, eine Perle Berliner Erfindungsgeistes, die Flüchtlinge, Anwohner und Patienten eines Pflegeheims gleichberechtigt miteinander verbinden könnte, wo sie sich auf natürliche Weise begegnen, vor allem die Flüchtlingskinder, die Flüchtlingsfamilien mit den einheimischen Familien – Integration pur. Aber Integration nicht allein durch Arbeit – was für eine phantasielose Idee! – , sondern auch durch Familien, die sich begegnen, durch soziale Arbeit, wie man auch sagt, und nicht zuletzt durch miteinander spielende Kinder, die Genies von morgen! Kaputtgespielt! Vorbei! Unwiederbringlich! Aber man hat wenigstens ein Wort dafür, wenn man schon nicht die Sache hat, ein verschämt aus dem geschminkten Mund der Macht herausquellendes zweites Behördenwort – „Begegnungsflächen“. Was für entlarvende Beschilderungen des Nicht-mehr-da-Seienden! „Waldumwandlung“! „Begegnungsflächen“! Geht’s noch? Man redet sich die Verletzung des Rechts aufs Gehört-Werden schön, hat einfach keine Kraft mehr zu einer Art von „ursprünglichem Kommunismus“, wie ihn beispielsweise die Erfinderteams aus dem kalifornischen Silicon Valley tagtäglich praktizieren. Sie bilden beim Entwickeln des noch Unbekannten Gemeinschaften, kleine Republiken der Gleichen wie es einst die Stadtrepubliken in Norditalien taten, noch vor der „Verwandlung der einfachen in kapitalistische Warenproduktion“ 1), wie es Marx und Engels im dritten Band des Kapitals anhand von Venedig begeistert darstellten. „Der Kaufmann war das revolutionäre Element in dieser Gesellschaft“, führen sie anhand von Venedig aus 2), und man denkt dabei sofort an Shakespeares Kaufmann von Venedig, „wo alles sonst stabil war, stabil sozusagen durch Erblichkeit; wo der Bauer nicht nur seine Hufe 3), sondern auch seine Stellung als freier Eigentümer, freier oder höriger Zinsbauer oder Leibeigener, der städtische Handwerker sein Handwerk und seine zünftigen Privilegien erblich und fast unveräußerlich überkam, und jeder obendrein seine Kundschaft, seinen Absatzmarkt, ebenso sehr wie sein von Jugend auf für den ererbten Beruf ausgebildetes Geschick. In diese Welt trat nun der Kaufmann, von dem ihre Umwälzung ausgehen sollte. Aber nicht als bewusster Revolutionär; im Gegenteil, als Fleisch von ihrem Fleisch, Bein von ihrem Bein. Der Kaufmann des Mittelalters war durchaus kein Individualist, er war wesentlich Genossenschaftler, wie alle seine Zeitgenossen. Auf dem Lande herrschte die dem urwüchsigen Kommunismus entsprossene Markgenossenschaft. Jeder Bauer hatte ursprünglich eine gleich große Hufe, mit gleich großen Stücken Boden von jeder Qualität, und einen entsprechend gleich großen Anteil an den Rechten in der gemeinen Mark. Seitdem die Markgenossenschaft eine geschlossene geworden war und keine neuen Hufen mehr ausgeteilt wurden, traten durch Herrschaft etc. Unterteilungen der Hufen ein, und dementsprechende Unterteilungen der Markberechtigung; aber die Vollhufe blieb die Einheit, so dass es Halb-, Viertel-, Achtelhufen mit halber, Viertel und Achtelberechtigung in der gemeinen Mark gab. Nach dem Vorbild der Markgenossenschaft richteten sich alle späteren Erwerbsgenossenschaften, vor allem die Zünfte in den Städten, deren Ordnung nichts war als die Anwendung der Markverfassung auf ein Handwerksprivilegium statt auf ein begrenztes Landgebiet. Der Mittelpunkt der ganzen Organisation war die gleiche Beteiligung jedes Genossen an den der Gesamtheit gesicherten Vorrechten und Nutzungen …“4)

Die Zeit der Gemeinsamkeit von unten, so kommt es einem an diesem beispiellosen Fall der Zerstörung eines einzigartigen Natur- und Kulturerbes vor, scheint in dieser Stadt beendet zu sein. Und dieser Niedergang wird uns obendrein noch plastisch vorgeführt! Für einige kürzlich erbaute Häuser für Parkanwohner hat man die gerichtliche Konfliktlösung gefunden, nämlich sogenannte „Sichtanlagen“ zu errichten, so dass die Parkanwohner ungestört ihr Leben weiterführen können – ohne Park, versteht sich, aber abgesichert gegen eventuellen Kinderlärm der verfolgten Neuankömmlinge. Also Zerstörung jedes Ansatzes von Gemeinsamkeit! Fühllose Trennung zwischen den Flüchtlingen, den Anwohnern und den Patienten des Pflegeheims, die sich gerade die Hände reichen wollten! Man muss sich den letzten Satz aus dem jahrhundertealten venezianischen Aufbruch noch einmal bitter auf der Zunge zergehen lassen, um zu spüren, was hier eigentlich geschieht:

"Der Mittelpunkt der ganzen Organisation war die gleiche Beteiligung jedes Genossen an den der Gesamtheit gesicherten Vorrechten und Nutzungen."

Fünfhundert Jahre Rückstand! Aus der Traum für Freiheit, Gleichheit und Solidarität! Schauen wir uns abschließend den Koalitionsvertrag des rotrotgrünen Senats der Stadtrepublik Berlin vom November 2016 an, um uns des ganzen Selbstbetrugs, der hier vorwaltet, verbittert zu versichern:

"Die Koalition steht für eine Stadtentwicklung, die gemeinsam mit den Bürger*innen konzipiert wird. Sie setzt auf eine Stadtentwicklung, die gemeinsam mit den Bürger*innen konzipiert wird. Sie setzt auf eine integrierte Strategie, die soziale, ökologische und ökonomische Aspekte in einen nachhaltigen Ausgleich bringt. Die Koalition wird neue, lebenswerte und sozial durchmischte Stadtquartiere schaffen. Öffentliche Räume und baukulturelles Erbe werden gesichert."

Die Lösung wäre vielleicht, nein, ganz sicher, ist der Autor dieses Beitrags überzeugt: Flüchtlinge und Einwanderer an die Macht! Das Gefühl für das Solidarische! Das Gefühl für die Natur! Das Gefühl für den untrennbaren Zusammenhang von Erbe und Aufbruch! Dieser Landstrich scheint in vielerlei Beziehung ausgelaugt zu sein. Ein Gefühl! Es mag nicht zutreffen, aber es ist da!

Fußnoten

1) Friedrich Engels: Ergänzung und Nachtrag zum III. Buche des Kapitals, in: Karl Marx: Das Kapital, Kritik der politischen Ökonomie, Dritter Band: Berlin 1965, Seite 909
2)
Ebenda, Seite 910
3)
Hufe ist ein altes Feldmaß, nämlich die an den Bedürfnissen einer durchschnittlichen bäuerlichen Familie gemessene Menge Land.
4)
Friedrich Engels, ebenda, Seite 910

Quelle: Bereitsstellung vom Autor.

Siehe zum Thema in der Ausgabe: Fraenkels Auftrag oder Der schmale Weg der Pflicht

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